Wirklichkeit / Konstruktivismus

Wirklichkeit

Vorwort

Die grundlegende menschliche Frage nach dem 'Wozu' des eigenen Daseins und dem 'Was' des Weltganzen fand sich schon in den Anfängen der Menschheit, und begleitet sie bis heute. Doch ihre Beantwortung scheint zurzeit noch genauso fern zu sein wie damals, weswegen sich so manche Zweifel erheben lassen:

  • kann der Mensch seinen Erkenntnisorganen und ihren Leistungen überhaupt trauen?
  • was ist denn eigentlich die Wirklichkeit, die allem um und in uns zugrunde liegt?
  • wo kann der Mensch in ihr den Sinn des Lebens finden?
  • ist die Wirklichkeit, die er vielleicht finden würde, überhaupt absolut?
  • usw.

Im alltäglichen Leben ist die Frage nach der Realität, der Wirklichkeit, im Vergleich zu früheren Jahrhunderten stark in den Vordergrund getreten. Die Wissenschaft strebt verstärkt nach einem vollkommenen Durchleuchten, einem beschreibbaren Abbild der Wirklichkeit, die uns umgibt und in der wir leben.

Aus Interesse aber auch einer gewissen Ernüchterung über die diesbezüglich vorhandenen Möglichkeiten begann ich mich im Jahr 1984 näher mit der allgemeinen Wirklichkeitsproblematik zu beschäftigen - was in einer Niederschrift dieser Arbeit im Jahre 1986 resultierte. Der damals noch sehr neue und geradezu revolutionäre Weg, den der Konstruktivismus in die Hand gab, die Wirklichkeitsprobleme, mit denen er sich befasst, von teils ganz neuen Perspektiven aus zu betrachten, werden im 3. Abschnitt dieser Arbeit behandelt.

Mir persönlich halfen die Thesen und neuen Blickwinkel, die dieser Ansatz eröffnet, so manche Probleme der heutigen Zeit - Probleme, die eng mit der Suche nach einer "wahren Wirklichkeit" verknüpft sind - viel besser zu verstehen und sie stellen aus heutiger Sicht wohl auch ein Fundament meines therapeutischen Entwicklungsweges dar, da einer der wesentlichen Grundpfeiler der systemischen Therapie letztlich der konstruktivistische Ansatz darstellt - mit wesentlichen Vorreitern wie Paul Watzlawick, Heinz von Foerster, Rupert Riedl et.al., die ihre Ansätze wiederum in der ebenfalls in dieser Arbeit dargelegten Tradition von Kant, Heidegger, Wittgenstein .. Platon, Sokrates u.a. entwickelten.

Genauso interessant ist aber auch die Entwicklung der ontologischen Fragestellung mit allen ihren sie begleitenden Antwortversuchen.

Ich habe die hier veröffentlichte Version meiner Arbeit gegenüber der Originalarbeit aus dem Jahre 1986 im Wesentlichen bewusst unverändert gelassen. Zwar genügt sie in dieser unmodifizieren Form nicht höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen, und sie bildet meine heutigen Sichtweisen nicht adäquat ab, dafür aber als leicht verständliche Einführung in die entsprechenden Denkansätze dienen kann.

In diesem Sinne wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen
und vielleicht sogar das eine oder andere neue Denk-Konstrukt!

 


Inhalt

1. Wirklichkeit - Philosophische und naturwissenschaftliche Ansätze

2. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? - Konstruktivistische Ansätze

3. Konsequenzen - Auswirkungen auf die Wirklichkeitssuche

4. Literatur und Zitathinweise - zum Nachlesen und Weiterforschen..


 

1. Wirklichkeit

Zugänge aus philosophischer und naturwissenschaftlicher Perspektive

Was ist "Wirklichkeit"?

Es ist dies eine Frage, die den Menschen schon seit jeher beschäftigte und voraussichtlich auch bis auf weiteres noch beschäftigen wird.

Die Beantwortungen dieser Frage - natürlich konnten es immer nur Theorien sein - fielen je nach Zeitepoche und Kultur, und selbstverständlich auch beeinflusst von der Erziehung und Persönlichkeit des mit ihr Beschäftigten aus.

Die Folge davon war eine unüberblickbare Anzahl von verschiedensten gedanklichen Gebäuden, die die Beschaffenheit und die Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit darzulegen versuchten. Doch man darf dabei nicht nur die Thesen der anerkannten Philosophen berücksichtigen, sondern muss auch an die unzählbaren "Wirklichkeiten" in jedem Menschen denken, Wirklichkeiten, die jeder in sich selbst aufbaute und in denen er lebte.

Obwohl ich im folgenden einen kurzen Abriss der gängigsten Wirklichkeitstheorien geben möchte, wäre es doch genauso interessant, etwa die Wirklichkeit eines Raubmörders, einer Bettlerin oder auch jene eines Filmstars zu beleuchten - die Wirklichkeit dieser Personen mit allen ihren Zielen, Welterklärungsmethoden und Unsicherheiten. Wie auch im 3. Abschnitt dieser Arbeit beschrieben, scheint "die eine, absolute Wirklichkeit" nicht zu existieren, die der Mensch "aufdecken" könnte, sondern im Gegenteil scheint es eine Vielzahl von ihnen zu geben, die - dennoch absolut und real existent - in uns ruhen.

Nun aber ein Überblick aus verschiedensten Wirklichkeitstheorien, von den frühesten Anfängen der ontologischen Fragestellung bis hin zu den Methoden und Thesen der modernen Naturwissenschaften.

 

1.1. Vorsokratische Exposition ( - 470 v.Chr.)

Die Naturphilosophen der Vorsokratik erklärten die Vielfalt der erscheinenden Welt aus der Bewegung und Veränderung eines der vier Elemente. Das eigentliche Sein sei also homogen, materiell und elementar.

Heraklit von Ephesus geht da einen völlig anderen Weg, indem er als das der Welt zugrunde liegende Prinzip den Kampf der Gegensätze, den Widerspruch annimmt, der alles in Bewegung und Veränderung hält. Die Erfahrungswelt ist Täuschung und Schein. Das eigentliche Sein ist das 'Feuer des Gegensatzes'.

Parmenides von Elea sagt, dass es nur das 'jetzt' seiende Sein gibt, da das Nicht-Sein (das eben nicht Sein ist) das Noch-nicht-Sein (Entstehen, Werden) und das Nicht-mehr-Sein (Vergehen) ausschließt. Daher gibt es keinerlei Bewegung, Vielheit, Werden und Vergehen, auch keine Vielheit. Nur das Sein selbst bleibt übrig. Die Prädikate dieses einen, eigentlichen, in sich völlig identischen, ewigen, homogenen und kontinuierlichen Seins werden seit dieser Periode als Prädikate des Absoluten gebraucht.

1.2 Sokrates ( 469 - 399 ) und die Ideenlehre Platons (427 - 327)

Über Sokrates' Leben ist uns nur aus den Schriften Xenophons, Aristoteles' und Platons etwas bekannt. In langen Dialogen, zu denen er die Menschen seiner Umgebung aufforderte, suchte er sie zu einer klaren Begriffsbildung und zum sittlich Richtigen hinzuführen. Er selbst sprach dabei von Mäeutik (Geburtshilfe): durch geschicktes Fragen wird das Wissen vom Richtigen ans Licht gehoben, im Gegensatz zur Vermittlung fertigen Wissens. Häufig aber entlarvte Sokrates auch mit Mitteln der Ironie und Paradoxie ("Ich weiss, dass ich nichts weiss") scheinbares Wissen als ungenügend und zeigte so, dass sich alle vorkommenden Meinungen in Selbstwidersprüche verwickeln, sobald man sie einer eingehenden Prüfung unterzieht. Rasch erwarb er sich damit auch den Ruf eines ewigen Kritikers, Unruhestifters und Umstürzlers und wurde schließlich zum Tode verurteilt, da er 'die Jugend verderbe' und 'neue Götter einführe'. Er wurde schließlich gezwungen, den 'Schierlingsbecher' (Gift) auszutrinken, was er angeblich mit einem Lächeln im Gesicht tat.
Sokrates zentrale philosophische Themen waren das des des Wissens und das Wertproblem. Zum Wissen gehöre die Bildung von Allgemeinbegriffen: durch das Studium vieler Einzelfälle erkennen wir das Gemeinsame. Über den Einzelfall könnte man subjektiv meinen, er sei vorübergehend, erst das immer Gleiche führt dann in der Summe der Einzelfälle jedoch zum bleibenden Wesentlichen. Methodologisch benennt er somit Wissenschaft als das induktive Ermitteln des Allgemeinen und bereitet damit den Weg zur platonischen Ideenlehre. Sokrates' Leben war geprägt von der zweifelnden Suche nach dem wahren Wissen (episteme im Gegensatz zur verbreiteten Meinung doxa, hier vermischt Platon offenbar Sokrates' Sichtweisen zunehmend mit eigenen) und den Werten. Als gestaltgewordene Philosophie zeigt er den höchsten Auftrag des Menschen: "Erkenne dich selbst".

Platon, ein Schüler Sokrates', entwickelt dann seine Ideenlehre, die im wesentlichen besagt, dass Seiendes nie an sich existiert, sondern nur als qualitativ bestimmtes Sein in der Welt der Sinne, z.B. ein grosser Baum, oder ein alter Baum. Die Sinneswahrnehmung sei behaftet mit Unsicherheit, da das Sein dem Wachsen, Bewegung, Werden und Vergehen unterworfen sei. Dies ist die Welt der Erscheinungen, über die man kein wirkliches Wissen (episteme) haben kann, sondern nur Meinungen (doxa). Das Allgemeine aber, als (Ober-)Begriff z.B. des Baumes, als Zusammenschau aller Exemplare und gewissermaßen Bauplan der Gattung, nennt Platon die Idee (auch eidos - Art, Form, Gestalt, Bild). Diese unterliegt nicht der Veränderung wie das einzelne Exemplar, die Ideen sind als solche ewig, unveränderlich und vollkommen. Von daher erklärt Platon sie für das wahrhaft Seiende.

1.3. Die Mechanik des Descartes (1596 - 1650)

Rene Descartes war der bahnbrechende Begründer des neuzeitlichen Rationalismus. Mit seinem "Ich denke, also bin ich" leitete er die ichphilosophische Wende zum Subjekt ein. Weiters versuchte er, die ontologische Frage im Sinne der Mechanik zu beantworten.

Zum Sein gehört demnach die körperliche Substanz (mit dem ausschließlichen Wesen der Ausdehnung - sie ist unendlich und differenzlos, fällt mit dem Raum zusammen) und die Bewegung (die das Differenzprinzip ist. Die Bewegung ist die Gesamtheit aller Übergänge der teilbaren körperlichen Substanz).

Die körperliche Substanz bewegt sich jedoch nur gesetzmäßig, also ist die Natur demnach als riesige Maschine zu verstehen, und da Masse und Bewegung messbar sind, gibt es in ihr nichts, was nicht mathematisch ausgedrückt werden könnte.

1.4. Der Weg zum Atomismus

Die Theorien des Descartes stoßen bei G.W.Leibnitz (1646-1716) auf heftige Kritik. Er nimmt eine Teilbarkeit des Kontinuums bis ins Unendliche an, und zwar bis auf kleinste Teile ('formale Atome'). Insofern leitet er zum Atomismus über - dieser Atomismus nimmt als eigentlich Seiendes wahre Einheiten an, welche allem Teilen und Zusammensetzen zugrunde liegen. An die Stelle von Nichtsein und Sein bei Parminedes tritt beim Atomismus das Leere (keine Atome) und das Volle (die Weltenbildung z.B. erfolgt rein zufällig und mechanisch: Die Atome vollziehen im leeren Raum eine ewige Bewegung, was zu zufälligen Häufungen an best. Orten im leeren Raum führt)

1.5. Das eigentlich Seiende ist Substanz

Nach Aristoteles (384 - 322 v.Chr.), der als Begründer der klassischen Disziplinen der Philosophie gelten kann (und die Ontologie als erste Wissenschaft bestimmte), nahm die Substanz als eigentlich Seiendes und wahre Einheit in sich an. Außerdem sprach er der Wirklichkeit zwei Momente (der Bewegung, der er grundlegende ontologische Bedeutung beimaß) zu:

a) das Moment des Aktuellseins, das Akt genannt wird

b) das Moment des Möglichseins, aufgrund dessen das Wirkliche die Möglichkeit hat, etwas anderes zu werden als das, was es ist. Dieses Moment wird Potenz genannt.

Die ontologische Frage nach dem Sein führt laut Aristoteles also in die Unterscheidung zwischen aktuellem Sein und potenziellem Sein, also wiederum in die Differenz. Alles eigentlich Seiende ist das, was es gerade ist, also in Aufhebung dieser Differenz. Bewegung ist Übergang von Potenz zu Akt. Dieser Übergang setzt aber eine Ursache voraus, die ihn bewirkt, d.h. eine Wirkursache. Alles Wirkliche resultiert also nach Aristoteles aus zwei Momenten: Aus dem Aktuellsein, wodurch es positiv ist, was es ist, und aus seinem Potenziellsein, wodurch es der Möglichkeit nach ein Anderes ist. "...Es ist aktuell es selbst (Einheit in sich) und potenziell das Andere (in Differenz). Jedes Wirkliche hat Einheit und Differenz als Momente in sich. Eben dadurch ist es dieses bestimmte, konkrete Wirkliche." (Arno Anzenbacher; 8)

1.6. Dialektik

Von einem dialektischen Sachverhalt spricht man laut Friedrich Hegel (1770 - 1830) dann, wenn etwas nur als Resultat zweier entgegengesetzter Momente begriffen werden kann, z.B. die Aristotel'sche Bewegung. Ihren konkreten Sinn aber haben die einzelnen Aspekte nur, wenn sie miteinander im wahren Ganzen aufgehoben sind. Oft gibt man diesen Zusammenhang auch mit den Begriffen 'These - Antithese - Synthese' wieder.

Im Grunde geht es dabei wieder um das Problem von Einheit und Differenz, wobei die Dialektik aber keine von außen an das Sein herangebrachte Methode darstellt, sondern "gewissermaßen erweist sich die Sache selbst als dialektisch." (Arno Anzenbacher; 8)

1.7. Wesen und Sein

Thomas von Aquin (1225 - 1274), einer der bedeutendsten Ontologen der Geschichte, nimmt ein weiteres Potenzprinzip an, das Wesen, das eine bestimmte Negativität bestimmt. Es begrenzt in gewissem Sinne den Akt des Seins. Das Sein wird so zu einem "Kosmos endlich Seiender" (Thomas von Aquin; 9) ausdifferenziert. "Jede Substanz ist demnach Akt-Potenz-Einheit von Seinsakt und Wesen." (Arno Anzenberger; 8)

1.8. Sein / Seiendes

Martin Heidegger (1889 - 1976) wirft das Problem der Sprache auf (wie später auch Ludwig Wittgenstein (1889 - 1951): Er wirft der traditionellen Philosophie Seinsvergessenheit vor, weil sie nur vom Seienden gehandelt habe, nicht aber vom Sein selbst, das Seiendes erst ermöglicht.

Weiters sagt Heidegger, dass sich das Sein entdecken ließe. Es zeigt sich im Schein der Erscheinung (die Scholastiker nannten das Seiende als ein durch den Intellekt Erforschbares). Dass Seiendes erkennbar ist, das ist die Tatsache der Erfahrung, von der alle Philosophie ausgeht.

Je seinsmächtiger ein Seiendes ist, desto mehr ist es von sich her erkennbar. Deshalb haben wir, so Heidegger, auch keine Schwierigkeiten, höherentwickelte Lebewesen als Substanzen zu erkennen, Probleme dabei ergäben sich allerdings bei der Bestimmung der Substantialität im Anorganischen (Martin Heidegger; 10).

1.9. Die Naturwissenschaft

Wie auch im 2. Kapitel erwähnt, bringt die Betrachtungsweise der Wissenschaft, speziell der Naturwissenschaften, schwerwiegende Probleme für die Forschung nach dem 'wirklichen Sein' mit sich.

Naturwissenschaften sind schließlich methodisch abstrakt und außerdem thematisch stark eingeengt. Sie betrachten die Natur durch den Filter einer ganz bestimmten Sichtweise, die sich aber wie ein Netz verhält, das eine ganz bestimmte Maschengröße aufweist: Was dieser Maschengröße nicht entspricht, fällt durch. Außerdem entwickeln die Naturwissenschaften Modelle, die zwei Aufgaben erfüllen sollen: Sie sollen Beobachtungen eines bestimmten Bereiches möglichst einfach erklären und innerhalb dieses Bereiches Prognosen ermöglichen. Wie sich diese Modelle aber zur Natur selbst verhalten, ist keine Frage der Naturwissenschaft mehr.

Die Naturwissenschaften werden vermutlich niemals den Zusammenhang zwischen Theorien und Modellen sowie menschlichem Existenzerhellungs- und Transzendierungswunsch herstellen können. Dazu ist offenbar etwas anderes notwendig - vielleicht Philosophie, Religion oder auch Ideologie (wobei sich natürlich sofort die Frage erhebt, wie weit diese drei geistigen Wege nicht den gleichen 'Keim' in sich tragen).

Obwohl im 20.Jahrhundert die philosophische Reflexion überaus stark von naiver Wissenschaftsgläubigkeit und blindem Fortschrittsoptimismus verdrängt wurde, ist doch von Seiten einer naturwissenschaftlichen Sparte wieder eine leichte Annäherung an das "unmessbare, daher unbegreifliche, daher metaphysische und daher wiederum philosophische" zu spüren.

Die Quantenphysik ist in Gebiete vorgedrungen, in denen herkömmliche wissenschaftliche Theorien und Messmethoden und daher auch der Mensch als beobachtendes Subjekt versagt. Sie hat dabei ein Stadium erreicht, in dem die Sicherheit erlangt wurde, dass Proton und Neutron als Grundbausteine der Atomkerne (und deshalb höchstwahrscheinlich auch Elektron) ihrerseits wieder zusammengesetzte Teilchen sind. Diese Teilchen (Quarks und Antiquarks genannt) scheinen aber immer noch nicht die kleinsten zu sein, meinen die Quantenphysiker.

Weitere bemerkenswerte Entdeckungen der Physiker auf der Suche nach den fundamentalen Bausteinen unserer Welt: "In einem Fall stellten sie fest, dass sich Gammastrahlung, wenn sie einen Atomkern berührt, zu einem Elektron und einem Positron materialisieren kann. Trifft ein solches Paar zusammen, löst es sich wieder in Energie auf. Das Paar besteht aus einem 'Teilchen' und einem 'Antiteilchen'; sie sind miteinander unverträgliche Materie und Antimaterie. Mit so einleuchtenden Versuchen, wie durch den Beschuss von Protonen durch Protonen fundamentalere Bruchstücke zu erhalten, erlebte man die zweite Überraschung: zwei Protonen können z.B. in drei Protonen und ein Anti-Proton 'zerfallen'! ..." (Yuval Ne'emann; 11)

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Forschungen, die uns zeigen, dass Atome zum größten Teil "leerer Raum" sind. Dass unsere Materie vor allem 'Nichts' zu sein scheint, stellt wohl den Atomismus des Leibnitz in ein völlig neues Licht.

Auch die Astronomie wirft interessante Aspekte für die Ontologie auf: Was beispielsweise sind wirklich "Schwarze Löcher"? Immer noch ist sich die Wissenschaft darüber nicht im Klaren. Diese Objekte (sind es welche?) scheinen eine derartige Dichte zu haben, dass die Schwerkraft an ihrer Oberfläche jede Strahlung an sich fesselt. Sie saugen quasi alles in ihrer Reichweite an und verlieren somit jeglichen Kontakt zur Außenwelt, sie können beispielsweise auch nicht gesehen werden. - Das axiomatisch erstellte Fazit klingt unwahrscheinlich: "Der Körper verschwindet aus unserem Universum." Nur sein Schwerefeld wirkt weiterhin als 'Schwarzes Loch' auf die Umgebung.

Ebenfalls ein Feld von vielen unzähligen Fragen, die sich die Naturwissenschaft noch zu lösen als Ziel gesetzt hat.

 

2. Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Konstruktivistische Ansätze zur Erschließung der "Wirklichkeit"

dass die Urfrage nach der Wirklichkeit in dieser Form gestellt wurde, ist noch nicht besonders lange her, obwohl sich die ersten diesbezüglichen Ansätze bis in die Antike erstrecken. Die Erkenntnis des engen Bezugs zwischen Sprache und Wirklichkeit, aber auch des Erkenntnisproblems an sich fand primär in Wittgenstein (1889 - 1951) und Kant (1724 - 1804) ihre Vorläufer, uns so befasst sich seit einiger Zeit neben der Ontologie ('Seinslehre') und der Epistemologie ('Erkenntnislehre') auch der Konstruktivismus mit der Erforschung der Wirklichkeit, mit der Frage nach dem Was und Wie des Wissens.

Im folgenden soll dargestellt werden, wie wissenschaftliche, gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeiten dadurch erfunden (konstruiert) werden, dass wir an die vermeintlich "außerhalb" von uns objektiv bestehende Wirklichkeit immer mit Grundannahmen herangehen, die wir bereits für feststehende und auch bereits objektive Aspekte der Wirklichkeit halten, während sie doch nur die Folgen der Art und Weise sind, in der wir nach der Wirklichkeit suchen.

Mit anderen Worten sieht der Konstruktivismus die Wirklichkeit nicht als "Gefundenes", sondern als "Erfundenes", wobei sich der Erfinder aber des Aktes seiner Erfindung nicht bewusst ist, sondern sie als etwas von ihm Unabhängiges zu entdecken vermeint.

Selbstverständlich ist der Konstruktivismus in radikaler Form unvereinbar mit traditionellem Denken.. Denn wie schon im 1.Teil dieser Arbeit dargestellt, können ja die meisten philosophischen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und anderen Wirklichkeiten untereinander noch so verschieden sein, so haben sie dennoch die Annahme gemeinsam, dass eine objektive Wirklichkeit nicht nur besteht, sondern auch dass sie von gewissen Theorien, Ideologien oder persönlichen Überzeugungen klarer erfasst werden kann bzw. wird als von anderen.

Damit aber befindet man sich bereits mitten in den einzelnen Facetten der Problematik, deren wichtigste ich jetzt erläutern möchte.

2.1. Das egozentrische Weltbild

Für die Konstruktivisten ist alle Verständigung, alles Lernen und Verstehen stets geschaffen und interpretiert durch das erlebende Subjekt. dass jeder Mensch in einer völlig eigenen, individuellen Wirklichkeit lebt und andere Wirklichkeiten oft auch beim besten Willen nicht verstehen und anerkennen kann, lässt sich ja an unzähligen Beispielen und Vorkommnissen belegen. Oft hat diese Tatsache ihre Ursache in sprachlichen, kulturellen oder erziehungsmäßigen Gegebenheiten.

Beispielsweise gibt es da die Begegnung zweier Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen, die verschiedene Normen für den Intimbereich haben: So nähert sich der eine Mensch an den anderen sehr nahe an, der aber will wiederum dem ersten nicht zu nahe kommen, weicht deshalb aus, um so aber nur wiederum dem ersten das Gefühl zu geben, dass etwas nicht stimmt und ihn dadurch aufrücken zu lassen usw.

Auf sprachlicher aber auch intellektueller Ebene wird oft sehr deutlich, wie stark jeder Mensch in seinem eigenen Netz aus Anschauungen, Idealen und Weltbildern gefangen ist und andere Anschauungen (=Wirklichkeiten) als unrichtig, undurchdacht und schlicht korrigierenswert beurteilt.

So sehr dies die Individualisten erfreuen muss, so sehr muss man sich auch über die Hemmnisse, die unser egozentrisches Weltbild mit sich bringt, im Klaren sein. Im Grunde spaltet sie das Ego von seiner Umwelt ab und schafft damit eine richtiggehende "Kluft" zwischen uns und dem 'übrigen' Kosmos. dass dieses Faktum aber fatale Folgen für unsere Wirklichkeitswahrnehmung haben kann, liegt auf der Hand.

2.2. Desinformation

Unter dem Eindruck von Desinformationen, also (bewusst) falschen Informationen, können beim Menschen völlig eigenständige Wirklichkeiten entstehen und von dieser Grundbasis aus sogar weiterentwickelt werden. Schließlich kann es dazu kommen, dass - wie schon eingangs beschrieben - der Mensch das von ihm entwickelte Wirklichkeitssystem dazu benutzt, erst die ursprüngliche Idee (von der aus er das System aufbaute) zu beweisen.

Ein Pferd, das jedes Mal nach dem Ertönen eines Glockentones einen leichten Stromstoß in den rechten vorderen Huf erhält und so bald darauf in 'pawlowscher Reaktion' schon gleich nach dem Glockenzeichen den Huf hebt, wird sich in seiner Annahme einer Kausalbeziehung zwischen Glockenton und Stromstoß nur bestätigt fühlen, wenn es "richtigem Verhalten" zufolge keinen Stromstoß mehr erhält, auch wenn der Schockapparat schon längst abmontiert worden ist.

Nebenbei bemerkt: Das Fehlverhalten des Tieres ist durch sein vermeintlich richtiges Verhalten selbstverstärkend geworden, denn nun ist es ihm 'un-möglich' geworden zu entdecken, dass die Bedrohung durch einen Schock nicht mehr besteht.

Praktische Anwendung findet die Desinformation z.B. in der Spionage, bei der dabei absichtlich Meldungen weitergegeben werden, die das eigene Bild beim Feind verfälschen.

"Gute" Desinformation ist ebenso wie ihre Aufdeckung abhängig vom richtigen Abschätzen des '...wenn die denken, dass wir denken, dass sie denken,..' usw., also vom richtigen Einschätzen der Wirklichkeit 2. 0rdnung (siehe unten) des Gegners; die Glaubwürdigkeit einer Desinformation ist abhängig von der Wahrscheinlichkeit der Information selbst sowie von der Glaubwürdigkeit ihrer Quelle.

Von hier aus kann man ableiten, dass es im Grunde zwei verschiedene Formen von Wirklichkeiten gibt:

Wirklichkeitsaspekte erster Ordnung sind wiederholt und experimentell feststellbar, beziehen sich also auf den Konsensus der Wahrnehmung ("objektiv feststellbar"), Wirklichkeitsaspekte zweiter Ordnung sind subjektiv - sie haben einen gewissen Wert, eine gewisse Bedeutung und machen es daher sinnlos, darüber zu streiten, was 'wirklich wirklich' ist.

Doch genau das tun wir oft - entweder, weil wir den Unterschied zwischen beiden Formen aus den Augen verlieren oder uns seiner gar nicht bewusst sind.

Die Folge ist die Einbildung, die Wirklichkeit sei eben so, wie sie von uns gesehen wird, und jeder, der sie anders sähe, müsse entweder böswillig oder eben geisteskrank sein (!). ,,...der eigentliche Wahn liegt in der Annahme, dass es eine 'wirkliche' Wirklichkeit zweiter Ordnung gibt und dass 'Normale' sich in ihr besser auskennen als 'Geistesgestörte'..." (Paul Watzlawick; 1)

2.3. Wirklichkeit ist konstruiert

Die Wirklichkeit, die wir erkennen, beruht auf den Möglichkeiten, die uns unsere physischen Gegebenheiten schaffen. dass diese daraus entstandene Wirklichkeit bestenfalls ein Abbild, ein Ausschnitt des "Absoluten" oder natürlich auch ein Trugbild sein kann, wird vielleicht durch die folgenden physiologischen Erklärungen verständlicher.

2.3.1. Der blinde Fleck

Der in unseren Augen befindliche "blinde Fleck" (an dem weder Stäbchen noch Zäpfchen vorhanden sind) täuscht uns insofern ein Trugbild unserer Umgebung vor, als diese örtliche Blindheit nicht durch einen dunklen Fleck in unserem Gesichtsfeld auffällt (einen dunklen Fleck sehen, würde "Sehen" voraussetzen), sondern überhaupt nicht wahrnehmbar ist - "...da ist weder etwas vorhanden, noch fehlt etwas: was immer man wahrnimmt, nimmt man 'fleckenlos' wahr ..." (Heinz von Foerster; 2)

2.3.2. Skotome

Die Symptomatik von Skotomen13 und ihre meist erfolgreiche Therapie (durch Verbinden der Augen wird die Aufmerksamkeit des Patienten von den -nicht vorhandenen- visuellen Anhaltspunkten über seine Körperhaltung weg- und auf jene -voll funktionsfähigen- Kanäle in Gelenken und Muskeln hingewendet, über die ihm unmittelbare Lageinformationen zufließen) lässt feststellen, dass "...das Fehlen von Wahrnehmung nicht wahrgenommen wird, und dass Wahrnehmung erst durch sensorisch - motorische Wechselwirkung entsteht." (Heinz von Foerster; 2)

2.3.3. Verstehen

Der "pawlowsche Hund" zeigt uns, dass die Beschaffenheit der Assoziationen, die wir zu bestimmten Wirklichkeitsaspekten entwickeln, indeterminiert - schlicht egal - ist. Hunger kann beispielsweise durch einen Nervenreiz des Magens, durch einen Glockenton, genauso gut jedoch z.B. durch ein bestimmtes gerufenes Wort wie 'Nebel' ausgelöst werden.

Das eben Festgestellte wird untermauert, wenn man weiß, dass "...in den Erregungszuständen einer Nervenzelle nicht die physikalische Natur der Erregungsursache, sondern nur ihre Intensität (also ein 'wie viel', nicht aber ein 'was') codiert ist." (Heinz von Foerster; 2)

Das Nervensystem muss also so organisiert sein (oder es muss sich selbst so organisieren), dass es eine stabile Wirklichkeit über "Tatsächlichkeiten" errechnen kann. Dies jedoch bedingt Autonomie, d.h. "Selbst-Regelung" für jeden Organismus.

Weltanschaulich hat dies zur Folge, dass jeder für seine Handlungen allein verantwortlich ist.

Wenn also die Wirklichkeit konstruiert ist, was folgt aus all dem für Ästhetik und Ethik?

2.4. Das Ursachendenken

Schon Kant erkannte, dass ohne die Erwartung von Kausalität und Finalität gar nicht mit Vernunft gedacht werden könnte. "Diese Denkweise scheint im Tierreich unseren Vorfahren eingebaut worden sein - als ein unverbrüchliches Programm -, da es sich zumeist bewährte und sich immer wieder als von lebenserhaltender Bedeutung erwies." (Rupert Riedl; 3) Seine höchste Form erreichte das Ursachenkonzept im Altertum bei Aristoteles.

Doch sowohl mit dem Kausalitäts- aber auch mit dem Finalitätsprinzip (Geschehen oder Handlungen sind nicht durch ihre Ursachen, sondern durch ihre Zwecke bestimmt) ließ sich zu keiner einheitlichen Erklärung des Weltganzen kommen. So entstand ein Kampf zwischen materialistischen und idealistischen Theorien, die immer nur in falsche Richtungen führen konnten: beispielsweise der Behaviorismus, die Numerische Taxonomie, die Szientistik usw. seien hier genannt.

Das Dilemma an diesen Entwicklungen schien die Tatsache zu sein, dass dabei nur übersehen wurde, was den lang andauernden Streit zwischen Kausalisten und Finalisten bewirkt hatte - die Praxis dieser Teilung zwischen Kausalität und Finalität zeigte nur allzu klar, wie sehr man sich schon an die Spaltung des wissenschaftlichen Weltbildes gewöhnt hatte, wie sehr man schon den Widerspruch von Leib und Seele, Geist und Materie - kurz die Widersprüche halber Gesamt-Ursachen hinnahm.

Der Grund dafür dürfte wohl sein, dass unsere angeborenen Anschauungsformen an dem (eher bescheidenen) Ursachenwissen unserer Vorfahren selektiert sind, dass sie aber jenen Verantwortungen, die sich die entstandene Technokratie in der heutigen Welt anmaßt, aber nicht mehr gewachsen sind - dazu reicht unser 'eindimensionales' Ursachendenken nicht mehr aus. "..So konstruieren die Zivilisationen soziale Wahrheiten, Ursachen, die einander wechselseitig ausschließen. Die Entscheidung zwischen ihnen bleibt aber weiterhin jeder Nacht überlassen, vor welcher - geben wir es ruhig zu - wir uns alle fürchten." (Rupert Riedl; 3)

2.5. Selbsterfüllende Prophezeiungen

Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist eine Annahme oder eine Voraussage, die rein aus der Tatsache heraus, dass sie gemacht wurde, das angenommene, erwartete oder vorhergesagte Ereignis zur Wirklichkeit werden lässt und so ihre eigene 'Richtigkeit' bestätigt.

Zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden v.a. gewisse Überzeugungen, Hoffnungen, Besorgnisse, Vorurteile und gewisse felsenfeste Annahmen gezählt (z.B. wenn ich fest davon überzeugt bin, man missachte mich - wieso auch immer -, werde ich mich eben deswegen überempfindlich, misstrauisch und deshalb wiederum unverträglich benehmen, was bei anderen Menschen genau jene Geringschätzung hervorruft, die meine immer schon gehegte Überzeugung erneut "beweist").

Natürlich hat das Faktum der "selbsterfüllenden Prophezeiung" neben anderen unerwünschten Wirkungen auch tief greifende Folgen auf eine "Wirklichkeitsbildung", denn wenn eine für wirklich genommene Ansicht die angenommene Wirklichkeit erzeugen kann, egal, ob die Annahme ursprünglich richtig oder falsch war, lässt befürchten, dass in unserem Weltbild so manches Element unserer Anschauungen oder vermeintlichen Erkenntnisse pervertiert sein könnte.

Dies kann bis zur Verkehrung von Ursache und Wirkung führen, was besonders bei zwischenmenschlichen Konflikten offensichtlich wird. Es handelt sich dabei um das Phänomen der sog. Interpunktion von Ereignisabläufen. Man stelle sich zum Beispiel vor, dass sich ein Ehepaar mit einem Konflikt herumschlägt, von dem beide annehmen, dass der Partner daran ursächlich schuld ist, während das eigene Verhalten nur als Reaktion auf das des Partners gesehen wird. Die Frau beklagt sich, dass der Mann sich von ihr zurückzieht, was jener zugibt, doch nur weil sein Schweigen oder das Verlassen des Zimmers für ihn die einzig mögliche Reaktion auf ihr dauerndes Nörgeln und Kritisieren ist. Für sie natürlich ist diese Begründung eine vollkommene Verdrehung der Tatsachen: Sein Verhalten ist der Grund für ihre Kritik und ihren Zorn... - Auch der in den 60er Jahren entdeckte Pygmalion-Effekt14 verdeutlicht die Effekte der Selbsterfüllenden Prophezeiung.

In Folge an derlei Gedankengänge wird es dann verständlich, wenn Heisenberg sagt, dass "...wir uns daran erinnern müssen, dass das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist." (Werner Heisenberg; 4)

Noch radikaler drückt sich der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend aus: "Nicht konservative, sondern antizipatorische Vermutungen lenken unsere Forschung." (Paul Feyerabend; 5)

In diesem Sinne sei hier z.B. bemerkt, dass ein wesentlicher Teil selbsterfüllender Wirkungen psychiatrischer Diagnosen (siehe z.B. das diesbezügliche Experiment von David L. Rosenhan12) auf unserer felsenfesten Überzeugung beruht, dass alles, was einen Namen hat, deswegen auch wirklich existieren muss.

Von dieser Überzeugung dürften die Verdinglichungen und Verwirklichungen psychiatrischer Diagnosen weitgehend ihren Ausgang nehmen. - Genauso "wirklich", wie ein bestimmter Patient für einen Arzt an Schizophrenie leiden kann, genauso "wirklich" ist für einen Kranken übrigens ein Placebo ein Medikament.

Gegen die selbsterfüllende Prophezeiung gibt es aber auch Mittel: Die Erfüllung auch der richtigsten Prophezeiung kann, wenn sie vor ihrem Eintreten bereits bekannt ist, zunichte gemacht werden, genauso wie die beste Theorie der Anti-Theorie gegenüber machtlos ist. Selbst wenn eine höchstmögliche Mathematisierung unseres Lebens je erreicht werden könnte, so wäre damit die Komplexität unserer Existenz keineswegs erfasst. Im Wesen des Menschen liegt beispielsweise für Dostojewskij viel mehr (Fedor Dostojewskij; 6): "... Und nicht genug damit: selbst wenn er sich wirklich nur als Klaviertaste erwiese und selbst wenn man ihm das naturwissenschaftlich und mathematisch bewiese, selbst dann würde er nicht Vernunft annehmen, und zum Trotz noch absichtlich Unheil anstiften, natürlich nur aus purer Undankbarkeit ; oder eigentlich nur, um auf dem Seinen zu bestehen. (...) Wenn Sie sagen, man werde auch dieses alles nach der Tabelle ausrechnen können, Chaos, Finsternis und Fluch, so dass schon die bloße Möglichkeit der vorherigen Berechnung alles zum Stocken brächte und die Vernunft dann doch Sieger bliebe,- so wird der Mensch in dem Falle womöglich mit Absicht verrückt werden, um keine Vernunft mehr zu haben und somit doch auf dem Seinen bestehen zu können! Daran glaube ich fest, dafür bürge ich, denn genau genommen besteht doch das ganze menschliche Tun, wie's scheint, tatsächlich bloß darin, dass der Mensch sich fortwährend selbst beweisen möchte, dass er ein Mensch ist und kein Stiftchen."

2.6. Ideologische "Wirklichkeiten"

In ihrem Anspruch, im Besitze der endgültigen, wahren Erklärung der Welt zu sein, verfallen jegliche Ideologien in Paradoxien der Rückbezüglichkeit, da sich kein System aus sich selbst heraus beweisen kann. Der berühmte Lügner, der von sich selbst sagt "Ich lüge", stellt z.B. eine Form einer solchen Paradoxie dar. Wenn er tatsächlich lügt, dann ist seine Aussage wahr; ist sie aber wahr, dann ist es doch unwahr, dass er lügt, und er log daher, wenn er zu lügen behauptete. Also lügt er ...usw. Hier bezieht sich die Aussage "Ich lüge" einerseits auf die Gesamtheit (die Menge) seiner Aussagen und gleichzeitig aber auch auf einen Teil (Element) dieser Gesamtheit, nämlich diese eine Aussage. Wo Menge und Element nicht strikt auseinander gehalten werden, ergeben sich die eben genannten Paradoxien der Rückbezüglichkeit, wie Paul Watzlawick (1) beschrieb. Wenn also eine Erklärung der Welt, also zum Beispiel eine Ideologie, auch alles zu erklären behauptet, eines bleibt unerklärbar, nämlich das Erklärungssystem selbst - damit aber fällt jeder Anspruch des Systems auf Vollkommenheit und Endgültigkeit.

Natürlich ist dieses Faktum den jeweiligen Ideologen aber ein Dorn im Auge, weswegen sie versuchen müssen, "Elemente der Unvollkommenheit", also beispielsweise Menschen, die sich gegen die Ideen der betreffenden Weltanschauung wehren, gewaltsam zu unterdrücken oder gar zu eliminieren. Die Praxis der Inquisition, der Konzentrationslager oder der Terroristenszene sprechen da eine gemeinsame Sprache.

Sehr oft wird den Ideologien das Bild eines ungewöhnlichen, übermenschlichen oder zumindest genialen Urhebers zugrunde gelegt. 'Normale' Menschen wagen es häufig nicht, derartige Autoritäten in irgendeiner Weise in Frage zu stellen, und so wird die Ideologie umso überzeugender. An die Stelle dieser 'höchsten Autorität' kann selbstverständlich auch das 'gesunde Volksempfinden' treten.

Die "reine" Wahrheit der Ideologie wird immer axiomatisch bleiben. Auf die Frage, weshalb Kuba den Besuch seiner Gefängnisse durch das IRK nicht gestattet, antwortet Fidel Castro beispielsweise ganz einfach: "Wir erfüllen unsere Normen, unsere Prinzipien, was wir sagen, ist immer die Wahrheit. Wenn jemand diese Wahrheit in Zweifel ziehen möchte, soll er das tun, aber wir werden nie zulassen, dass jemand den Versuch unternimmt, unsere Realitäten zu überprüfen, dass jemand versucht, unsere Wahrheiten zu widerlegen." (Fidel Castro, 7.1.1978)

Eine andere Möglichkeit, der Widerlegung oder auch nur der Diskussion auszuweichen, liegt ja darin, die Wahrheit so kryptisch darzustellen oder durch einen sinnentleerten Formalismus zu ersetzen, dass sie hochtrabend und tiefsinnig zugleich erscheint:
Out-Rudimente sind Rudimente, die nicht in Ordnung sind. Eines oder mehrere der sechs Rudimente (ARK-Bruch, Problem, Overt, Withhold, Abwertung und Bewertung) sind dann durch Ereignisse im Leben out gegangen. Es ist eine Grundregel, dass über Out-Rudimente hinweg keine Sitzung gegeben werden kann. Aber auch beim Studium oder auf dem Posten können Out-Rudimente den Thetan behindern, indem sie seine Aufmerksamkeit aus der Gegenwart wegziehen und auf das gerade stattgefundene Ereignis fixieren." (aus einer Schrift der Scientology-Sekte)

Doch zurück zu den 'äußeren Feinden' der Ideologien: Wenn etwas nicht stimmt, etwas nicht passt, muss irgendwo außerhalb der Ideologie etwas liegen, denn diese steht jenseits allen Zweifels. Damit perfektioniert sich die Ideologie in immer paradoxeren Schuldzuschreibungen. "Verrat und die finsteren Machenschaften äußerer und innerer Feinde lauern überall. Es kommt zur Ausbildung von Verschwörungstheorien, die die Absurdität der Prämisse bequem überdecken und blutige 'Säuberungsaktionen' notwendig machen und rechtfertigen. An diesem Punkte scheint es dann zum Einbruch der Paranoia ins Denksystem der Ideologen zu kommen." (Watzlawick; 1)

Aus der Grundannahme, Beweise für die Richtigkeit der Ideologie nicht erbringen zu brauchen, werden dann streng logische Ableitungen gemacht und damit eine Wirklichkeit erschaffen, in der alle Fehlschläge immer nur in den Ableitungen, niemals aber in der Prämisse gesucht werden. Schließlich gelten dann schon gewisse 'Vergehen', wie z.B. die Teilnahme an Demonstrationen, als Anzeichen von Geistesstörung..." ... die ideologische Ausrichtung und Gleichschaltung ist von zentraler Bedeutung. Mit ihrer Insistenz auf nicht nur passive Unterwerfung, sondern auf aktive, freiwillige Annahme verfällt die Ideologie in eine weitere Paradoxie..." (Paul Watzlawick; 1)

Denn wenn Spontaneität im Bezug auf Annahme der Glaubenssätze gefordert wird, ergibt sich folgendes Problem: Bin ich aufgrund der geforderten Spontaneität spontan oder versuche ich es auch nur, wird der Erfolg bereits nicht mehr spontan sein. Und zwar beim besten Willen nicht. Die Problematik, die sich aus dieser Paradoxie ergibt, besteht diesmal darin, dass über alle physischen und anderen Zwänge hinaus auch noch eine vollständige Hingabe der Seele verlangt wird: Die unaufhörliche aktive Teilnahme an der gemeinschaftlichen, offensichtlichen falschen Idee.

In der Frage der Beweisbarkeit der Ideologie schneidet übrigens der politische Ideologe schlechter ab als seine theologischen Kollegen, da sich die Theologie auch den Begriff der Unendlichkeit zu Hilfe nehmen kann. Damit wird die Existenz des Bösen, Unvollkommenen zumindest relativiert, wenn auch nicht entschuldigt. Die Lösung der derzeitigen Probleme wird mithilfe der jeweiligen theologischen Ideologie sicher 'irgendwann einmal' stattfinden, aber eben nur mit dieser Ideologie, diesem Glauben.

Eine weitere Möglichkeit der Ideologien, ihre Glaubwürdigkeit zu unterstreichen, ist ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Ja, es hat sogar den Anschein, dass die Wissenschaft selbst zu einer gewissen Art von 'Ideologie' wird, obwohl sie doch nicht mehr beinhalten kann als bestenfalls ein Bild, eine bestimmte Deutung der Welt.

Anhaltspunkte für den Sinn der menschlichen Existenz können sich aber aus den mit ihr verbundenen Theorien nicht ergeben. Hier wird Wirklichkeit 1.Ordnung mit Wirklichkeit 2.0rdnung verwechselt. "... Ein Kleinkind kann ein rotes Licht wahrnehmen, weiß aber deshalb nicht auch schon immer, dass es das Überqueren der Straße verbietet oder ein Bordell bezeichnet. Die Bedeutung des roten Lichtes hat absolut nichts mit der Wellenlänge des Rotlichts zu tun ..." (Paul Watzlawick; 1). Shakespeares Bemerkung "An sich ist kein Ding weder gut noch bös, das Denken macht es erst dazu" gewinnt damit neue Bedeutung. Der naive Glaube an die Vernunft als letzte Instanz fällt spätestens mit der Erkenntnis, dass Beziehungen nicht Aspekte der Wirklichkeit 1.Ordnung sind, deren 'wahre' Natur ergründet werden könnte.

Wir sehen also, dass gerade Ideologien in ihren starren Denkformen und verbindlichen Dogmen keinerlei Anspruch auf eine gültige Wirklichkeitserklärung erheben dürfen. Je aktiver die Negation eines gewissen Faktums (z.B. der Kritikpunkte an der Ideologie), desto mächtiger drängt sich das Negierte auf.

Sigmund Freuds Annahme der "Rückkehr des Verdrängten" verlangt die Gleichberechtigung mehrerer Weltanschauungen als logische Konsequenz dieser Erkenntnis.

Insofern soll am Schluss dieses Abschnitts Churchills weiser Ausspruch stehen: "Demokratie ist eine miserable Regierungsform, aber ich kenne keine bessere."

 

3. Konsequenzen

Auswirkungen auf die Wirklichkeitssuche

Selbstverständlich war es auch in dieser Arbeit nicht möglich, ohne Dogmen oder zumindest Grundannahmen zu arbeiten, die natürlich ihrerseits wiederum ein eigenes Weltbild voraussetzen oder heraufbeschwören.

Was aber wäre das für ein Weltbild, das den konstruktivistischen Maßstäben und Bedingungen entspräche, wo man doch nun weiß, dass ein solches Weltbild eben nie der "wirklichen Wirklichkeit" würde entsprechen können?

Diese beunruhigende Tatsache scheint nämlich nun nur zwei Möglichkeiten offen zu lassen: entweder die konstruktivistischen Ideen zu ignorieren und seine bisherigen Anschauungen beizubehalten (was ohnehin oft genug getan wird, aber dennoch nicht die beste Lösung zu sein scheint), oder in ein Leben mit Orientierungslosigkeit zu verfallen ("Ich kann nichts denken, was nicht falsch wäre"). Es gibt jedoch auch einen 3.Weg, nämlich die Möglichkeit, die Erkenntnisse und Theorien des Konstruktivismus auf sich selbst und seine Umwelt in der Weise zu übertragen, dass man jedem Einfluss ein kritisches 'warum' und 'wie' gegenüberstellt, und dabei sich selbst (den "Wirklichkeitsschaffenden") nie aus den Augen lässt.

Einer Wirklichkeit des Konsums, der ständigen, täglichen Gewalt oder auch einer Wirklichkeit der Vereinsamung des Individuums kann eben dieses Individuum nur dann entgegengehen, wenn es sie erkennt, schließlich anerkennt und zuletzt überwindet, also quasi die Situation, in der solche Wirklichkeiten entstehen, verändert. Das Individuum ist es ja selbst, das diese Situation schafft, weil es sich mit ihr identifiziert (oder sich mit ihr zu identifizieren glaubt).

Wenn man etwa ein Kind zur passiven Akzeptanz aller Einflüsse, aller Autoritäten und aller modernen Bestrebungen erzieht, dann ist das (auch) aus der Perspektive des Konstruktivismus das Schlechteste, was man tun kann, da sich ein solcherart erzogener Mensch auch später niemals richtig mit der augenblicklichen (scheinbaren) Wirklichkeit auseinandersetzen wird, sondern sich genauso wie erlernt verhalten wird: Die Wirklichkeit wird als bereits existent und weitgehend unabänderlich erlebt und man selbst steht irgendwie daneben. Was davon "entdeckt" wird, ist wahr und man muss sich eben in bestmöglicher Weise an sie anpassen, mit ihr arrangieren. Das Kind ist jedoch nicht einmal nur Teil der Wirklichkeit, sondern es ist selbst Wirklichkeit und es ist daher wichtig, dass eben diese Wirklichkeit von ihm - genau ihm! - mitgestaltet wird!

Eine Lebensführung unter dem Einfluss des Konstruktivismus sollte außerdem zwar durch eine kritische Grundhaltung geprägt sein, jedoch auch erhöhte Toleranz anderen Menschen und Meinungen zur Folge haben, weil man diese dann eben als andere "Wirklichkeiten" gegenüber seiner eigenen respektieren müsste. Außerdem würde man sich für sich selbst (und damit in weiterer Folge auch für andere) viel mehr verantwortlich fühlen, wenn man weiß, dass man am geistigen Zustand, in dem man sich befindet, selbst schuld ist. Natürlich würde diese volle Verantwortlichkeit auch volle Freiheit bedeuten, da man als Erfinder seiner Wirklichkeit auch immer die Möglichkeit hätte, sie anders zu gestalten.

Die erkenntnismäßige Konsequenz des Konstruktivismus wäre in weiterer Folge die Enthüllung, dass es kein Innen und Außen gibt, keine Welt der dem Subjekt gegenüberstehenden Objekte, sondern dass die Spaltung der Welt in Gegensatzpaare vom erlebenden Subjekt konstruiert wird, sowie die Einsicht, dass die Paradoxien den endgültigen Ausweg zur Autonomie öffnen. Der Irrweg muss beschritten werden, um sich als Irrweg zu erweisen - erst dann kann er wahrhaftig überwunden werden. In diesem Sinne sagt auch Wittgenstein (Ludwig Wittgenstein; 7): "Meine Sätze erläutern sich dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist (er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist)."

Wie bereits zuvor beschrieben: Autonomie ist aus der Perspektive des Konstruktivismus der wesentlichste Ansatzpunkt in der Erziehung eines Kindes. - Der junge Mensch soll ermutigt werden, sich mit seiner Umgebung - ihren Benormungen und Regeln - kritisch auseinanderzusetzen, sie aber auch zu tolerieren und durch - möglichst - wertfreie Konfrontation mit ihnen zur Autonomie zu gelangen.

Das ist es - vielleicht... -, was der Konstruktivismus sagen will.

 

Literatur

Daniel Claus, 1982, Hegel verstehen, Campus-Verlag Nr.552

Dürrheim Wolfgang, 1976, Was heißt 'philosophieren'?, OBV

Kant Immanuel, Aufl.2004, Die drei Kritiken, Suhrkamp

Misch Georg, 1950, Der Weg in die Philosophie, Francke-Verlag

Müller / Haider, 1961, Kleines philosophisches Wörterbuch Nr. 398, Herder-Verlag

Stegmüller Wolfgang, 1965, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Kröner-Verlag

von Foerster, Heinz, 1999, Sicht und Einsicht, Carl-Auer-Systeme Verlag

von Foerster, Heinz, 2001, Understanding Sytems, Carl-Auer-Systeme Verlag

von Foerster, Heinz, 1989, Einführung in den Konstruktivismus, Piper

Watzlawick Paul, 1987, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, Serie Piper, Nr. 174

von Foerster, Heinz, 1998, Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen, telepolis-Interview von B.Pörksen (online)

 

Zitate und Hinweise:

[01] Watzlawick Paul, Die erfundene Wirklichkeit, Serie Piper Nr.373
[02] von Foerster Heinz, Das neurologische Ringschlußsystem, Ephesus-Verl., 1982
[03] Riedl Rupert, Über die Biologie des Ursachendenkens, Mannheimer Forum, 1978/79
[04] Heisenberg Werner, Physik und Philosophie, Hirzel-Verlag, 1959
[05] Feyerabend Paul, Erkenntnis für freie Menschen, Suhrkamp, 1979
[04] Dostojewskij Fedor, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, Piper, 1965
[07] Wittgenstein Ludwig, Logisch philosophische Abhandlungen, Humanities Press, New York, 1951
[08] Anzenberger Arno, Einführung in die Philosophie, 00.Landesverlag, Linz, 1952
[09] von Aquin Thomas, Summa theologiae, Caramello-Verlag, 1962
[10] Heidegger Martin, Unterwegs zur Sprache, Ephesus, 1975
[11] Ne'emann Yuval, Das Atom des Atoms, aus: Bild der Wissenschaft 10/1972
[12] Rosenhan David L., Abnormal Psychology, W W Norton & Co Inc, 1995; Darstellung des "Rosenhan-Experiments"
[13] Skotom: Gesichtsfeldausfall bzw. -abschwächung (-dämpfung) innerhalb eines funktionsfähigen Netzhautbereichs
[14] Pygmalion-Effekt: Der Pygmalion-Effekt (auch: Halo-Effekt) beschreibt auf wissenschaftlicher Basis das Phänomen, dass die Leistung der Schüler durch die Erwartungshaltung ihres Lehrers sowohl positiv, als auch negativ beeinflusst werden kann.

Richard L. Fellner, MSc., 1010 Wien

Richard L. Fellner, MSc., DSP

R.L.Fellner ist Psychotherapeut, Hypnotherapeut, Sexualtherapeut und Paartherapeut in Wien.

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