Geschichte der Psychotherapie (Photo: Wikimedia @ Unsplash)Sigmund Freud's Couch in London

Die Geschichte der Psychotherapie

Wie aus Medizin und Psychiatrie die Psychotherapie hervorging - Freud, Adler, Jung und andere Pioniere der Psychotherapie.

Vor 1900: Von Narren zu Irren

In den meisten Kulturkreisen der Welt sowie im alten Europa existierte die Idee von "psychischen Störungen" lange Zeit gar nicht, in manchen ist sie bis heute nicht zu finden. Vielmehr wurden psychische Auffälligkeiten als Folge von Flüchen oder dämonischer Besessenheit verstanden, und Heilungsversuche deshalb hauptsächlich von Schamanen oder Priestern durchgeführt. Sie beinhalteten spezielle Rituale und die Verabreichung aus Pflanzen oder Tieren gewonnenen Wirkstoffen. Häufig bestand aber schon damals ein wesentliches Element der Behandlung psychisch Erkrankter auch in einer Form von spezieller Beziehungsgestaltung mit dem Ziel der Linderung seelischer bzw. emotionaler Leiden. Der griechische Arzt Hippokrates (ca. 460-370 v.Chr.) beschrieb schließlich erstmals Depressionen und Wahnvorstellungen sowie Delirien. Die Ursache für all diese Störungen erklärte er als ein Ungleichgewicht zwischen den Körperflüssigkeiten.

Tollhaus - Gemälde von Francisco José de Goya

Im westlichen Kulturkreis wurden bis zur Etablierung der Psychotherapie und Psychiatrie psychisch auffällige Menschen aus der Gesellschaft ausgestoßen, gequält, gefoltert, missbraucht, ermordet oder unter unwürdigen Bedingungen in Zuchthäusern, Arbeitshäusern, sog. "Narrentürmen" oder "Tollhäusern" untergebracht. Was genau unter "psychisch auffällig" zu verstehen war, das war war von Epoche zu Epoche unterschiedlich. Meist waren es jene, die sich den Forderungen des jeweiligen Zeitalters entzogen: Bettler, Vagabunden, mit sog. "Lustseuchen" Behaftete. In Europa herrschte außerdem von etwa 1650 bis 1800 eine Epoche der Ausgrenzung der "Unvernunft, der Arbeit und des Anstandes", in der auch Prostituierte, religiöse "Ketzer" und "Hexen", politisch Auffällige, Depressive, geisteskranke und behinderte Menschen mit Sträflingen zusammen in den o.g. Anstalten von der Gesellschaft weggesperrt wurden. Psychisch Leidende wurden in diesen häufig angekettet und grausamst mit Folterwerkzeugen gequält, da man sie so wieder "zur Vernunft bringen" (daher stammt auch dieser Ausdruck) und von ihren "Tollheiten" heilen wollte. Unnötig zu sagen, dass derartige Behandlungen zumeist völlig wirkungslos blieben. Geisteskranke wurden als unempfindlich gegen Hitze, Kälte, Hunger, Durst und Schmerzen betrachtet, weshalb sie oft nicht einmal Kleidung, häufig auch kaum Nahrung und Wasser erhielten - man empfand kein Mitleid mit ihnen. Mitunter wurden Geisteskranke und Behinderte gegen ein kleines Entgelt von den o.g. Einrichtungen oder fahrenden Gauklern zur Schau gestellt. Der niederländische Arzt Johann Weyer (1515-1588) war der erste Wissenschafter, der in den angeblichen "Hexen" (wenn auch vom Teufel) irregeleitete kranke Frauen sah, welche der sog. "Melancholie" verfallen waren und medizinischer Behandlung bedurften. Er verfasste mehrere medizinische Schriften, in denen er Formen des Irreseins unter teils religiösen, teils wissenschaftlichen Gesichtspunkten beschrieb [1]. In England verfasste der Schriftsteller und Gelehrte Robert Burton (1577-1640) unter dem Pseudonym Democritis junior ein damals sehr populäres Buch über die Formen und Hintergründe des Lebensgefühls der Melancholie, ihre Ausformungen und Heilmöglichkeiten [2].

Narrenturm in WienDie Einrichtung der ersten sog. "Irrenhäuser" war der erste Fortschritt auf dem Weg zu einer menschenwürdigeren Behandlung der früher ausgegrenzten "Irren". Sie erhielten einen Rechtsanspruch auf ärztliche Behandlung in diesen Häusern, von denen das erste der sogenannte "Narrenturm" im Wiener AKH (1784) war. Internationale Maßstäbe setzte am Beginn des 19. Jahrhunderts der Pariser Arzt Philippe Pinel: er nahm den "Geisteskranken" die Ketten ab und führte sie an die frische Luft. Des Weiteren engagierte er sich für die Anerkennung der Psychiatrie als medizinisches Fachgebiet [3]. In Deutschland wurden wenig später ebenfalls Irrenhäuser und Irrenanstalten eingerichtet - zu einer Zeit, da die deutschen Psychiater noch um die Anerkennung ihres Faches als eigenständige medizinische Disziplin kämpfen mussten.

Die Ausformung der psychotherapeutischen Ansätze

Sigmund FreudPsychotherapie in heutigem Sinne gibt es erst seit knapp 100 Jahren. Als "Mutter" der modernen Psychotherapie ist wohl die Psychoanalyse zu betrachten, welche ihrerseits in der um die Jahrhundertwende zur Behandlung psychischer Störungen ausschließlich angewandten Medizin sowie der Psychiatrie wurzelte. Das Basiswerk der modernen Psychologie schuf Wilhelm Wundt mit seinen sog. "psychophysikalischen Experimenten" (1862).

Der Wiener Psychiater und Neuropathologe Sigmund Freud (1856-1939) entwickelte aufgrund seiner beschränkten Erfolge mit den herkömmlichen Denkmodellen sowie seiner Anwendung der medizinischen Hypnose bei der Behandlung psychisch Kranker in jahrzehntelanger Forschungsarbeit erstmals eine komplette Theorie über die Psychodynamik des sog. "Unbewussten". Sein Theorie- und Behandlungsmodell psychischer Erkrankungen nannte er "Psychoanalyse". Obwohl Freud hierbei nur mit Theorien arbeitete, Konstrukte wie das sog. "Unbewusste" aber nur phänomenologisch und empirisch statt mit klassischen wissenschaftlichen Geräten erforscht werden konnten (weshalb die Wissenschaftlichkeit des psychoanalytischen Modells bis heute in gewissen Kreisen umstritten ist, während ihre Methodik und Therapie zur Behandlung psychischer Störungen als wissenschaftlich anerkannt gilt), kann seine Grundlagenarbeit nicht anders denn als bahnbrechend bezeichnet werden. So scharte er in seiner "Psychoanalytischen Vereinigung" alsbald eine Reihe von interessierten Schülern um sich, welchen er seine Methodik vermittelte. Neuen Ideen oder Interpretationen seiner Thesen war Freud jedoch alles andere als zugänglich, weshalb sich die meisten seiner Schüler nach z.T. heftigen Konflikten wieder von ihm abwendeten und ihre eigenen methodischen und theoretischen Ansätze der Psychoanalyse entwickelten - die bekanntesten davon Alfred Adler's Individualpsychologie, C. G. Jung's Analytische Psychologie sowie Wilhelm Reich's Vegetotherapie bzw. Körperpsychotherapie (ca. 1930-1940).

Verhaltenstherapie (c) Nichtlustig.deUngefähr zum gleichen Zeitpunkt wurde an amerikanischen Universitäten der sog. Behaviorismus populär. Er lehnte spekulative Konstrukte wie z.B. die "psychische Struktur" ab und seine Hauptproponenten wie z.B. Thorndike und Skinner entwickelten auf Basis von experimentell entwickelten Lerntheorien die ersten Vorläufer der Verhaltenstherapie. In den 1980er-Jahren fand die sogenannte „kognitive Wende“ statt, bei der erstmals auch in der Verhaltenstherapie Introspektion, Gedanken und Emotionen stärker in die Therapie einbezogen wurden. Daraus entwickelte sich neben spezifischen Richtungen der Verhaltenstherapie (Rational Emotive Therapie nach Ellis, Kognitive Therapie nach Beck) eine insgesamt erweiterte Verhaltenstherapie (Quelle: Wikipedia).

In den 40er-Jahren intensivierte der US-Psychologe Carl R. Rogers seine Forschungsarbeit über den Zusammenhang zwischen humanistischer, personenzentrierter Haltung von Beratern und Therapeuten und konstruktiven Persönlichkeitsveränderungen auf Seiten der Patienten. Nach der empirischen Absicherung seiner Forschungsergebnisse begründete er offiziell die sog. Gesprächspsychotherapie auf Basis der klientenzentrierten Gesprächsführung. In Deutschland entwickelten R. und A. Tausch daraus den Ansatz der Personzentrierten Psychotherapie.
Vom amerikanischen Philosophen Paul Goodman und dem aus Berlin emigrierten Psychiater Fritz Perls (selbst einst ein Schüler Wilhelm Reichs und ein Klient Karen Horney's) wurde in den 50er-Jahren auf Basis der humanistischen Psychologie (welche den Menschen als Beziehungswesen und für sich selbst verantwortliches und entscheidendes Individuum betrachtet), auf die Selbstwahrnehmung des Klienten fokussiert: auf den theoretischen Grundlagen der Gestaltpsychologie wurde die Gestalttherapie entwickelt (um 1950).
Der in jungen Jahren an Kinderlähmung erkrankte Milton H. Erickson "entdeckte" aufgrund seiner über ideomotorische Phänomene erzielten Selbstheilungserfolge und konsequenter Forschung die Hypnose neu und nannte sein non-direktives, kreative Selbstheilungskräfte anregendes und zumeist nur leichte Trancen nutzendes Konzept Klinische Hypnose bzw. Hypnotherapie (ca. 1930-1960).
Wilhelm Reich, ein geborener Österreicher, war seinerseits einst ein Schüler Freuds, und galt als genial, aber schwierig: bereits mit 23 Jahren durfte er als Psychoanalytiker praktizieren, zerwarf sich aber bald mit Freud, der sich mit seiner Weiterentwicklung der Triebtheorie nicht anfreunden konnte. Reich entwickelte in Folge seine eigenen Ansätze, die eine intensivere Rolle des Analytikers in der Therapie sowie psychosomatische Konzepte beinhalteten und erstmals auch körperorientierte Verfahren einführten - aus Sicht Freuds ein Sakrileg. Ein Schüler Reichs, Alexander Lowen, entwickelte auf dieser Basis die Bioenergetische Analyse (ca. 1930-1960).

Systemische TherapieWährend die Behavioristen die Verhaltenstherapie entwickelten, wurde in den USA und Teilen Europas (v.a. Italien, Österreich, Deutschland, Spanien) auch intensivst an den Zusammenhängen zwischen psychischen Störungen und familiären Bedingungen geforscht. Vor allem rund um die Behandlung der Schizophrenie formten sich dabei unterschiedliche Strömungen der sog. Familientherapie (später: Systemischen Therapie) aus, welchen aber gemein war, dass sie Probleme nicht als isoliert, sondern im Zusammenhang mit den sozialen Systemen stehend, innerhalb derer sich das Individuum bewegt (z.B. Familie, Peer Group, Gesellschaft, Job), betrachteten. Die Systemische Therapie gehört heute wohl zu den Therapieformen, deren Ansätze am meisten auch in andere Therapieformen integriert wurden, die aber auch ihrerseits nützliche Ansätze außerhalb des eigenen theoretischen Konzepts (z.B. der Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Gesprächstherapie, Hypnotherapie und Tiefenpsychologie; ferner der Kybernetik, des Konstruktivismus, der Chaostheorie, Synergetik, Autopoiesetheorie usw.) in das eigene Behandlungskonzept integrierte. So ist der systemisch-kurzzeittherapeutische Ansatz heute jener, der in den USA wohl am populärsten ist.

Was seither geschah...

Seit der Systemischen Therapie und den körperorientierten Ansätzen wurden keine fundamental neuen Psychotherapiemethoden mehr entdeckt, sondern vor allem einzelne problemspezifische Verfahren verfeinert, aus klassischen Therapieformen herausgelöst oder zu neuen Methoden kombiniert. Dies waren zum einen diverse körpertherapeutische Ansätze wie z.B. EMDR, Holotropes Atmen, Energetische Psychologie), das "Familienstellen" Hellinger's sowie Einflüsse aus asiatischen Philosophien (v.a. Zen-Buddhismus und TCM) und der bildgebenden Neurophysiologie. All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie wissenschaftlich nicht abgesichert sind, teils ist auch ihre positive Wirkung heftig umstritten. Als problematisch ist es aus meiner Sicht im Sinne der psychotherapeutischen Qualitätsstandards jedoch zu betrachten, wenn PsychotherapeutInnen, welche unter dem Deckmantel anerkannter Therapieformen auftreten und als solche auch mit den Krankenkassen kooperieren, in der Praxis de facto eklektizistisch arbeiten oder gar schwerpunktmäßig nicht anerkannte Methoden einsetzen. Dazu würde angesichts der Fülle an verfügbaren anerkannten Methoden speziell innerhalb Österreichs und der Schweiz eigentlich keine Notwendigkeit bestehen.

Moderne Psychotherapie vor ihrem geschichtlichen Hintergrund

Das Irrenhaus in unseren KöpfenVor dem Hintergrund der Geschichte der Psychotherapie (in vielen Köpfen eigentlich: der Geschichte der Psychiatrie und worin diese noch vor 100 Jahren bestand) ist es leicht zu verstehen, warum viele Menschen bis heute Hemmungen haben, sich in psychotherapeutische Hände zu begeben - sie befürchten, damit als "verrückt" oder zumindest nicht ganz "normal" angesehen zu werden. Andere Menschen wiederum haben Hemmungen, sich mit den Untiefen der eigenen Seele zu konfrontieren oder diese gar einem Dritten anzuvertrauen, und nehmen dafür eine reduzierte Lebensqualität, in Einzelfällen sogar erhebliches, lebenslanges Leiden in Kauf. Aus wissenschaftlicher Sicht gilt es heute jedoch als 'state of the art', bei psychischen Problemen einen Psychotherapeuten aufzusuchen, ebenso wie man einen Arzt bei körperlichen Beschwerden aufsucht. Im Unterschied zu den vergleichsweise hierarchischen psychoanalytischen Settings, wie sie für den Beginn des 20. Jahrhunderts typisch waren, existieren heute abgesicherte Therapiekonzepte, die sich im praktischen Einsatz bewähren mussten - nicht zuletzt auch, um vor den Sozialversicherungsträgern und der bis heute oft abwertend eingestellten Ärzteschaft zu bestehen. Darüber hinaus wurden nicht nur einschlägige Gesetze wie z.B. das umfangreiche österreichische Psychotherapiegesetz entwickelt, sondern auch darüber hinausgehende ethische und Qualitäts-Standards definiert, welche allesamt die Interessen der KlientInnen bzw. PatientInnen sowie die Qualität der individuellen therapeutischen Unterstützung sicherstellen sollen.

Unter einer psychischen Störung (der Krankheitsbegriff wird heute immer seltener eingesetzt) versteht man heute krankheitswertige Abweichungen vom Erleben oder Verhalten im Denken, Fühlen und Handeln (die meisten davon sind in internationalen Diagnose-Manuals wie z.B. dem ICD-10 oder dem amerikanischen DSM-IV aufgeschlüsselt).
Umgekehrt wird Gesundheit von der WHO jedoch als "(..) Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen" definiert4 - insofern stellt ein wichtiges Kriterium auch das seelische Leid oder Unwohlbefinden auf Seiten der Betroffenen dar. Ein typisches Beispiel hierfür ist es, wenn die Probleme nach außen hin nicht sichtbar sind (wie etwa bei somatoformen Störungen) oder ständig kompensiert werden müssen (z.B. bei Sozialen Ängsten, Burnout etc.). Je nach Statistik leidet jeder 2. Mensch zumindest einmal in seinem Leben an psychischen Störungen, die häufigste davon ist in unserem Kulturkreis die Depression.
Die meisten psychischen Störungen sind heute mit Psychotherapie oder mit Psychopharmaka - in schweren Fällen wird mit dem Ziel langfristiger Heilung eine Kombination von beidem eingesetzt - gut behandelbar. Im öffentlichen Gesundheitssystem kämpft die Psychotherapie aber nach wie vor um mehr Mittel, obwohl sie langfristig nachgewiesenermaßen kostensparend wirkt5.

Literaturtipps und Quellen:

Weitere Informationen:

Richard L. Fellner, MSc., 1010 Wien

Richard L. Fellner, MSc., DSP

R.L.Fellner ist Psychotherapeut, Hypnotherapeut, Sexualtherapeut und Paartherapeut in Wien.

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