Bindungstrauma und mehr...

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Henryette
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Bindungstrauma und mehr...

Beitrag Sa., 10.02.2018, 22:38

Hallo,
Ich bin neu hier im Forum und möchte mal schauen, ob es vielleicht Leute gibt, denen es ähnlich geht wie mir, die mir vielleicht einen Rat geben können oder schon aus Erfahrung sprechen. Ich selbst bin seit Mai letzten Jahres in einer tiefenpsychologischen Therapie. Der Therapeut ist Gestaltstherapeut und auch Trauma und Körpertherapeut.
Ich war vor 14 Jahren schon einmal bei Ihm und habe dort 3 1/2 Jahre lang eine Therapie gemacht. Damals war ich junge 22. Wir hatten eine sehr gute Beziehung zu einander und ich erinnere mich, dass mit der Abschied auch sehr schwer fiel. Er hatte sehr viel Geduld mit mir. Jedoch sind wir nie dazu gekommen, über das eigentliche Thema, weswegen ich die Therapie gemacht habe und auch jetzt wieder mache, zu sprechen. Damals war ich sehr labil und jedes Mal wenn wir das Thema angegangen sind um dass es ging, bin ich völlig abgestürzt. Es fielen von vielen Seiten Diagnosen wie PTBS, Depressionen etc. Mein Therapeut meinte jedoch immer interessieren keine Diagnosen, ich bin ein Mensch keine Diagnose. Er macht sich lieber sein eigenes Bild. Inzwischen bin ich 36, habe ein Kind (welches in der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt kam), bin in einer festen Beziehung, habe studiert, kann diesen Beruf jedoch nicht ausüben, weil ich psychisch gar nicht in der Lage dazu bin. Nun habe ich zwischenzeitlich drei Jahre lang bei einer anderen Therapeuten eine Therapie gemacht die gar nichts gebracht hat. Ich bin eigentlich nur einmal im Vierteljahr hingegangen um meine Karte einlesen zu lassen habe 50 Minuten Smalltalk geführt und bin wieder gegangen. Es kam weder eine Bindung noch eine Therapie zu Stande. Nachdem mein psychischer Druck allerdings zu hoch wurde, meldete ich mich bei Ihm mit der Frage, ob ich vielleicht bei ihm noch mal eine Therapie beginnen könnte um die Frühgeburt zu bearbeiten. Ich bekam einen Termin und besuchte ihn also. Ich erzählte ihm von meinen letzten Jahren und der Frühgeburt. Seine erste Reaktion war, dass er sich nicht wundert, dass ich eine Frühgeburt hatte mit meiner Thematik im Hintergrund. Er fragte mich ob ich Sie jemals bearbeitet habe und ich verneinte das. Nach 17 Jahren ist er nach wie vor der Einzige, der davon in dieser Form weiß. Er hörte sich alles an und sagte mir, dass er eigentlich keinen Platz frei hat, er mich aber mit dieser Thematik nicht hängen lassen möchte. Ich weiß nicht wie er es macht, keine Ahnung, aber ich bekomme eine Stunde in der Woche. Wenn es mir sehr schlecht geht auch zwei. Noch dazu kommt der Kampf mit der Krankenkasse weil ich die zwei Jahre Sperrfrist gar nicht habe und meine Stunden in der alten Therapie eigentlich aufgebraucht waren. Ich bin nahtlos von einer Therapie in die andere gewechselt. Er meinte immer, egal wie die Krankenkasse entscheidet, wir werden einen Weg finden. Dafür bin ich ihm unglaublich dankbar! Naja nun ist es trotzdem so, wir wollten das Thema angehen und es geht wieder nicht. Ich tanze mit ihm seit Monaten auf der Beziehungsebene rum. Wir haben vor einigen Monaten festgestellt, dass die Probleme die ich eigentlich bearbeiten möchte nur die Spitze des Eisbergs sind. Dass die Ursache für die ganzen Sachen viel viel tiefer liegt. Ich beginne auf einmal zu verstehen, woher dieser ständige Hunger in mir kommt, dieser Hunger nach Halt und Nähe und Geborgenheit . Diese Sehnsüchte die gar nicht gestellt werden können. Und auf einmal kursieren Diagnosen wie Bindungsstörung etc. Es war für mich ein großer Akt überhaupt irgendwie eine Art von Nähe zuzulassen und überhaupt die Fassade bröckeln zu lassen. Viel ging es erst einmal darum, meine Gefühle zuzulassen und nicht ständig abzuwehren. Das ist für mich nach wie vor harte Arbeit. Nicht ständig in die Abwehr zu gehen sondern die Gefühle „auszufühlen“. Ich bin nach einigen Monaten sanften Einstieges direkt in eine Krise gefallen. Diese Krise dauerte drei Monate. In diesen drei Monaten versuchte ich an Ihm rum zu modellieren, an ihm zu zerren, irgendwas aus ihm raus zu saugen was mir Nähe, Sicherheit und Halt gab. Und er versuchte mich zu begrenzen und mir trotzdem zu geben was ich brauchte. Vieles verwirrt mich einfach und ich weiß gar nicht wo ich stehe. Ich beginne Ihn an mich ran zu lassen und im nächsten Moment stoße ich ihn wieder weg. Anfangs durfte ich ihm noch schreiben per E-Mail. Die uferten teilweise so sehr aus, dass Sie sieben Seiten lang geworden. Darin schrieb ich auch, was während der schlimmen Traumata detailliert passierte, weil ich es nicht aussprechen konnte, da auch Scham ein großes Thema für mich ist. Ich beschrieb es so genau, weil ich mir sicher war, dass er mich dann ablehnt und eklig findet und mich rausschmeißt. Es ist alles so ambivalent in mir. Auf der einen Seite will ich Nähe, auf der anderen Seite kann ich es nicht zulassen, mit Distanz komme ich allerdings auch nicht klar. Ich habe ständig Angst vor Ablehnung, tue aber sehr viel dafür abgelehnt zu werden.
Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.
Martin Johannes Walser

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Henryette
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Beitrag Sa., 10.02.2018, 22:41

Nachtrag da zu viele Zeichen: Anfangs war er ganz warm und liebevoll und ist es zwischendurch auch immer wieder, zwischenzeitlich grenzt er sich aber ziemlich direkt ab und es macht mir sehr zu schaffen. Ich weiß, dass es wichtig ist das er das tut um in seiner Rolle zu bleiben, da wir auch eine ziemliche Sympathie füreinander haben. Aber es ist eben sehr schwer für mich das zu akzeptieren. Ich hätte ihn am liebsten als Papa. Und das ist einfach der Punkt ich suche einen Retter. Nachdem ich die Krise durchlaufen habe, bin ich eigentlich recht stabil. Mein Gedankenkarussell dreht sich nicht mehr ständig um das was er sagt und tut. Trotzdem kann ich diesen Zustand der Ruhe nicht ertragen. Ich weiß nicht warum, aber ich kriege es nicht auf die Reihe sechs Tage lang einfach ein normales Leben zu leben zu führen ohne ständig mit den Gedanken an der Therapie zu hängen. Die Therapie hat einfach einen sehr hohen Stellenwert in meinem Leben bekommen. Letztlich kann ich gar keine direkte Frage stellen. Ich hoffe nur, dass es hier Menschen gibt, die mir aus eigener Erfahrung sagen können, wie ich aus diesen Zustand der Verwirrtheit rauskomme. Weil so fühle ich mich gerade, verwirrt und hilflos.
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Martin Johannes Walser

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alatan
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Beitrag So., 11.02.2018, 09:54

Vielleicht wäre es sinnvoll, nochmal ganz genau zu überlegen, ob du dein Leben in der Rolle des Opfers deiner Vergangenheit verbringen willst (und das an dein Kind "vererben" willst) oder ob du wirklich überwinden und ein freier Mensch werden willst. Wenn du dich so "wohlfühlst" (unbewusst) in der Rolle der Leidenden, wird auch der Therapeut dein "Retter" bleiben müssen. Nur: Das bedeutet Statik, kein Vorankommen, im Grunde Verschwendung der Therapiestunden, Stillstand - auf jeden Fall kein Beziehung auf Augenhöhe.


isabe
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Beitrag So., 11.02.2018, 10:05

Hallo,
mir sind einige Sachen aufgefallen:

- Du schreibst, dass zu der Therapeutin keinen Kontakt hattest. Warum war das so und wie sah das konkret aus? Wie viele Stunden hattet ihr und wie häufig? - Einmal im Quartal? Das wäre ja gar nicht von der Kasse so als reguläre Therapie vorgesehen.

- Ein bisschen verwandt damit: Du bist jetzt also seit einem Dreivierteljahr bei ihm, und du schreibst so, als sei es immer noch nicht klar, wie genau das Ganze finanziert wird? Wurde ein Antrag gestellt? Bewilligt / abgelehnt / Fortführungsanträge? Das alles scheint es ja nicht gegeben zu haben, und ich bin darüber gestolpert, weil an dieser Stelle das eigentliche Thema anfängt: Formale Fragen hängen in der Therapie immer auch mit inhaltlichen Fragen zusammen: Wenn ein Therapeut unklar ist in Finanzierungs- / Antragsfragen, dann wirkt sich das erstens auf die Beziehung aus, weil der Rahmen nicht klar ist. Und zweitens spiegelt diese Unklarheit auch eine innere Unklarheit wider, wenn es z.B. um Abgrenzungsfragen geht. Der Therapeut, der in 9 Monaten nicht klar kommuniziert hat, auf welcher Basis man gemeinsam arbeitet, vermittelt den Eindruck von Schwammigkeit und Grenzenlosigkeit - für Bindungsgestörte ein "idealer" Nährboden für Verstrickungen und Ambivalenzen.

Wichtig ist hier auch die Frage nach dem "großen Rahmen", also danach, wie lange ihr wohl zusammenarbeiten werdet und was dabei passieren soll. Eine TfP ist ja zeitlich relativ eng begrenzt; da bist du nach ca. 2 Jahren fertig. Und wenn das so ist, müsste geschaut werden, dass ihr die Gespräche und die Thematik so strukturiert, dass da nichts aufgerissen wird, was hinterher abgehackt werden muss. Oder aber er hält sich nicht an diesen Rahmen (das wäre dann eher analytisches Arbeiten; ist er auch Analytiker?) - dann müsste aber auch hier geschaut werden, wohin die Reise eigentlich gehen soll, auch und gerade wenn ihr unabhängig von der Kasse arbeitet. Denn das ist wichtig, damit ihr nicht unterschiedliche Vorstellungen habt, die irgendwann aufeinanderprallen - oder auch, damit du nicht Angst hast, die gar nicht nötig wäre.

Auf der Inhaltsebene ist das, was du erlebst, ein Klassiker, den vermutlich die meisten der bindungsgestörten Patienten unterschreiben würden: Einerseits möchte man sich einlassen, möchte eintauchen oder sogar absaufen; andererseits ist da die Angst vor dem totalen Verlust der Identität und auch die Angst vor dem Verlust der Beziehung. Es ist nicht außergewöhnlich, dass sich alles um ihn dreht für dich; allerdings wäre es natürlich besser, wenn du den Fokus etwas verschieben könntest und vielleicht nicht "IHN" als Retter siehst, sondern die Therapie und die eigentlichen Begegnungen. Denn die sind es, die dir helfen können - nicht er persönlich.

Wichtig ist, dass du darüber mit ihm sprichst, damit du dir nicht eine Parallel-Traum-Welt konstruierst, die mit der Therapie selbst nichts zu tun hat. Da würde ich mal genauer schauen, was genau du dir von der Therapie eigentlich wünschst oder versprichst und wie ihr daran arbeitet.

Du schreibst, dass du anfangs schreiben "durftest" - jetzt nicht mehr? Und wie reagiert er, wenn du ihn wegstößt?

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isabe
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Beitrag So., 11.02.2018, 10:07

Noch zwei Dinge:

Auch in Bezug auf den Rahmen: Du schreibst, dass du zwei Stunden bekommst, wenn es dir sehr schlecht geht. Ehrlich gesagt, halte ich das für unklug, denn damit belohnt er dein Leiden.

Hast du ihm gesagt, dass du ihn als Papa willst? Und wie hat er da reagiert?

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Henryette
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Beitrag So., 11.02.2018, 12:35

Danke für eure Antworten. Erst einmal zu der Frage der Stundenklärung: natürlich hat mein Therapeut ganz regulär einen Antrag bei der Krankenkasse gestellt und mich auch darüber in Kenntnis gesetzt. Wir haben erst mit den probatorischen Sitzungen begonnen, dann haben wir zweimal eine Akuttherapie gemacht (gibt es ja seit April letzten Jahres), die zweimal 12 Stunden umfasste und jetzt haben wir eine Kurzzeittherapie für weitere 12 Stunden genehmigt bekommen. Wie es danach weiter läuft müssen wir halt sehen. Bis jetzt wollte die KK noch kein Gutachten, so dass er eigentlich recht optimistisch ist, dass wir auch eine Langzeittherapie bewilligt bekommen.
Analytiker ist er nicht, aber es gibt ja so Mittel und Wege, dass man die zwei Jahre Therapiepause vielleicht umgehen kann. Habe im Forum hier gelesen, dass man zum Beispiel eine neue Diagnose oder ein neues Problem der Krankenkasse melden könnte was es dringend macht, die Therapie fortzusetzen, oder einen Verfahrenswechsel zu beantragen. Da hätte er ja vielleicht auch Spielraum. Selbst zahlen wäre vielleicht auch eine Option.

Zu der Frage meiner letzten Therapeutin: ich bin nach circa einem Jahr was ich bei ihr war verzogen, so dass ich jedes Mal circa 1 Stunde zu brauchte. Insgesamt würde ich sagen, war ich sogar etwas über vier Jahre da, am Anfang wesentlich öfter. In der Zeit wo ich in der Nähe wohnte, hatte ich regelmäßig 1 Stunde in der Woche, am Ende war’s Tatsache nur noch ein/zweimal im Quartal. Irgendwie habe ich zu ihr aber keinen richtigen Draht bekommen. Wir konnten schon einige Dinge bearbeiten, aber eben nichts wirklich tiefes. Und ich habe auch nie von der Thematik erzählt, die mir eigentlich am wichtigsten hätte sein sollen. Ich dachte mir halt immer, ich habe damit gar kein Problem mehr, ist ja schon so lange her. Ich steckte also ewig in der Phase der Verleugnung fest.

Worum soll es gehen: ursprünglich wollte ich die Frühgeburt und die Schreiproblematik meines Kindes bearbeiten. Dann kristallisierte sich relativ schnell heraus, dass ich nicht umhinkomme, mein früheres Missbrauchsthema zu bearbeiten. Als wir damit begonnen haben bin ich in die Krise gefallen. Hier entstand die Situation mit den E-Mails schreiben. Am Anfang war es für mich sehr hilfreich, mit der Zeit habe ich mich allerdings durch lesen von Fachliteratur und extremen viel zu vielen Befassen mit der Thematik so in das Schreiben hinein gesteigert, dass es mir nicht mehr gut tat. Ich bin immer tiefer gefallen. So dass er sagte, dass es besser wäre, Thematik zum einem persönlich zu besprechen, und vor allen den Kontakt persönlich in den Stunden zu halten und nicht per Mail.
Ich habe halt gelesen wie eine verrückte um diese ganzen Emotionen weg zu drücken und nicht spüren zu müssen. Auch hier kristallisierte sich relativ schnell heraus, dass das ständige Weinen, der Schmerz und diese unglaubliche Trauer, nicht von meinem Missbrauchsthema kommen, sondern von der emotionalen Vernachlässigung und der ständigen Ablehnung in meiner Kindheit. Ich hatte auf einmal so viel Trauer in mir und wusste nicht wo diese herkommt. Ich habe nun also nicht mehr gelesen habe mich auch mit diesem Thema nicht mehr beschäftigt, die Flashbacks und Erinnerung und die Schockstarre waren weg, aber ich habe ständig nur geweint und ich wusste nicht warum. Das war die Zeit in der ich zwei Termine in der Woche bekommen habe. Ohne die hätte ich es auch nicht geschafft. Das war dreimal. Nach einer Weile habe ich es dann geschafft mit den Gefühlen einen Umgang zu finden und sie anzunehmen, so dass ich nicht mehr von einem Extrem ins Andere gefallen bin. Ich bin wieder belastbarer geworden, und kann mich inzwischen wieder relativ gut in meinem Familienleben einbringen. Natürlich will ich das Trauma nicht an mein Kind vererben und will mich auch nicht mein Leben lang in der Opferrolle halten. Ich war schon immer eine Kämpfernatur und werde das auch bleiben. Aber manche Dinge gehen halt nicht von heute auf morgen. Und da ich mit Schwäche nur sehr schlecht umgehen kann und sehr sehr hohe Anforderungen an mich selber stelle, hab ich mir vielleicht selbst etwas zu viel zugemutet.
Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.
Martin Johannes Walser

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Henryette
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Beitrag So., 11.02.2018, 12:38

Ich habe halt immer versucht, die Dinge mit dem Kopf zu begreifen, was vielleicht auch ein Indikator für das ständige lesen war. Zumal mir solche Literatur auch nicht fremd ist, da ich selber aus diesem Berufszweig komme. Ich wollte es einfach verstehen was passiert. Mein Therapeut hat mir immer gesagt, dass mir mein Kopf im Weg steht und dass man Intelligenz anders nutzen kann als mit dem Verstand, dass man manche Dinge nicht auf der Verstandesebene zu fassen bekommt. Manche Dinge sind einfach Prozesse, die ich zulassen muss, die ich annehmen muss. Hier habe ich offensichtlich wirklich ein Problem, dass ich die Dinge nicht unter Kontrolle habe. Daher fällt es mir so schwer loszulassen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Irgendwann kam es noch dazu, dass jedes Mal wenn ich mit meinem Freund intim geworden bin, er auf einmal in meiner Phantasie und sogar in meinen Träumen aufgetreten ist. Also sexuelle Träume und Gedanken. Er hat nichts getan er stand einfach nur weit weg und hat zugesehen zum Beispiel. Ich finde diesen Mann (er ist schon 65) sexuell überhaupt nicht anziehen. Deshalb habe ich überhaupt nicht begriffen, was da auf einmal passiert. Ich habe mich total geschämt und immer gedacht ich werde verrückt. Für meine Begriffe bin ich da recht mutig geworden, denn ich habe es Ihm irgendwann erzählt. Er hat mir die Angst genommen und mir gesagt, dass er eine Projektionsfläche ist und dass das etwas völlig normales ist und ich mir keine Gedanken machen muss, dass ich verrückt werde. Wir haben viel darüber gesprochen und inzwischen kann ich auch besser damit umgehen. In dieser Zeit hat sich ergeben, dass ich mir manchmal gewünscht habe, dass er, wenn ich weine, meine Hand hält, einfach um das Gefühl zu haben gehalten zu werden und Geborgenheit zu haben. Da kamen diese ganzen väterlichen Gefühle auch auf, dass habe ich ihm auch gesagt und er hat sehr positiv und liebevoll darauf reagiert. Allerdings kam es nie wieder zur Sprache (es ist allerdings auch erst vier Wochen her). Er meinte das Vertrauen müsse von mir kommen, nicht von ihm. Und seitdem öffne ich mich eigentlich in jeder Stunde ein kleines Stückchen mehr, glaube ich. Eigentlich sitze ich seit einem halben Jahr vor ihm und weine in jeder einzelnen Stunde. In meiner ersten Therapie, vor 14 Jahren, bin ich jedes Mal wenn ich merkte die Tränen kommen, weggelaufen. Jetzt weine ich fast jede Stunde bei Ihm, allerdings weine ich auch nur vor ihm (vor keinem anderen). Und er ist eigentlich in jeder Stunde sehr sehr liebevoll, wertschätzend und annehmend mir gegenüber. Wie er reagiert wenn ich ihn weg stoße weiß ich eigentlich gar nicht genau. Einmal ist er ein klein bisschen lauter geworden, eher um eine Mauer zu durchdringen sagte er. Aber nicht bösartig oder so, er hat nur seinen Ärger darüber mitgeteilt. Und dann habe ich ihn erst jetzt weg gestoßen. Er hat auf eine Nachricht von mir für meinen Geschmack sehr unsensibel reagiert und daraufhin habe ich ihm eine ziemlich beleidigte Nachricht zurück geschrieben. Anfangs dachte ich noch sie wäre sachlich, inzwischen habe ich fünf Tage Abstand und finde sie überhaupt nicht mehr sachlich. Keine Ahnung, ich habe morgen meinen Termin und weiß gar nicht was ich tun soll. Er hat mir halt eigentlich nur direkt eine Grenze gesetzt und ich fühlte mich direkt abgelehnt und habe entsprechend meinem Muster reagiert. Ich habe halt eine Situation hergestellt, in der ich gerne wieder seine Wärme und sein Verständnis gespürt hätte, ich denke er hat es durchschaut und hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich das alleine kann und Ihn nicht brauch. Und er hat es halt sehr direkt formuliert. Dass ich das getan habe ist mir allerdings auch erst hinterher richtig bewusst geworden. Ablehnung ist halt auch ein Riesenthema bei mir. Ich habe ständig Angst das er mich raus wirft oder ablehnt, oder was weiß ich. Deshalb traue ich mich auf keinen Fall ihm zu sagen, dass ich ihn mir als Papa wünsche. Ehrlich gesagt, ist mir noch nicht mal in den Sinn gekommen ihm das zu erzählen. Aber es stimmt!
Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.
Martin Johannes Walser


isabe
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Beitrag So., 11.02.2018, 12:42

Es klingt alles ganz "normal" - mir geht es eigentlich genauso.

Einfach laufenlassen, zulassen. Du reflektierst den Prozess; das ist wohl entscheidend.

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nexalotte
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Beitrag So., 11.02.2018, 12:59

... im Grunde geht es bei Bindungstraumata immer um die Hin und Wegbewegung. Und das über viele viele Jahre. Seine Aufgabe ist es zuverlässig da zu bleiben und auszuhalten was kommt. Ich habe eine sehr ähnliche Thematik. Nur mit fortdauernden langen Therapien - die teilweise auch unschön endeten konnte ansatzweise so etwas wie "Entwicklung" stattfinden. Aber was bleibt ist die Anerkennung das es nie so heil werden wird wie bei jemandem der eine ausreichend gute Kindheit hatte. Gelegentlich erfüllt mich das mit Neid. Dann kommen wieder Phasen von Trauer und Schmerz. Aber es geht voran und verändert sich. Ich hatte eine sehr sehr schwere Kindheit, die geht nicht weg. Aber so abgedroschen das wohl klingt- es gibt nur die zwei Möglichkeiten, Kämpfen oder Aufgeben. Hab Mut da durch zu gehen.

Lg, Nexalotte

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Henryette
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Beitrag So., 11.02.2018, 13:29

Ich habe halt manchmal das Gefühl, es ist ein Fass ohne Boden. :( Meine Kindheit war auch ziemlich bescheiden. Ablehnung und emotionale Vernachlässigung waren da auch längst nicht alles. Dann kommt das Missbrauchsthema oben drauf. Ich weiß gar nicht wie man sowas in zwei Jahren schaffen sollte. Eins beschäftigt mich doch sehr: wäre es wirklich sinnvoll Ihm zu sagen, dass ich ihn mir als Papa Wünsche? Wie soll ich das denn machen?
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Martin Johannes Walser


isabe
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Beitrag So., 11.02.2018, 13:39

wäre es wirklich sinnvoll Ihm zu sagen, dass ich ihn mir als Papa Wünsche? Wie soll ich das denn machen?
Was spricht dagegen? Und wie redest du denn sonst mit ihm? Idealerweise sagt man alles, was einen beschäftigt. Und wenn das nicht geht, sollte man diese Hemmung thematisieren. Wie willst du denn sonst vorankommen?

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Henryette
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Beitrag So., 11.02.2018, 13:56

Hm...klingt so als wärst du schon geübter in solchen Sachen ;) in dem Prozess sich zu trauen solche Dinge zu Beichten stecke ich gerade. Ja für mich ist es wie Beichten. Was spricht dagegen: die Angst mich lächerlich und verletzbar zu machen und die Angst vor Ablehnung. Ich wüsste nicht mal wie ich es sagen soll... „Ach ja übrigens Herr XY, mir ist aufgefallen, dass ich Sie gerne als Papa hätte..., ich bin zwar schon 36, aber ich regressivere grad, deshalb seien Sie bitte lieb zu mir?“ oder wie? Ich schäme mich Tatsache für solche Wünsche. Bleibt dann noch die Frage warum? Für euch ist das nicht so beschämend, oder?
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Martin Johannes Walser

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Henryette
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Beitrag So., 11.02.2018, 13:58

Regrediere sollte das heißen
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Martin Johannes Walser


mio
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Beitrag So., 11.02.2018, 14:12

Henryette hat geschrieben: So., 11.02.2018, 13:56 Bleibt dann noch die Frage warum?
Kinder die von ihren Eltern nicht ausreichend geliebt werden neigen dazu sich selbst dafür die Schuld zu geben. Dh. Du als Kind wirst wahrscheinlich fälschlicherweise gedacht haben, dass mit Dir was nicht stimmen kann, wenn Deine Eltern Dich nicht so lieben können wie Du Dir das gewünscht hast/bräuchtest. Dh. das Kind in Dir sieht sich selbst als "Mangelwesen" weil es einen Mangel erfahren musste. Fakt ist jedoch dass dieser Mangel ein Mangel Deiner Eltern war und nichts mit Dir zu tun hatte. Dein Mangel war nur ein Mangel an elterlicher Liebe.

Wenn Du Deinem Therapeuten mitteilst dass Du gerne ihn - der der bessere Vater ist - als Vater gehabt hättest dann bringt Dich das in Kontakt mit diesem erfahrenen Mangel (was gut ist, weil Du ihn dann bearbeiten kannst), aber auch in Kontakt mit Deinem eigenen (vermeintlichen) mangelhaft sein und deshalb schämst Du Dich. Nur dass eben nicht Du mangelhaft warst/bist sondern Deine Eltern es waren.


isabe
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Beitrag So., 11.02.2018, 14:18

Vermutlich schämst du dich, weil du weißt, dass die Antwort eine Zurückweisung dieses ausgesprochenen Wunsches darstellt. Das scheint ein Widerspruch zu sein: alles auszusprechen in dem Wissen, dass der Wunsch quasi "umsonst" ist. Andererseits besteht die Kunst darin, den Wert des Sprechens und Zuhörens zu erkennen. Ist das Vertrauen groß genug - und selbst wenn es Angst und Zweifel gibt, IST da ja auch Vertrauen -, empfindest du die Scham nicht mehr unbedingt, sondern es gelingt dir, das Ganze als euer gemeinsames Projekt zu sehen.

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