Lieber
Sir,
was Herr Lütz in diesem Interview da für Ansichten vertritt, sei ihm ja unbenommen - bei manchem davon fühle ich mich jedoch sehr unbehaglich, insbesondere was seine hemdsärmeligen "Krankheits"-Definitionen sowie sein Verständnis von "Echtheit" (was auch immer er in diesem Kontext damit meinen mag) betrifft. Zumindest für mich möchte ich bitteschön in Anspruch nehmen, ebenfalls "echt" zu sein, wenn ich mit Klientinnen und Klienten spreche.
Zur subtil vermittelten frohen Kunde, daß kirchliche Instutionen ohne Gegenleistung (selbstlos) agieren würden und nur am "ewigen" Wohl ihrer Klientel interessiert wären, kann bei mit der aktuellen und historischen Kirchengeschichte auch nur halbwegs Vertrauten nur Stirnrunzeln erzeugen.
Zur Fragestellung selbst: ich halte es für gut und wichtig, wenn gerade Menschen in einer Krisensituation wissen, was sie in einem Beratungs- oder Therapiekontext erwarten können.
Seelsorger, Mönche usw. können beraterisch äußerst gut ausgebildete und einfühlsame sowie hinsichtlich des Einflusses ihrer jeweiligen Religion sehr neutrale Helfer sein - das Problem ist lediglich, daß einem als Hilfesuchender das "
package", das ihn bei der jeweiligen Person erwartet, zunächst einmal ja unbekannt ist, wenn man sich ihr in einer extrem heiklen und verwundbaren Lebenslage anvertraut.
Bei Psychotherapie dagegen ist es so, daß das Setting und viele Grenzziehungen methodisch und gesetzlich recht klar abgesteckt sind - i.d.R. weiß man als Klient also, was einen dort erwartet.
Unrühmliche Ausnahmen (Seelsorger, die letztlich mehr oder weniger subtil indoktrinieren, oder aufgrund eigener psychischer Schwächen übergriffige Therapeuten) gibt es in beiden Bereichen.
Nun wage ich zu behaupten, daß bei den überwiegend meisten psychischen Störungen und Erkrankungen (im Sinne des
ICD-10) Psychotherapie allein "durchaus gut" weiterhelfen kann - für den entsprechenden seelischen Heilungsprozess ist also keinerlei religiöser Glaube erforderlich (was Psychotherapie für Religionen übrigens immer schon zu einer natürlichen und potenziell gefährlichen Konkurrenz machte). Auf das lt. Lütz "
wirklich Wichtige" (wofür? und für wen?), nämlich das zitierte "
Ich bete für dich, vertrau auf Jesus Christus!" kann man insofern gut und gern verzichten - solang es "nur" um psychische Heilung und Gesundung geht.
Anders verhält es sich, wenn man
spirituellen (religiösen) Beistand
auf der Basis der eigenen spirituellen (religiösen) Grundüberzeugungen sucht oder schlicht Zuspruch, menschliche Wärme. Da kann Seelsorge, wie ich meine, Großes leisten - etwas, auf das Menschen, die dasselbe im Grunde in einer Therapie suchen, verzichten müssen (und davon dann mitunter, wie man ja auch hier im Forum immer wieder lesen kann, enttäuscht sind). Der Seelsorger kann es sich aufgrund seiner weitgehend frei durch ihn selbst interpretierbaren Rolle leisten, Hilfesuchenden emotional und vielleicht auch körperlich sehr nahe zu kommen, ihnen auch nahezu Beliebiges z.B. über den Nutzen von Gebeten an Jesus Christus oder Schutzheilige zu erzählen - teils also auf eine Weise agieren, die für einen professionellen Psychotherapeuten einer Verletzung der Berufspflichten gleichkäme. Aus demselben Grunde sind mir, wie ich nicht müde werde, zu betonen, umgekehrt auch PsychotherapeutInnen suspekt, die die anerkannte Heilmethode Psychotherapie in der Praxis freizügigst (und unnötigerweise!) mit Esoterik oder Religion vermanschen.
Die Thematik halte ich für insgesamt sehr spannend - und für wichtig, da ich absolut von der Wichtigkeit klarer Rahmenbedingungen überzeugt bin. Unter den folgenden zwei Links finden sich weitere Überlegungen und Analysen zur Thematik -
dieser Text befaßt sich mit Spiritualisierungstrends in der Psychotherapie und Therapeutisierungstrends in der christlichen Seelsorge, U. Rauchfleischs' Buch "
Wer sorgt für die Seele?: Grenzgänge zwischen Psychotherapie und Seelsorge" befaßt sich mit den Problemen und Fragestellungen, die ich oben angerissen habe, jedoch naturgemäß noch weitaus genauer, und versucht abzureißen, wie ein konstruktives Miteinander von Psychotherapie und Seelsorge aussehen kann.
In diesem Fall persönlich das "Therapeutenkäppi" tragend kann ich nur sagen, daß ich die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragestellungen im Leben für äußerst bereichernd und wichtig halte - insofern haben diese natürlich auch (ebenso wie z.B. Fragen der Sexualität) Raum in einer Psychotherapie zu bekommen, sofern TherapeutIn und KlientIn sich wohl damit fühlen, sich mit diesem Bereich gemeinsam dialogisch auseinanderzusetzen! Allerdings ist mir dafür der Arbeitstitel "Spiritualität" wichtig - welchen religiösen Überzeugungen jemand nahesteht (oder nicht) ist für mich da eigentlich zweitrangig, solange der Rahmen für das Gespräch offen und der Therapeut neutral genug ist (nur dann oder andererseits bei sehr ähnlichen religiösen Grundüberzeugungen hielte ich es für vertretbar, sich diesen in einer Therapie zu widmen). Das ist gleichzeitig auch noch ein weiterer klarer Unterschied zur Seelsorge, die ja letztendlich immer vor dem Hintergrund der jeweiligen Religion des Anbieters stattfindet - ob dies der jeweilige Seelsorger, Rabbi, Mönch oder Imam sich selbst oder den sich ihm Anvertrauenden eingestehen mag oder nicht...
Freundliche Grüße,
R.L.Fellner