Abhängigkeit und Ich-Bezogenheit: Veränderung durch Therapie

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.

mio
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Beitrag Di., 17.05.2016, 17:28

montagne hat geschrieben:Die Frage ist nun, wie eght die Entwicklung hin zu einer gesünderen Verarbeitung von Frustrationen in Beziehungen. Das ist eine Seite der Medallie. Die andere ist atsächlich, wie lernt man etwas von sich hinzugeben? (Auch hier, ich erwarte keine Antworten.)

Ich denke nur auch in alltäglicheren Dimensionen. Konflikt- und Beziehungsfähigkeit kommt ja auch zum Tragen, wenn ich ein Stück Käse kaufe und er besonders gut war oder ich nicht bekam, was ich wollte. Oder meinethalber in beziehung zu Kollegen oder Freunden, wo es nicht gleich um die große, glücksspendende Hingabe geht. (Ist die überhaupt immer so glücksspendend?)
Über Aushalten und Umdenken? Also den berühmten Perspektivswechsel.

Ich beschreibe es mal an einem Beispiel:

Eine ehemalige Freundin von mir hat sich mal von ihrem Freund (der Frühstück holte und auch bezahlte) gewünscht, dass er ihr Frischkäse mitbringt. Hat er auch. Nur leider war es Kräuterfrischkäse und ihr (innerer, unausgesprochener) Plan war, dass sie ein Frischkäse Brötchen mit Marmelade isst. Ging so natürlich nicht und so wurde sie extrem wütend auf ihren Freund. Diese Wut hielt einige Stunden an und hat alle am Tisch genervt, zumal es auch noch sehr ungerecht war ihn so zu behandeln. Was alle so sahen, nur sie nicht. Für sie war ihr Freund schuld an ihrer Wut. Tatsächlich "schuld" an ihrer Wut war aber der Umstand, dass sie nicht das frühstücken konnte, was sie wollte. Was jetzt an sich ja kein Drama ist. Frühstückt man halt was anderes. Oder aber geht los und holt sich den Frischkäse selbst. Das wäre möglich gewesen.

Sprich: Sie musste nicht wütend werden. Sie hätte genauso gut einfach akzeptieren können, dass sie halt was anderes frühstücken muss bzw. sich das, was sie frühstücken wollte, selbst besorgen können. Sie hätte Möglichkeiten gehabt, die frustrierende Situtation anders zu beantworten, nur wollte sie das nicht. Sie wollte wütend auf ihren Freund sein. Was aber leider an ihrem "Problem" überhaupt nix geändert hat. Sehr sinnlos sowas.

Auf Hingabe übersetzt: Sie hätte einfach "Hinnehmen" können. Oder aber sich selbst "Hingeben" und zum Supermarkt gehen. Ihr Freund hat es nämlich - vollkommen zu Recht - nicht eingesehen noch mal loszugehen nur weil sie frustriert war, weil er das "Falsche" gekauft hatte. Der konnte ja nicht ahnen, dass sie ein Brötchen mit Marmelade und Frischkäse essen will sondern dachte eben, dass er ihr was Gutes tut, wenn er den mit "mehr Geschmack" kauft.

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Fundevogel
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Beitrag Di., 17.05.2016, 17:37

Hallo montagne,

ich glaube, mit dem Thema hast du eine der wesentlichsten Eigenschaften von Beziehungen angesprochen:
Wie geht Beziehung, ohne sich selbst zu verlieren?

Die Ausgangsfrage(n) würde ich für mich so beantworten:
Es geht (auch in der zugespitzten Darstellung) nicht um entweder - oder, sondern darum, sowohl - als auch zu lernen. Denn nur dann, wenn ich frei bin, je nach Situation, Beziehungspartner und eigener momentaner Befindlichkeit zu reagieren, nur dann bin ich stabil genug, habe ich genug Halt in mir selbst.

Wie das geht, das zu lernen, ist allerdings eine gute Frage.
Vielleicht, wenn ich grade drüber nachdenke, fällt mir auf, dass es bei mir in der letzten Zeit ein paar schwierige Situationen gab, die ich für mein Gefühl besser überstanden habe als früher. Ich fühle mich freier, ja vielleicht ist es das. Freier von automatischen Angst-Wut-Flucht-Reaktionen, diese Automatismen, wo ich nachträglich das Gefühl habe, jemand hat einen Knopf gedrückt und dann ist system shutdown. Ja, und was noch ist: es fällt mir auf, dass ich mich grade soundso fühle. Das klingt vielleicht blöd, aber ist ein sehr großer Schritt. Und das macht was aus, dieses kleine Bewußtsein ist der Schutzschild für den Abschaltknopf glaube ich.

Ich würde mir halt wünschen von der Therapie für mein Leben und meine Beziehungen, den Reichtum des Gefühlsspektrums auch lernen und erfahren zu dürfen, auch die Tiefe ja, aber auch die Breite. Und die Freiheit fühlen zu können und zu dürfen und in Beziehung zu gehen oder wegzugehen.
Fundevogel


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montagne
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Beitrag Di., 17.05.2016, 17:44

ziegenkind hat geschrieben:Ich finde es auch interessant, dass die meisten als Gefahr ausgenutzt werden auf dem Schirm haben. Ist es nicht auch wahrscheinlich, dass wir einfach nicht so zurückgeliebt werden, wie wir hinlieben? Passiert das nicht und niemand hat schuld? Ist es nicht der dann oft empfundene verletzte stolz, der uns oft am wieder hingeben hindert?
Mag sein.. ohne jetzt immer sagen zu wollen ja, aber...
Ich denke du hast im Allgemeinen Recht. Ist doch auch kränkend, nicht so zurückgeliebt zu werden.
Und nachdem ich das unten schon schrieb, habe ich auch den Gedanken: Vielleicht wird gute Hingabe zu oft zumindest lächerlich gemacht (wennschon nicht ausgenutzt), weil der andere, eben damit seine Ängste vor Nähe, Hingabe, Verschmelzung abwehrt.


Was mich persönlich angeht: Liegt glasklar an meiner Geschichte, dass ich primär Angst habe, ausgenutzt zu werden und meine Hingabe, Liebe, whatever missbraucht wird oder auch nicht sein darf, falsch ist. Ist bei mir eine tief sitzende Angst, eben aus meiner Geschichte heraus.

Was ich hin letzter Zeit erfahren habe: Wenn Hingabe, da trifft es das gut, denn Liebe war es nicht, aber trotzdem viel, nicht so erwidert wird, wie ich es gab und gerne hätte (weil die Person eben anders gefühlt hat oder... Angst hat), fand ich das garnicht so schlimm und verletzend, wie ich es mir selbst vorgestellt hatte.
Weil... auch wenn die Hingabe nicht so erwiedert wurde, zum Teil ins Leere lief, so wurde sie weder missbraucht, noch wurde ich lächerlich gemacht. Ich durfte sein, wie ich war. Es wurde nur nicht erwidert.
Und sicher spielte auch mit rein, das ich von einer recht sicheren Position aus hingab. Ich hatte gefühlt kaum etwas zu verlieren, aber einiges zu gewinnen. (Gewonnen habe ich letzlich, dass eine ausbleibende Erwiederung nicht zwingend mit Demütigung einher geht. War schon was echt neues für mich.)
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candle.
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Beitrag Di., 17.05.2016, 17:52

Ich kann mit "Hingabe" nicht viel anfangen.
montagne hat geschrieben: Denke schon die meisten Menschen verstehen unter Hingabe eine Art Selbstaufopferung. Und letzlich ist das ja eine, welcome to the 21. Century, gerade an Frauen, Töchter, Müttern, Großmüttern nach wie vor geschätze „Qualität“.
Genau: Hauptsache Frau wäscht noch nach 20 Jahren Ehe seine Socken- natürlich mit viel Hingabe!

Wenn überhaupt, dann die Hingabe für spezielle Momente im Leben, aber ob das hier gemeint ist? "Leidenschaft" gefiele mir da besser.

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mio
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Beitrag Di., 17.05.2016, 18:58

candle. hat geschrieben:Genau: Hauptsache Frau wäscht noch nach 20 Jahren Ehe seine Socken- natürlich mit viel Hingabe!
Wenn Frau das will und er dafür vielleicht mit Hingabe wöchentlich den Rasen mäht finde ich das vollkommen in Ordnung. Schlimmer fände ich es, wenn es erwartet würde und wehe wehe wenn nicht .

Ich finde schon, dass Hingabe auch was damit zu tun hat was abzugeben/für andere zu tun. Nicht zwingend in einem derart "konkreten" Sinne, es ist ja zB. auch Hingabe die Bedürfnisse des anderen wahrzunehmen. Also indem man zB. den Partner pflegt, wenn er krank ist, obwohl man sich vielleicht eher was anderes wünschen würde in dem Moment. Oder jemandem zuhören, der gerade ein Ohr braucht. Es sollte halt "freiwillig" geschehen und nicht erzwungen werden. Ebenso wie man die eigene Hingabe niemandem aufzwingen sollte der die gar nicht will.

Auch kann man sich ja einfach einer Stimmung hingeben. Oder dem Augenblick. Oder einer Handlung. Auch da gibt man ja was "ab" an etwas.

Ich finde das auch gar nicht negativ sondern das kann ja auch sehr befriedigend sein. Kommt halt drauf an ob es freiwillig geschieht oder nicht. Wenn es unfreiwillig ist, dann ist es für mich allerdings keine Hingabe mehr. Was dann auch eine Frage der inneren Haltung ist. Ich kann mich zB. dem Regen genussvoll hingeben oder aber ihn verfluchen, je nach innerer Haltung. Ebenso kann die Frau mit Hingabe Socken waschen oder aber unter dieser Tätigkeit leiden.

Im Grunde ist es doch so, solange ich abhängig oder Ich-bezogen bin, bin ich gar nicht zu echter Hingabe fähig. Das schließt sich irgendwie aus. Wasche ich meinem Mann nur die Socken, weil ich das muss (also aus einer Abhängigkeitshaltung heraus), dann werde ich es nicht mit Hingabe tun. Wenn ich zu Ich-bezogen bin, dann werde ich die Socken gar nicht waschen bzw. gar nichts für irgendwen anders ohne direkte "Gegenleistung" tun, dann fehlt mir das Vertrauen in die "ausgleichende" Welt und dahingehend dass ich "genug" habe oder bekommen werde.


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montagne
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Beitrag Di., 17.05.2016, 18:59

@mio:
Vielleicht muss man sich auch strikt abgrenzen, wenn man Schwierigkeiten hat, Grenzen wahrzunehmen?
Oder man pfeifft auf Grenzen anderer, weil man meint, wie man es selbst macht, ist es ja das einzige richtig, anderen das eigene mit der Brechstange beizubiegen?
Hmm...
amor fati


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montagne
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Beitrag Di., 17.05.2016, 19:56

Liebe Fundevogel,
Fundevogel hat geschrieben:Es geht (auch in der zugespitzten Darstellung) nicht um entweder - oder, sondern darum, sowohl - als auch zu lernen. Denn nur dann, wenn ich frei bin, je nach Situation, Beziehungspartner und eigener momentaner Befindlichkeit zu reagieren, nur dann bin ich stabil genug, habe ich genug Halt in mir selbst.
Das denke ich auch... nur Frage ich mich mal wieder... wie viel Grenze ich mich in einer jeweiligen Situation ab, wie viel nicht? Wie viel gebe ich mich hin, wie viel schütze ich mich? Wie viel Ich-Bezogenheit tut mir gut wie viel nicht? Wie viel Unabhängigkeit tut mir gut, wie viel nicht?

Eine simple Antwort darauf gibt’s nicht, ist klar.
Sich selbst kennen oder zuminest besser kennen lerne, ja ist wohl ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Auch da hinsehen, wo es weh tut, so ungerne ich mir das selbst eingestehe.
Habe auch manchmal gemerkt es hilft. Denn zu beobachten wie ich mich fühle, statt gleich zu agieren, ist ja schon eine Distanzierung, die es eben erlaubt, nicht zu agieren, sondern zu handeln.
amor fati


mio
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Beitrag Di., 17.05.2016, 20:03

Na ja, Montagne, Grenzen sind ja nix "fixes" sondern was bewegliches. Und Grenzen müssen auch gezeigt werden. Manche Menschen haben auch Schwierigkeiten damit wenn sie von anderen eine Grenze aufgezeigt bekommen, weil sie das Gefühl haben, der andere überschreitet damit ihre Grenzen. Hab ich auch schon erlebt, das fand ich total schräg. Die Vorstellungen von Grenzen sind also sehr unterschiedlich und subjektiv sehr verschieden. Am Besten sucht man sich halt "Beziehungen" mit Menschen, die ähnliche Wünsche und Vorstellungen haben wie man selbst. Dann gibt es da die wenigsten Konflikte.

Im Grunde wird ja ständig um Grenzen "verhandelt" im Alltag. Teils subtil, teils deutlich. Meist funktioniert das gut. Wenn es nicht gut funktioniert, dann stimmt was nicht und dann ist die Frage zu stellen: Warum funktioniert es nicht? Möchte ich zu viel Raum? Nehme ich eventuell zuwenig Raum ein? Ist mein Raum ausreichend gekennzeichnet? Das wären so Fragen die mir dazu einfielen.

Und manchmal passt ja auch einfach die "Kombination" nicht, sowas kommt ja auch vor. Es passen ja nicht alle Menschen gleich gut zusammen. Mit manchen kommt man besser im "Nah-Kontakt" zurecht, mit anderen schlechter. Das hat ja auch was mit zueinander passenden Bedürfnissen zu tun. Wenn da dann kein "Abgleich" möglich ist, dann werden "Grenzverhandlungen" zB. sehr mühsam bis unmöglich. Dann ist es besser man hält von vornherein eine gewisse Distanz, so man sich selbst nicht zermürben möchte.

Wie sich das bei Dir verhält kannst Du Dir nur selbst beantworten.

In Bezug auf die Frage, ob man sich strikter abgrenzt, wenn Grenzen nicht wahrgenommen werden (allerdings vom Gegenüber) würde ich sagen ja. Und das halte ich auch für sehr gesund. Inwieweit sich jemand strikt abgrenzen könnte, der keinen Zugang zu den eigenen Grenzen hat kann ich nicht beurteilen. Aber unter Umständen ist das schon manchmal so. Allerdings würde ich da jetzt nicht von Grenzen sondern von "Einschränkung" sprechen. Also eben was unflexibles und wenig bewegliches, dass aus einer Angst heraus aufgebaut wird. Grenzen haben für mich eine positivere, wenig einschränkende Bedeutung.

Im Grunde machen sichere (flexible) Grenzen frei und engen nicht ein wie "starre" Grenzen. Flexible Grenzen sind wie eine "geschmeidige" Bewegung im Vergleich zu einer "angespannten" Bewegung. Da steckt auch mehr "Kraft" drin und das Verletzungsrisiko ist geringer. Oder auch wie ein Baum, der sich im Wind hin und herbewegt aber nicht bricht.

Menschen die Angst vor den Grenzen anderer haben oder deshalb wütend werden haben meist noch keine guten eigenen Grenzen meiner Erfahrung nach. Weshalb sie diese teilweise auch zu "bekämpfen" oder zu "durchdringen" versuchen.

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Fundevogel
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Beitrag Di., 17.05.2016, 21:11

Liebe montagne,
montagne hat geschrieben:nur Frage ich mich mal wieder... wie viel Grenze ich mich in einer jeweiligen Situation ab, wie viel nicht? Wie viel gebe ich mich hin, wie viel schütze ich mich? Wie viel Ich-Bezogenheit tut mir gut wie viel nicht? Wie viel Unabhängigkeit tut mir gut, wie viel nicht?
Ich glaube, diese Fragen kann man nicht theoretisch beantworten, das geht nur in und für eine konkrete Situation, für konkrete Situationen, Menschen und Beziehungen.

Vielleicht ist die Frage ja auch die, warum das alles wichtig ist und welches Bedürfnis, welche Bedürfnisse dahinterstehen. Bindung, Sicherheit - vielleicht beides oder anderes noch dazu und vielleicht sind es ja auch widerstrebende Bedürfnisse?
Fundevogel

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