Sichtweise von Freud auf weibliche Sexualität u Schmerz

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leberblümchen
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Beitrag Sa., 25.07.2015, 13:29

wer redet denn bitte Frauen in Mitteleuropa ein, sie wären minderwertig?
Und, wo lebst du so...?

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pandas
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Beitrag Sa., 25.07.2015, 13:30

Ich wende mich dagegen, daß Freud als Frauenfeind-bild aufgebaut bzw. gepflegt wird, und man sich damit den Zugang zur Psychoanalyse verstellt, und dem, was es für die emanzipatorische Position dort zu gewinnen gibt.
Dazu solltest Du aber auch verstehen, dass dies Deine Wahrnehmung ist.
Desweiteren verstellt sich die Richtung, über die Du hier zu schreiben versuchen scheinst, nicht dem Zugang zur Psychoanalyse: Im Gegenteil, wie ich oben an Butler aufzeigte, untersucht sie die Psychoanalyse, aber nicht um Freud zu huldigen und ihn als Autorität zu begreifen, dessen Grundannahmen stimmen müssen und nur richtig verstanden, sondern um ihn als Teil eines gesellschaftlichen Diskurses zu begreifen und um Gegenpositionen zu entwickeln, die eine freiere, individuelle Entwicklung von Geschlchtlichkeit ermöglichen.
Ich würde es positiv empfinden, wenn Du hinterfragst, inwiefern Du mit deinen A,B,C - Kategorien sexuelle Entwicklungen anderen Menschen diskriminierst anstatt dass Du diese als mögliche Varianten ihrer Selbstbestimmung zulässt. Hier ist die Frage ausschlagegebend, ob die Person die Art, wie sie ihre Sexualität lebt, selbst als "abnorm" wahrnimmt oder nicht - und hier hat die jüngere Entwicklung gezeigt, dass Deine A, B, C - Kategorien (und mehr) eben nicht als "abnorm" erlebt werden, sondern die gesellschaftliche Diskrimination dessen, die sich eben auch in Begriffen wie "Blaustrumpf" o.ä. ausdrückt.

Wenn Du Dich für einen feministischen Zugang zur Psychoanalyse interessierst, so lies doch mal Literatur aus der feministischen Psychoanalyse.

Mir selbst geht es nicht darum, schwarz-weiss zu zeichnen, sondern über Inhalte an sich zu diskutieren.
"Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit." Kierkegaard


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pandas
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Beitrag Sa., 25.07.2015, 14:32

Okay, Möbius, ich habe übersehen, dass Du noch ein voriges Post geschrieben hattest, dass sich mehr auf mein Post und seinen Inhalt bezieht ... so nehme ich zumindest zurück, dass Du nicht auf dieses an sich eingegangen bist, auch wenn ich hier wiederum ergänze, dass es darum geht, nicht lückenlos in Zeit von Freud zurückzuspringen und die Auswirkungen seiner Texte auf den Diskurs auszulassen - beides muss zusammengedacht werden.
Möbius hat geschrieben: Auf die Gefahr der Wiederholung hin: der "Penisneid" (ein etwas unglücklicher Ausdruck, wie ich finde) entsteht nicht durch den schieren Größenvergleich zwischen Clitoris und Penis, sondern durch die Diskriminierung der Clitoris durch Gleichaltrige, Erwachsene und die patriarchalische Kultur schlechthin - wobei ich aber zugestehe, daß sich dieser "Diskriminierungsvermutung" nicht aus den von mir genannten Texten Freuds selbst ergibt. Ich gebe auch gerne zu, daß ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen mit der Psychoanalyse nach Freud ebenso positiv voreingenommen bin, wie viele es in negativer Weise sind.
Hier kann ich dennoch auf meine beiden vorigen Posts verweisen, in welchen ich auf diese These eingegangen bin: Du gehst hier aber davon aus, dass Du (in Bezug auf Freud) weisst, wie das Mädchen ursprünglich seine Clitoris erlebt und auch später erleben würde wollen, wenn es nicht durch das soziale Umfeld gestört werden würde und stellst sodann die A, B, C - Kategoreien als Fehlentwicklungen vor. Aber diese Definition als Fehlentwicklung ist genauso eine Diskrimination. In einem freiheitlichen Diskurs kann nur die Frage gelten, ob die jeweilge Person ihre eigenen sexuelle Orientierung als stimmig für sich erlebt oder nicht.
Hier liegt genau auch eine Position, die in den 70er Jahren zur Legitimation von sexuellen Kontakten mit Kindern in Teilen linker (!) Kreise geführt hat: Es ist aber auch eine autoritative Handlung, wenn eine Person annimmt, die Sexualität einer anderen Person befreien zu müssen, obwohl die andere Person selbst bewusst gar keinen Wunsch dazu verspürt. Um es auch mal etwas überspitzt auszudrücken: Es muss ja nicht die neue Norm werden, pro Woche dreimal Sex zu haben und tolle Orgasmen zu erleben. Dem einen ist das wichtig, dem anderen nicht.
Möbius hat geschrieben:Den Einwurf hinsichtlich der weiblichen Brust kann ich so nicht nachvollziehen, weil diese in dem fraglichen Alter normalerweise allenfalls in Ansätzen vorhanden ist. Natürlich wissen die Kinder in diesem Alter schon, daß weibliche Kinder irgendwann einmal Brüste haben werden - aber die Prozesse, um die es Freud geht, sind Prozesse die nicht auf der rational-intellektuellen Ebene ablaufen, sondern im Unbewußten.
Ja eben! Auch dazu habe ich mich ja in den vorigen Posts geäussert.
Genau dies ist es, wo Freud nicht qualitativ geforscht, sondern aus seiner eigenen subjektiven Wahrnehmung als eine Art von Mann seiner Zeit bestimmt hat, was im Unbewussten von Kindern abläuft. Das ist dann aber nicht haltbar.
Genausogut kann gesagt werden: Die Brust ist sogar die erste Erfahrung, die ein Kind in seinem Leben macht.
Da gibt es sogar Ansätze in der PA (die auch streitbar sind) zu. Nur sind diese so, das Kind erlebe die Brust zunächst als Teil von sich selbst, später erkenne es die Brust als Teil des Anderen (im PA-Speech: des Objektes!). In dieser Phase besteht sogar aus Sicht der PA ein Neid - das Kind begeht die Brust, die nicht mehr als zu sich zugehörig erlebt wird.
Freud beschreibt, um sich loszulösen, ist dann die Triangulierung erforderlich. Das Mädchen erkennt sich nach Freud durchaus als gleich der Mutter, der Junge als Anders der Mutter. Auch nach der PA ist zunächst die Mutter Objekt des Begehrens, dann - wenn es "gesund" läuft, der Vater. Und hier ist wieder ein Kritikpunkt: es wird bestimmt, dass der Prozess, den Freud im Unbewussten sieht, der Normale ist, alles andere ist abnorm.
Zuletzt geändert von pandas am Sa., 25.07.2015, 14:40, insgesamt 1-mal geändert.
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pandas
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Beitrag Sa., 25.07.2015, 14:36

Es ist also nicht so, dass die PA davon ausgeht, dass das Kind nicht um die Brust weiss
Vielmehr scheint es als notwendig gehalten zu werden, die Brust abzulehnen und den Penis zu neiden, damit eine heteronormative Sexualität hergestellt wird.
Die PA ist somit nicht offen für subjektiv unterschiedliche Entwicklungen von Sexualität.
Es geht nicht darum, ob das Kind einen Penisneid fühlt oder nicht - nach Freud hat es ihn zu fühlen, damit es sich gemäss den heteronormativen Vorstellungen entwickelt.
Dabei kann man beobachten, dass Jungen sich genausogut auch mit der weiblichen Anantomie beschäftigen und sich mitunter fragen, warum sie jenes oder dieses nicht haben - woraus genausogut Brustneid abgeleitet werden könnte.
Auch nach Freud vergleichen Kinder sich nicht nur mit Kindern, sondern auch mit den Eltern u.ä.
Möbius hat geschrieben: Infantile Sexualität wird bis heute immer noch bestritten - meiner Meinung nach ist es eine Verleugnung. Sie scheint regelrecht unter einem Tabu zu liegen, und wer ihre Existenz bejaht, findet sich nur allzuleicht in pädosexueller Gesellschaft wieder. Freuds Vorstellung von Sexualität ist eine sehr weite. Wir unterscheiden heute wie damals nur allzugerne zwischen einer "normalen" Zärtlichkeit zwischen Eltern und Kindern, Verwandten usw, der wir jede sexuelle Komponente absprechen, und einer "eigentlichen" Sexualität, die wir an der wahrnehmbaren, "meßbaren" Erregung festmachen. Diese Unterscheidung halte ich - mit Freud -für falsch. Der Unterschied ist kein qualitativer, sondern ein quantitativer.
Das lässt sich so auch nicht sagen. Es war eher so, dass "damals" generell ein distanzierteres Verhältnis zwischen Kindern und Eltern bestand.
Für das Heute ist die Unterscheidung, die Du als "falsch" bezeichnest, wichtig, gerade da es, wie Du später auch schreibst, erwiesen ist, dass sexueller Missbrauch von Kindern schädlich für deren Entwicklung ist.
Deshalb ist es gerade wichtig, dass sich Erwachsene bewusst darüber sind, wann sie im Kontakt "sexualisieren", eben um das Kind nicht mit sexualisierten Kontakten zu belasten etc.
Warum es wichtiger sein sollte, dieses angebliche "Tabu" zu durchbrechen (ist es dann nicht in dem Sinne schon längst mittlerweile? welches Kind wird heute noch in der Hinsicht nicht aufgeklärt etc.?) als die Gefahr der Übersexualisierung im Kontakt mit Kindern immer wieder sorgsam zu betonen und darin zu schulen, umsichtig die Grenzen zu wahren, ist mir aus Deinen Argumenten nicht ersichtlich geworden.
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Möbius
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Beitrag So., 26.07.2015, 12:03

Ich meine durchaus nicht, daß es wichtiger sei, das „Tabu der infantilen Sexualität“ zu brechen, als Kinder zu schützen, und ich stelle klar, daß ich garnichts gegen die Sanktionierung von Pädosexualität einzuwenden habe. Die Tabuisierung sehe ich für kritisch – denn: die Wirkung des Tabus trifft auch denjenigen, der das Tabu schuldlos verletzt, also die Opfer der pädosexuellen Täter. Das gehört ja gerade zum Wesen des Tabus, genauso wie der Umstand, daß es als psychosoziale Tatsache weder durch einen singulären autoritativen Akt gesetzt, noch aufgehoben werden kann.

Wogegen ich mich explizit gewendet habe ist die Tabuiserung des Konzepts der infantilen Sexualiät – der Diskussion darüber. Die infantile Sexualität als solche zur Kenntnis zu nehmen und entsprechende Schlüsse zu ziehen, halte ich auch für einen richtigen Umgang mit dieser infantilen Sexualität für durchaus angezeigt: denn Eltern, Familie und andere Erwachsene, die mit Kindern im engen Kontakt stehen, werden zwangsläufig irgendwann mit ihr konfrontiert und sind zu einer Reaktion gezwungen, und diese Reaktion sollte eine möglichst Angemessene sein. Nun muß nicht freilich jeder Elter die psychoanalytische Sexualtheorie beherrschen können – aber diejenigen, welche den Eltern Ratschläge an die Hand geben, könnten vielleicht durchaus von ihr profitieren.

Über die infantilie Sexualität erfahren wir normalerweise nur auf indirektem Wege – eben durch die Psychoanalyse: der klinischen Erfahrung, der Beobachtung, wie Erinnerungen an infantile Sexualität aus dem Unbewußten auftauchen und „wiedererlebt“ werden. Diese Beobachtungen geschehen in einer therapeutischen Situation und können schon von daher nicht intersubjektivierbar sein. Ich habe meine eigene infantile Sexualität und auch deren Mißbrauch durch Erwachsene in weiten Teilen wiedererlebt – aber das kann ich nicht objektivieren. Das stellt auch für mich heute ein großes Problem dar, wenn es um die sozialrechtliche Anerkennung als Verbrechensopfer geht: ich bin darauf angewiesen, daß Gutachter meinen Darstellungen Glauben schenken und dies mit guten Gründen unterlegen können.

Deswegen kann die Psychoanalyse ja auch nicht in Anspruch nehmen, eine wissenschaftliche Methode zu sein. Sie ist eine Methode der Heilkunst, und ihre Erkenntnisse, die ja schlicht Sammlungen, Systematisierungen und Abstraktionen der klinischen Beobachtung sind, können einen Anspruch auf Anerkennung nur daraus ableiten, daß diese Heilkunst als solche den „Heil-Erfolg“ hat. Das jedoch ist heute kaum noch zu bestreiten. Deswegen haben diese Thesen für mich rein pragmatisch einen noch höheren Wert, als wissenschaftliche Erkenntnisse – eben weil sie imstande sind, konkrete, individuelle Lebensaufgaben zu bewältigen, die oftmals existenziell sind: schwere psychische (und psychosomatische) Leiden zu heilen oder zu lindern. Eine direkte Erforschung der infantilen Sexualität mit den Methoden der empirischen Sozialforschung verbietet sich ja eben wegen der Integrität der kindlichen Psyche, in die durch solche Forschungsmethoden mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Weise eingegriffen würde, die nicht mehr vertretbar wäre. Mit diesem Nebel des Nichtwissens im wissenschaftlichen Sinne müssen wir leben. Das ein Phänomen wissenschaftlich nicht untersuchbar, deswegen nicht falsifizierbar ist, ergibt jedoch noch lange keinen Beweis dafür, daß es nicht existiert. Und der Erfolg der Psychoanalyse als Heilmethode ist auch auch ein sehr starkes Indiz für die Richtigkeit ihrer Grundannahmen, zu dem auch der hier so strittige Penisneid-Komplex gehört. Vor dem Hintergrund dieses praktischen Erfolges der psychoanalytischen Therapie halte ich die Annahme, dieser sei eine Phantasie Freuds, für sehr gewagt.

Ich meine, daß aus den referierten Texten Freuds schon ersichtlich ist, daß eine unangemessene Reaktion auch diesseits des sexuellen Mißbrauchs auf die infantilen Sexualäusserungen zu erheblichen psychischen Störungen und einem entsprechenden großen Leid bei den Betroffenen führen kann.
Zuletzt geändert von Möbius am So., 26.07.2015, 12:26, insgesamt 3-mal geändert.

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Möbius
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Beitrag So., 26.07.2015, 12:07

Ich meine auch nicht, daß die Psychoanalyse einzelne sexuelle Orientierungen entwertet – diskriminiert oder pathologisiert; auch nicht die klassische Psychoanalyse Freuds. Sehr bekannt ist zB ein alsbald nach seiner Absendung publizierter Brief Freuds aus 1930 an eine wegen der Homosexualität ihres Sohnes verzeifelte Mutter. Freud wandte sich in diesem Brief explizit gegen eine Pathologisierung von Homosexualität. Auch das er die homosexuelle Entwicklung seiner Tochter und Schülerin Anna Freud nicht nur akzeptiert, sondern auch begleitet und unterstützt hat, ist recht bekannt. Seinen Texten ist freilich zuzugeben, daß sie von der Normativität seiner Zeit ausgingen – m.E. richtigerweise. Ebenso ist es richtig, daß wir uns von diesen sexuellen Normativa recht weitgehend verabschiedet haben. Ob diese Entwicklung besser eine andere Richtung nehmen sollte, und welche Normative für uns heute die angemessenen sein können, darauf können wir aus den 100 Jahre alten Texten Freuds sowieso keine abschließenden Antworten erwarten. Schließlich verhält es sich ja auch so, daß „abweichende Sexualitäten“ auch noch in unserer Gesellschaft immer noch nur allzu oft zu psychischem Leidensdruck führen, der in eine Reihe von Fällen (durchaus nicht allen) auch einer psychoanalytischen Therapie zugänglich sein kann.

Was Freud in Anspruch nimmt: Erklärungen für das Entstehen eines weiten Teils von sexuellen Orientierungen, Identitäten und Paraphilien zu geben – sie werden eben größtenteils auf Prozesse zurückgeführt, die in der Zeit der Kindheit ablaufen, und schon rein theoretisch einer bewußten Beeinflußung durch gesellschaftliche Instanzen niemals vollständig zugänglich sein können. Das ist immerhin m.E. auch ein sehr starkes Argument für den Anspruch all dieser unterschiedlichen Sexualitäten auf gesellschaftlich Akzeptanz: eben weil sie einer willkürlichen Beeinflußung durch ihre Subjekte (und deren Umfelder) nur in verhältnismässig engem Rahmen zugänglich sind. Ich meine auch nicht, daß die von Freud gegebenen Erklärungen in jedem Fall zutreffen, also zB wirklich jede einzelne Frau einmal einen „Penisneid-Komplex“ erlebt haben müsse, sondern daß es sich um Beschreibungen von Regelmässigkeiten in einer konkreten gesellschaftlichen Situation handelt. Diese Thesen stellen nicht den Absolutheitsanspruch von Wahrheiten, sondern sind vielmehr als Topoi zu sehen – einzelne Werkzeuge in einem Werkzeugkasten („Organon“), die je nach Opportunität eingesetzt werden, oder nicht. Das gehört zu dem, was eine Heilkunst von einer Wissenschaft unterscheidet.

Da sich die Gesellschaft insofern spätestens seit den letzten 50 Jahren ganz beträchtlich verändert hat, dürften sich auch die Kindheitserlebnisse der Menschen verändert haben, die seither geboren und aufgewachsen sind. Man spricht ja nicht umsonst von „Neosexualitäten“, die sich seither entwickelt haben. Die Psychoanalytische Forschung (wenn man „Forschung“ nicht der wissenschaftliche Forschung vorbehalten wissen will) kann diesen Entwicklungen nur hinterherlaufen, weil sie im wesentlichen eben aus den Erinnerungen der Erwachsenen herrühren, die irgendwann eine Psychoanalyse aufgrund eines Leidensdrucks durchführen – oder als Lehranalyse.

Aus ihrem Wesen als Methode der Heilkunst, ergibt sich m.E. auch, daß sie wie all diese Künste einem wissenschaftlichen Diskurs nicht uneingeschränkt zugänglich sein können. Die Paradigma sind hie wie da völlig andere. In der Wissenschaft mögen die Paradigma möglicherweise durch einen wie auch immer gearteten Diskurs gesetzt werden können. (Die poststrukturalistische Position ist schließlich auch in den Wissenschaften nur eine von Mehreren, genießt nicht die allgemeine Geltung, die sie vielleicht beansprucht.) In der Heilkunst werden die Paradigmen durch die konkrete Inanspruchnahme des Heilkundigen durch einen konkreten Leidenden, einen Patienten gesetzt.

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stern
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Beitrag So., 26.07.2015, 13:28

Möbius hat geschrieben:Seinen Texten ist freilich zuzugeben, daß sie von der Normativität seiner Zeit ausgingen – m.E. richtigerweise.
Nun, er wohl teilweise die Kultur der damaligen Zeit mit der Natur des Weiblichen verwechselt.
Ich meine auch nicht, daß die Psychoanalyse einzelne sexuelle Orientierungen entwertet – diskriminiert oder pathologisiert; auch nicht die klassische Psychoanalyse Freuds.
Wenn ich Freud zutreffend verstanden habe, bleibt die lesbische Frau etwas in ihrer Entwicklung stehen und wartet z.B. heute immer noch darauf, einen Penis zu bekommen:
Die zweite Richtung hält in trotziger Selbstbehauptung an der bedrohten Männlichkeit fest; die Hoffnung, noch einmal einen Penis zu bekommen, bleibt bis in unglaublich späte Zeiten aufrecht, wird zum Lebenszweck erhoben, und die Phantasie, trotz alledem ein Mann zu sein, bleibt oft gestaltend für lange Lebensperioden. Auch dieser »Männlichkeitskomplex« des Weibes kann in manifest homosexuelle Objektwahl ausgehen.
http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine ... ii-7122/39
Manches mag ja interessant klingen, aber nicht alles lässt sich bestätigen. Z.B. gibt es Untersuchungen, dass Lesben eben kaum Neid auf Männer verspüren (und auch nicht wirklich Hass)... und die Identität wird üblicherweise als Frau empfunden, auch wenn das Rollenverhalten "männlich" anmutet (letzteres muss aber gar nicht der Fall sein). Penisneid ist als Fehlanzeige.

Und Freud sieht nur einen Entwicklungswege als normal an:
Erst eine dritte, recht umwegige Entwicklung mündet in die normal weibliche Endgestaltung aus, die den Vater als Objekt nimmt und so die weibliche Form des Ödipuskomplexes findet.
Quelle: oben
Wenn erst der dritte Weg in die normal weibliche Endgestaltung mündet, tun es ja die anderen nicht bzw. noch nicht. Und somit wittere ich schon eine Differenzierung in normal und unnormal.
Ich meine auch nicht, daß die von Freud gegebenen Erklärungen in jedem Fall zutreffen, also zB wirklich jede einzelne Frau einmal einen „Penisneid-Komplex“ erlebt haben müsse, sondern daß es sich um Beschreibungen von Regelmässigkeiten in einer konkreten gesellschaftlichen Situation handelt.
Ich würde jedoch schon die Einschränkungen treffen: Von Beobachtungen bzw. Erzählungen in seiner Praxis. Von Psychotherapiepraxen würde ich jedenfalls nicht auf die gesellschaftliche Situation schließen.
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stern
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Beitrag So., 26.07.2015, 14:19

Die angeblich empfundene Minderwertigkeit des "Weibes" bzw. der weiblichen Genitalien, dürfte eher den gesellschaftlichen Strukturen bzw. dem Zeitgeist geschuldet sein, in dem Frauen (bis zur Emanzipation) als untergeordnet angesehen wurden. Auf die Idee, dass weibliche Geschlechtsorgane defekte oder degenerierte männliche Geschlechtsorgane sein könnten, muss man erstmal kommen.

Biologisch kann man das jedenfalls auch so sehen, dass sich zunächst gleiche Entwicklungswege später in männlich und weibliche differenzieren - je nach dem, ob ein Y-Chromosom vorhanden ist:
Bei Säugetieren entwickeln sich genetisch männliche und genetisch weibliche Embryonen zunächst in gleicher Weise. (...)
In genetisch männlichen Individuen aktiviert das Produkt des sog. SRY-Gens, das auf dem kurzen Arm des Y-Chromosoms lokalisiert ist (...) diejenigen Gene, welche aus der indifferenten Keimdrüsenanlage Hoden entstehen lassen. Ohne die Aktivität des SRY-Gens differenzieren sich die Keimdrüsen zu Eierstöcken (Ovar), (...)
http://www.spektrum.de/lexikon/biologie ... rung/27686
Also nach zunächst gleichen Entwicklungswege werden zwei unterschiedliche Weg eingeschlagen. Hormone, usw. tun dann nach ihr übriges. Und NICHT: Das weibliche Geschlecht entsteht durch RÜCKbildung des männlichen. Tzzzz
Liebe Grüße
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Möbius
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Beitrag Di., 28.07.2015, 14:02

Es ist vielleicht hilfreich, sich mal einen anderen Aspekt der Freudschen Psychoanalyse vor Augen zu halten, wenn es um die Frage geht, was eine "normale Entwicklung" sein soll. Darum geht es ja offenbar irgendwie: es wehren sich nicht nur Frauen dagegen, daß man gesellschaftlich ihre Sexualität und ihre Persönlichkeitsentwicklung als "unnormal" diskriminieren würde - das ist durchaus richtig. Aber den Vorwurf gegen Freud zu richten halte ich immer noch für falsch, weil es für Freud nämlich überhaupt keine "normale Sexualentwicklung" gibt - auch nicht für diejenigen "mit dem Zipfelchen vorne drann" (Loriot):

In dem "Unbehagen in der Kultur" hat Freud sozusagen ein Weltbild der Psychoanalyse entworfen, und das ist nicht sehr freundlich: organisierte Gesellschaft, Kultur und Zivilisation sind darauf angewiesen, die Triebbefriedigung ihrer Mitglieder zu einem erheblichen Teil zu unterdrücken, damit es zur Übertragung der Triebbefriedigung auf die makrosozialen Instanzen kommt, eine für "gesellschaftliche Zwecke" frei nutzbare Libido. In den "entwickelten Gesellschaften" ist der Mensch schlechthin: ein Neurotiker, und eine "gerechte Gesellschaft", die eine "natürliche Persönlichkeitsentwicklung" zulassen würde, dem Einzelnen das Glück seiner Triebbefriedigung lassen würde, wäre dem Untergang verurteilt: sie würde von konkurrierenden Gesellschaften buchstäblich aufgefressen.

Dabei ist keineswegs so, daß dies von irgendeiner sinisteren Macht - dem Chauvinismus, dem Kapital oder sonst wem - "so eingerichtet" worden wäre, sondern ein Produkt der Evolution: Sozialdarwinismus auf der Makro-Ebene.

Pandas hat den Finger durchaus auf der richtigen Stelle gehabt, wenn sie von "drei Fehlentwicklungen" geschrieben hat. Es ist keineswegs so, daß diejenige Entwicklung, welche den Vorgaben der Heteronormativität genügt, die "gute" oder "richtige" oder "natürliche" Entwicklung wäre. Polemisch formuliert: die Normalen sind genauso pervers, wie die Perversen, nur ihre Zahl ist größer, und deswegen ist ihre Perversion die Normalität. In der Welt der Blinden ist der Einäugige keineswegs König, sondern aussätzig !

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Möbius
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Beitrag Di., 28.07.2015, 18:05

Soweit Freud beschreibt, daß sich aufgrund des Penisneid-Komplexes der Wunsch des Mädchen ausprägen und erhalten kann, selbst einen Penis zu haben, oder ein Mann zu sein bzw. zu werden, ist noch auf einen anderen Umstand hinzuweisen, der sich aus dem Text über die 'anatomischen Unterschiede' selbst nicht ergibt, aber im Kontext der Psychoanalyse eigentlich selbstverständlich ist:

Dieser Wunsch braucht keineswegs bewußt zu sein oder zu bleiben. Das dürfte sogar die Ausnahme sein, da ein solcher "unmöglicher" Wunsch einen starken Spannungszustand innerhalb der Psyche erzeugt, der regelmässig dazu führt, daß die betreffende Regung durch die "Abwehrmechanismen" verarbeitet wird, von denen die Verdrängung der Bekannteste ist. Die "Abwehrmechanismen" werden recht gut in dem Wiki-Artikel zu diesem Stichwort dargestellt - dem Buch Anna Freuds "Das Ich und die Abwehrmechanismen" von 1935 folgend.

Ein verdrängter solcher Wunsch nach einem Penis kann sich jedoch immer wieder aus dem Unbewußten in Richtung Bewußtsein bemerkbar machen, wenn die Grenze zwischen diesen psychischen Instanzen etwas weniger dicht ist, zB beim Traum im Schlaf, in schizoiden Phantasiewelten, als Motiv bei darstellend-künstlerischer Betätigung (die berühmten "Phallussymbole") und dergleichen mehr.

Ein weiterer Abwehrmechanismus (Anna Freud unterscheidet ca. 10 solcher Mechanismen) ist die "Verkehrung ins Gegenteil": aus der Sehnsucht, einen Penis zu haben, wird eine Abneigung gegen Penis, Mann und Männlichkeit schlechthin. Auch die kann sehr unterschiedliche individuelle Ausprägungen erhalten. Die Männerfeindlichkeit mancher "Kampflesben" oder "Efrauzen", ihr Bedürfnis, sich gegenüber Männern abzuschotten, männliche Gesellschaft strikt zu meiden, sich in Frauengruppen abzuschließen kann hier ihre Ursache haben - aber auch die merkwürdigen Schwierigkeiten, die man im wieder von Frauen berichtet bekommt, die sich selbst ohne weiteres als "strikt heterosexuell" definieren würden, dezidiert männliche Partner suchen, gar geheiratet haben - aber eine diffuse Abneigung gegen deren Penis haben. Sie wollen ihn nicht sehen, nicht anfassen, erst recht nicht im Mund haben. "Der Akt" wird im stockdunkelen Schlafzimmer unter der Decke vollzogen, ist allenfalls mässig erfreulich, und die betreffenden Frauen können nicht schnell genug unter die Dusche und zur Intimhygiene eilen.

Selbstverständlich können diese Phänomene auch andere Ursachen haben, als den Penisneid-Komplex, aber er gehört bei der Diagnose wohl zu den ersten, die in Betracht zu ziehen sind - wenn es zu einer analytischen Behandlung solcher Phänomene kommt.

Es soll auch keineswegs verleugnet werden, daß der umgekehrte Fall: der Wunsch des Knaben, eine Frau zu sein bzw. zu werden, eine Vagina statt eines Penis zu haben, genauso vorkommt, wahrscheinlich nicht seltener, als der zuerst beschriebene Fall. Und hier können dieselben Abwehrmechanismen eingreifen, die Verkehrung ins Gegenteil sich in Problemen mit dem weiblichen Genital, Ausbildung dezidiert männlicher Charakterzüge und Habitus ("Macho, Chauvi") usw. äussern, aber auch in Mysogynie: einer oft hysterisch anmutenden Frauenfeindlichkeit, hier weniger im politischen Sinne, als in Form Vermeidung jedes persönlichen Kontaktes zu Frauen, ein Bevorzugen von rein männlicher Gesellschaft bis zu Extremen hin wie Klöstern, in denen Frauen, ja auf dem Berg Athos in Griechenland sogar weibliche Tiere streng untersagt sind. Aber die Sexualität des Mannes ist hier ja nicht unser Thema.

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Möbius
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Beitrag Mi., 29.07.2015, 17:01

Auch wenn es hier um die weibliche Sexualität geht - ein bischen müssen wir doch noch auf die männliche Sexualität schauen, denn beide sind aufeinander bezogen. Denn: dem Penisneid-Komplex des Mädchens, der aus der Diskriminierung der Clitoris erwächst, entspricht auf der Seite des Jungen der Kastrationskomplex. Dem Jungen wird Kastration angedroht, um ihm von der Masturbation abzuhalten - von Eltern und Erziehern. Diese Kastrationsdrohung begegnet einem zuweilen noch in der "offenen Szene", wo gewisse Männer zu ihren offen masturbierenden Geschlechtsgenossen stereotyp zu sagen pflegen: "Er fällt Dir noch ab!" oder "Du machst ihn noch kaputt!". Was vor der Hand als neckisch-ironisch gemeint ist, entpuppt sich bei analytischer Betrachtung als Re-Inszenierung der Kastrationsdrohung mit verteilten Rollen - der Abwehrmechanismus der Verkehrung ins Gegenteil. Diese Kastrationsdrohung erhält - nach Freud - ihre Glaubwürdigkeit durch den Anblick des weiblichen Genitals: das Mädchen hat wirklich keinen Penis - mehr ! Er wurde ihm schon abgeschnitten, das Mädchen wurde schon kastriert, weil es "unartig" war und an sich rumgemacht hatte - und dabei erwischt worden war ! Und fertig ist auch schon die machistisch-chauvinistische Grundeinstellung von der Frau als "kastriertem Mann" oder "Mängelwesen", auf die dann die entsprechenden Normativa der christlich-abendländischen - und patriarchalischen - Kultur aufbauen können, buchstäblich bis zurück zu Adam und Eva aus der Genesis, in der ja der Mythos vom "sündhaften Weibe", daß den an für sich tugendhaften Mann verführt, sein ehernes Fundament hat. Denn das "Weib" ist nicht nur kastriert, es ist kastriert worden, weil es schuldig war, unartig, böse, schlecht (und dumm, weil es sich hat erwischen lassen). Der Junge dagegen ist nicht kastriert worden, weil er artig ist, gut und tugendhaft (bzw. nicht erwischt worden ist, weil er ja schlauer ist). Und er beeilt sich, nur um so guter und tugendhafter zu werden bzw. sich um Gottes Willen bloß niemals nicht erwischen zu lassen beim rummachen an sich und mit den Mädchen will er nun nix mehr zu tun haben ! Mit kastrierten "Verbrechern" gibt man sich nicht ab !

Das Tischtuch zwischen Mädchen und Jungen ist nun entgültig zerschnitten, aus dem unisexuellen Menschen der Kindheit (Freud nennt ihn "phallisch", was die Feministinnen ja wieder auf 180 bringt, weil Freud nicht "clitoral" geschrieben hatte) sind junge Frauen und junge Männer im kulturell-psychosozialen Sinne, im Sinne von "gender" geworden. Und das alles kann das Werk eines einzigen Augenblicks sein, an den sich die berühmte Latenzzeit anschließt, die im - statistischen - Normalfall erst wieder durch den Hormonschub der Pubertät durchbrochen wird. Erst jetzt, nach rund 10 Jahren Pause (und 10 Jahre sind in diesem Lebensalter mehr als nur eine Ewigkeit!) wenden sich die jungen Männer und jungen Frauen wieder zueinander, nachdem sie diese zweimal ewig-langen 10 Jahre mit ihren jeweiligen Rollenbildern indoktriniert worden sind.

In meiner Grundschulzeit 1970-75 war ein Spottlied der Jungen über die Mädchen gebräuchlich:

"Licht aus ! Messer raus !
Die Mädchen ziehn' sich nackisch aus !"

Wozu sollte denn dann wohl ein Messer rausgeholt werden ? Ich selbst habe das erst heute richtig verstanden. Zumindest glaube ich das.

Die gesamten traditionellen Darstellungen von Mann und Frau in den klassischen Märchen, Filmen und Serien, Büchern kommt einem vor wie die Fortsetzung dieses frühkindlichen Komplexes, und erst recht die theistischen Religionen (siehe oben: Genesis) machen eine hoch komplexe Ideologie daraus, und die überwiegende Mehrheit der Menschen in diesem unserem Sprachraume bekennen sich zu den christlichen oder moslemischen Bekenntnissen.

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Möbius
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Beitrag Mi., 29.07.2015, 21:55

In einem der letzten Beiträge, bevor ich in diesen thread hier eingestiegen bin, nannte jemand die Sicht Freuds auf die weibliche Sexualität eine gruselige. Im Ergebnis kann ich dem eigentlich nur zustimmen. Die Bestandsaufnahme, die Freud vorgenommen hat, ist in der Tat wenig erfreulich. Sie ist indessen kaum weniger erfreulich für die männliche Sexualität. Denn männliche und weibliche Sexualität sind zueinander spiegelbildlich - selbst dann, wenn es sich um Männer und Frauen handelt, die sich nur homosexuell betätigen, empfinden und leben.

Ich muß bekennen, daß ich vor dem Text Freuds über die Folgen des anatomischen Unterschiedes zunächst einmal vor den Kopf geschlagen war und es nicht recht glauben konnte, was ich da gelesen habe: "Das kann doch wohl nicht wahr sein!"

Und doch halte ich es heute für "wahr" - für richtig, besser gesagt. Freud ist eine hohe Autorität, nicht nur für mich. Für mich ist er ganz besonders eine Autorität, weil ich mit seinen Texten - allerdings anderen als diejenigen, über die wir hier reden - eine Selbstanalyse vollziehen, ein sehr schweres Kindheitstrauma zum Wiedererleben bringen konnte. Er ist aber auch eine enorm hohe Autorität für mich, weil seine Thesen, und eben auch diejenigen, über die wir hier reden, mit meinen eigenen Beobachten, meiner sexuellen Lebenserfahrung übereinstimmen. Freud ist für mich schließlich eine Autorität, weil seine Thesen nicht einem wie auch immer gearteten Diskurs entspringen, sondern seiner klinischen Erfahrung. Freud war kein Akademiker, kein Wissenschaftler, kein Politiker - er war Arzt. Rund fünfzig Jahre seines Lebens hat er mehrere Stunden des Arbeitstages mit seinen Patienten verbracht - Eva Weissweiler behauptet in ihrer Biographie der Familie Freud, es wären 10 h jeden Tag gewesen, von Montag bis Samstag. Das halte ich für etwas übertrieben, aber viel weniger werden es auch nicht gewesen sein. Er selbst und diejenigen, die im schon damals folgten, heute noch folgen, haben unzähligen Menschen helfen können - auf der Grundlage der Thesen, über die wir hier reden. Vor etlichen werden sie auch versagt haben - die Psychoanalyse ist kein Allheilmittel. Die Thesen, die Freud entgegengehalten werden, haben noch niemandem konkret geholfen. Das können sie auch nicht, weil ihnen jeder praktische Bezug fehlt. Sie zäumen meiner Meinung nach das Pferd vom Schwanz auf. Aus einer Idealvorstellung davon, wie die Gesellschaft auszusehen habe, wird der Schluß gezogen, welche Annahmen über die Verursachung seelischer Krankheiten zulässig sein sollen oder unzulässig. Unzulässig sollen insbesondere Annahmen sein, die als diskriminierend empfunden werden. Das halte ich für eine Ungeheuerlichkeit, nämlich für die Forderung nach einer politischen Medizin.

Freuds Texte verstehe ich aber auch als ein Vermächtnis an uns alle: indem er uns auch heute noch aufzeigt, wo die Wurzeln dafür liegen, daß sich der Mensch schon in den ersten Lebensjahren in zwei einander feindseelig gegenüberstehende "gender" teilt, liegt gleichzeitig die Chance, wie man diese wahrlich katastrophalen Verhältnisse wenn schon nicht beseitigen, sondern wenigstens erträglicher gestalten kann. Und diese Katastrophen finden nicht nur im Bett statt, sondern auch an Familientischen, Arbeitsplätzen und Schlachtfeldern.

Die Chance, die Freud aufzeigt, besteht eben genau darin, über diese "gender", die welche wir alle schon als Kinder hineingezwungen worden sind und noch so viele hineingezwungen werden, hinwegzukommen, und uns nicht nur im Bett (was meiner persönlichen Meinung nach einer der ungeeignetsten Plätze überhaupt für Sex ist), sondern auch in der kleinen und großen Gesellschaft nicht mehr als Männer und Frauen, sondern als Menschen zu begegnen. Vielleicht sehen wir uns dann auch nicht mehr so oft auf den Schlachtfeldern. Amen.

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