Welche Therapie bei chronischer Depression bzw. Dysthymie?

Leiden Sie unter Depressionen, wiederkehrenden depressiven Phasen oder anderen Stimmungsschwankungen, ermöglicht dieser Forumsbereich den Austausch Ihrer Fragen, Tips und Erfahrungen.
Benutzeravatar

Thread-EröffnerIn
Blumentopferd
sporadischer Gast
sporadischer Gast
männlich/male, 38
Beiträge: 25

Welche Therapie bei chronischer Depression bzw. Dysthymie?

Beitrag So., 10.07.2022, 01:00

Liebe Leute,

ich bin neu hier im Forum und bin natürlich nicht zum bloßen Selbstzweck hier, sondern suche um Rat:

Ich leide seit etwa 10 Jahren an einer sehr persistenten, chronischen Depression bzw. einer „Dysthymie“. Das äußert sich so, dass ich zwar „fit“ genug bin, um morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen, aber wenig Energie und Lebensfreude habe. Ich wache morgens auf, fühle mich unmotiviert und müde, fahre zur Arbeit, fühle mich unkonzentriert, überfordert und müde, fahre nach Hause, fühle mich gestresst und aufgewühlt, dafür meist nicht mehr müde. Am Abend trinke ich meist Alkohol, damit ich besser einschlafen kann und/oder verbringe stundenlang im Internet anstatt Schlafen zu gehen, es kommen also die fast schon obligatorischen Suchtproblematiken noch dazu.
Abgesehen von der ständigen Müdigkeit und Antriebslosigkeit, den Konzentrationsstörungen und dem ständigen Gefühl der Überforderung gesellen sich noch einige weitere Symptome bzw. Charaktereigenschaften dazu (der Übergang zwischen Symptom und Charaktereigenschaft ist fließend): Eine negative, pessimistische Weltsicht, ein geringes Selbstbewusstsein, ständige Selbstzweifel, gepaart mit einem gnadenlosen Perfektionismus und Versagensangst, sowie eine Unfähigkeit, starke Gefühle zu erleben, mit Ausnahme der Trauer bzw. Traurigkeit und manchmal auch Wut. Letztere ist erst in mein „Emotionsspektrum“ zurückgekehrt, seit ich Duloxetin abgesetzt habe, und ich muss ehrlich sagen, dass ich das als positiv empfinde. Wut wiegt zumindest nicht so schwer auf den Schultern wie Trauer.

Hier sind wir auch schon bei meiner therapeutischen Vorgeschichte: Ich habe acht Jahre lang Antidepressiva genommen, 7 Jahre davon Duloxetin, weil es einfach das Mittel war, das die wenigsten Nebenwirkungen bei mir verursachte. Ich habe es vor 4 Monaten auf eigenen Wunsch abgesetzt, weil ich die Aussicht, mein Leben lang Psychopharmaka zu schlucken und mich dabei trotzdem schlecht zu fühlen, für nicht besonders attraktiv hielt. Damit will ich Duloxetin nicht einmal schlecht reden: Es war nicht wirkungslos, Ich hatte dadurch etwas mehr Antrieb und konnte etwas besser schlafen, ich war aber meilenweit davon entfernt, mich „wohl“ zu fühlen bzw. eine positive Stimmung zu haben.
Ohne Duloxetin geht es auch, aber schlechter. Ich fühle mich müder, antriebsloser und vor allem: körperlich schlaffer und schwächer, als hätte jemand die „Luft rausgelassen“. Der Leidensdruck ist aber noch nicht groß genug, um mir wieder etwas verschreiben zu lassen. Hingegen möchte ich es wieder mit Psychotherapie versuchen, und mein Leben etwas aktiver gestalten, was bisher ein leeres Versprechen an mich selbst blieb…

Was die Psychotherapie betrifft bin ich auch kein unbeschriebenes Blatt. Da habe ich schon einiges hinter mir, mit durchgehend bescheidenem Erfolg. Da waren verschieden Ansätze dabei, von der „integrativen Gestalttherapie“, die sich vor allem als „belanglose Gesprächstherapie“ gestaltet hat, über Verhaltenstherapie, („setzen sie sich auf eine Schaukel und fühlen Sie sich wie ein Kind!“), über EMDR (ich tippe auf Ihr Knie, das hilft irgendwie!), zurück in die Verhaltenstherapie („Einfach Handeln, nach dem ACT-Prinzip!“) bis zur Überzeugung, dass ich die 400 Eur im Monat besser anlegen könnte…Wie ihr seht, bin ich ein sehr misstrauischer Mensch, der Therapeuten – so wie allen anderen auch – von vornherein kritisch gegenübersteht und sich nur schwer von der Kompetenz einer Person oder der Wirksamkeit einer Methode überzeugen lässt. Eine denkbar schlechte Voraussetzung für eine Psychotherapie… Dennoch möchte ich es wieder versuchen, denn die Alternative, wieder Psychopharmaka zu schlucken, halte ich für noch weniger aussichtsreich…

Daher die Frage an Euch: Habt Ihr irgendwelche Ideen, welcher Therapieansatz bei einem hoffnungslosen Fall wie mir greifen könnte? Habt Ihr irgendwelche Empfehlungen für den Raum Graz, an die ich mich wenden könnte (falls das hier erlaubt ist, in den Forenregeln konnte ich nach oberflächlichen drüberlesen zumindest nichts Gegenteiliges finden). Wichtig wäre auf jeden Fall, dass dabei auf Kindheitstraumata eingegangen wird, denn ich bin mittlerweile der Überzeugung, dass die meisten meiner Probleme Ihre Ursachen in meiner frühen Kindheit haben (ganz nutzlos war die bisherige Therapieerfahrung also doch nicht 😉).

Ich hoffe, Ihr könne mich in die eine oder andere Richtung schubsen!

Liebe Grüße,
Euer Blumentopferd

Werbung


kaja
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 80
Beiträge: 4539

Beitrag So., 10.07.2022, 05:01

Für die Behandlung chronischer Depressionen wurde CSASP entwickelt.
Das ist eine spezifische und strukturierte Psychotherapie zur Behandlung chronischer Depressionen.

https://www.gesundheitsstadt-berlin.de/ ... nen-11089/

Grundsätzlich wird aber auch die beste Therapie nichts bringen, wenn du nicht bereit bist deine Komfortzone zu verlassen und dich mal wirklich auf etwas neues einzulassen. Das liegt in deiner Eigenverantwortung. Es sind nicht die Therapeuten die für eine Methode werben und dir schmackhaft machen müssen. Du willst etwas, also mach es.
After all this time ? Always.

Benutzeravatar

lisbeth
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 80
Beiträge: 4003

Beitrag So., 10.07.2022, 08:38

Wenn du Schwierigkeiten hast, dich selbst und deine Emotionen auszudrücken und insgesamt eher (über)kontrolliert bist und das mit deinen Depressionen in Zusammenhang steht (und ich denke mal, nach deinen bisherigen Erfahrungen hast du zumindest eine Ahnung, was Ursachen und Zusammenhänge betrifft) könnte dir auch Radically Open DBT helfen.
https://www.radicallyopen.net/about-ro-dbt/

Ist im deutschsprachigen Raum allerdings bisher nicht besonders weit verbreitet.

Ansonsten bin ich bei Kaja: Ohne deine Bereitschaft, die Komfortzone zu verlassen, etwas Neues auszuprobieren und damit auch Risiken einzugehen, wird keine Besserung eintreten, egal welche Therapie du machst.
When hope is not pinned wriggling onto a shiny image or expectation, it sometimes floats forth and opens.
― Anne Lamott

Benutzeravatar

chrysokoll
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 45
Beiträge: 3954

Beitrag So., 10.07.2022, 10:41

Blumentopferd hat geschrieben: So., 10.07.2022, 01:00 Daher die Frage an Euch: Habt Ihr irgendwelche Ideen, welcher Therapieansatz bei einem hoffnungslosen Fall wie mir greifen könnte?
ich halte dich nicht für eine hoffnungsvollen Fall.
Du hast bisher offensichtlich nur ambulante Therapie ausprobiert, einzeln.
Es gibt gute Gruppenansätze, und ich kann mir vorstellen dass dir auch ein Klinikaufenthalt bzw. eine Tagesklinik weiter helfen könnte. Kannst du in diese Richtung mal recherchieren?

Werbung

Benutzeravatar

münchnerkindl
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 38
Beiträge: 9774

Beitrag So., 10.07.2022, 11:33

Also nachdem du bei dem Beheben des Problems bisher scheints nach dem Verfahren "schauen wir mal" vorgegangen bist und die Fachpersonen die es besser wissen müssten sich als Fehlgriff herausgestellt haben ist hier evtl mal sinnvoll generalstabsmässig an die Sache heranzugehen und erst mal gründlich zu anlaysieren was los ist bevor man anfängt irgendwas zu machen.

Wann genau und wie hat das mit den Stimmungs- etc Problemen angefangen. In welchem Alter, kam es plötzlich oder eher schleichend.
Was für Faktoren gab es in der Zeit wo das angefangen hat oder der Zeit davor, die man als belastend oder schwierig bezeichnen .
Du redest von pessimistischer Weltsicht, geringem Selbstwert und Perfektionismus. Sowas entsteht ja in der Regel nicht völlig ohne Grund. Was ist da der Hintergrund?

Und dann gibt es da die Frage, welche Faktoren in deiner Einstellung halten das derzeit aufrecht.
kann da nur von mir sagen was ich irgendwann bei mir entdeckt habe und was es bei mir getan hat: Wenn es einem schlecht geht neigt man dazu sich dazu zu zwingen zu funktionieren. Wenn man sich zwingt zu funktionieren überstrapaziert dieser mentale Daueraufwand die mentalen Kräfte komplett und deswegen wird man noch gestresster und geschwächter. Man muss sich also noch weiter zusammenreissen. Weil das alles nicht wirklich funktioniert fühlt man sich als Versager, weiterer Grund sich scheisse zu fühlen und sich zusammenreissen zu müssen....
Und so weiter. Teufelskreis. Die FRage ist, hast du sowas am Start?


Erst mal solltest du glasklar wissen wie die Misere hier entstanden ist, weil nur dann hast du eine Chance da anzusetzen wo die Entwicklung noch gesund war und von da aus weiterzumachen.

Ich stimme hier mit den Leuten überein die vorschlagen es mal stationär zu probieren. Da kannst du dir den Zusammenbruch kalkuliert leisten und dann schauen wie du auf die Beine kommen kannst. Du musst aus diesem "funktionieren müssen" Modus raus, weil damit machst du jede Art von echter Lebensfreude zu 100% kaputt.

Sollte das ganze auf einer weniger als guten Kindheit basieren wäre es evtl auch sinnvoll, was tiefenpsychologisches zu machen. Sollte es darauf basieren, dass du in der Kindheit gewisse emotionale Fertigkeiten nicht gelernt hat gibt es Therapien die helfen das nachträglcih zu lernen, zB Selbstfürsorge, rausfinden was du wirklich willst und wer du als Mensch bist vs ständig irgendwelchen Anforderungen genügen müssen und dadurch so überfordert sein dass du, die Person quasi aufhört zu existieren. Aber dazu muss erst der Druck raus dass du funkionieren musst, sonst funktioniert das nicht.

Benutzeravatar

Kellerkind
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
anderes/other, 44
Beiträge: 3551

Beitrag So., 10.07.2022, 12:06

Ich lese aufmerksam mit, habe ja auch so was wie Dysthymie.

Finde es allerdings sehr schwierig und komplex, und Aussagen wie "nicht funktionieren" zu müssen viel zu vereinfacht. Ohne das böse zu meinen, sondern ich denke darüber aus persönlichem Interesse nach, gerade auch sehr aktuell.

Überspitzt gesagt: das Gegenteil von "nicht funktionieren müssen" ist sich kaputt schonen. Im Laufe meiner Jahre habe ich sehr oft beobachten können, teilweise selbst erleben müssen, dass wenn man anfängt, alle Viere von sich zu strecken, es dann rapide abwärts geht. Ein Job kann einen auch aussaugen, so geht es mir derzeit, aber es gibt auch Halt und Struktur. Es ist ein Drahtseilakt!

Nun stoße ich schon seit gefühlten Ewigkeiten immer wieder auf das Problem, dass sich offenbar "richtige Therapie" und Klinikaufhalte etcpp NICHT mit dem Job vereinbaren lassen, und man müsste also... um in den Genuss einer ohnehin nur vielleicht (!) helfenden Therapie zu kommen... die eigene Situation MASSIV verschlechtern, in der durchaus vagen und unwahrscheinlichen Hoffnung, dass DANACH alles besser sei. Die Statisiken über die Wirkungsweise sowohl von div.Therapieverfahren als auch Psychopharmka sprechen dazu noch Bände. Oder um es plakativer zu formulieren: der Umstand ein Job zu haben, samt Kollegen/Struktur/gesichertes Einkommen hat mir definitiv MEHR (!!!!) mehr geholfen als alle bisherigen Therapieversuche zusammen.

Den Job für eine Therapie zu riskieren, sollte von daher nur das allerletzte Mittel sein. Die Erfolgsaussichten sind ziemlich mau vor allem im fortgeschrittenem Alter und Krankheitsverlauf. Es ist zwar nicht unmöglich, noch mal die Kurve zu kriegen, aber nun mal ja nach Einzelfall relativ unwahrscheinlich. Zu glauben, dass Therapie eine 100%ige Erfolgsquote hat, wenn man es nur wagen und nur hart genug versuchen würde, ist... salopp gesagt... ziemlich naiv und an der Reailtät vorbei. Von daher will es gut überlegt sein, da muss es einem schon wirklich schlecht gehen, dieses Risiko einzugehen und alles, was einem gerade noch so Halt und Struktur gibt, aufzugeben.

Der Vollständigkeithalber: natürlich sollte es THEORETISCH möglich sein, trotz Vollzeitjob auch Therapie machen zu können oder sogar eine Auszeit auf Krankenschein in einem Reha-Zentrum. Nur sieht die Praxis nunmal anders aus. Es auf dem ersten Arbeitsmarkt immer noch ein Stigma, und in der Regel ist der Job dann kurz - oder langfristig weg. Und wenn man nicht gerade jung und flexible ist, dann findet sich so schnell auch keiner mehr.
"Auch andere Wege haben schöne Steine. "

Benutzeravatar

Kellerkind
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
anderes/other, 44
Beiträge: 3551

Beitrag So., 10.07.2022, 12:10

(Fortsetzung)

In meinem Fall müsste ich akut und berechtigterweise davon ausgehen, dass ich danach wahlweise im HartzIV oder Frührente landen würde, und ich bezweifele sehr, sehr akut, dass dies langfristig meiner psychischen Gesundheit zuträglich wäre, im Gegenteil.
Es ist ja auch nicht so, dass man dann geplant einen Reha-Aufenthalt angeht, sondern in der Regel macht man solange, bis nichts mehr geht, dann erst dauert es Wochen und Monate, bis die Maschinerie losläuft, dann noch die Wartezeiten, dann wird einmal alles auf links gedreht, in der Zwischenzeit hat sich der Zustand verschlechtert, und DANACH geht ja die eigentliche Arbeit an sich erst los, man kommt ja nicht "geheilt" aus der Reha, sondern sind dann alle Wunden erst mal aufgerissen,DANACH geht es ja darum, das alles umzusetzen.
Angenommen, ich würde mich hier und jetzt in dieser Sekunde dazu entscheiden, wäre ich vermutlich 48 bis 50 ich wieder einsatzfähig wäre und bis dahin meinen Job los. Haha. Als ob ich dann mit so viel psychischen Altlasten und Gepäck, ohne Reserven oder sozialen Halt irgendwo nochmal den Fuss in die Tür bekäme, der Zug wäre dann abgefahren. Dann bin ich vielleicht das Grübeln los, aber mich plagen dann Geldsorgen, Einsamkeit, Altersarmut, Zukunfrtsängste... haha, guter Witz.

Das sind übrigens nicht nur rein theoretische Überlegungen, sondern ich hab auch schon entsprechende Erfahrungen gemacht, als ich im Studium dann nicht mehr "funkionieren konnte", und mich eben in Klinik und Behandlung etcpp begab. Und da kam dann eben auch die Mentalität, erst mal dies, erst mal jenes, blablabla, blödsinniges rumprobieren, und unter den Konsequenzen leide ich heute noch bzw. bis zum Rest meines Lebens werde ich im erbärmlichen Brotjob kein Glück mehr finden, nachdem ich gefühlt einen Meter kurz vor meiner akademischen Karriere so grandiös "aufgrund therapeutischen Fehlratschlagen" verendet bin.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich halte es für zu kurz gegriffen, dass man einfach nur aufhören müsse funktionien zu wollen und stattdessen ALLES von sich strecken in der (vagen) Hoffnung, dass das therapeutische System... (trotz bisheriger Fehlversuche)... es schon irgendwie richten werde, wenn man dafür alles andere, was einen noch hält, aufgibt. Sich nur richtig drauf einlassen müsse. Wenn es Jahre bis Jahrzehnte schon nicht klappte, dann sollte man vielleicht über Alternativen nachdenken, aber nicht, auch noch den letzten Rest an Struktur und Halt zu opfern, vielleicht klappt es ja dann.

Wie gesagt, das ist ein Einzelfallentscheidung, ein Balance-Akt. Wäre ich Anfang 20, würde sich auch für mich die Kosten/Risiken-Abwägung anders gestalten. Dann könnte man über großangelegte Neustart und ein oder zwei Jahre "Krankheitspause" durchaus eher nachdenken. Da hätte ich auch noch Hoffnung, dass dies oder jenes funktioniere.
"Auch andere Wege haben schöne Steine. "

Benutzeravatar

münchnerkindl
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 38
Beiträge: 9774

Beitrag So., 10.07.2022, 12:17

Kellerkind hat geschrieben: So., 10.07.2022, 12:06 Überspitzt gesagt: das Gegenteil von "nicht funktionieren müssen" ist sich kaputt schonen. Im Laufe meiner Jahre habe ich sehr oft beobachten können, teilweise selbst erleben müssen, dass wenn man anfängt, alle Viere von sich zu strecken, es dann rapide abwärts geht. Ein Job kann einen auch aussaugen, so geht es mir derzeit, aber es gibt auch Halt und Struktur. Es ist ein Drahtseilakt!


Ne, ich meine damit nicht garnichts mehr zu machen.

Aber das was man macht sollte schon Input klar Richtung Genesung bringen und einem helfen zu sich selbst zu finden, zB macht man ja auch in einer Klinik Ergotherapie, Entspannungsverfahren, Sport usw. Das ist nicht Nichtstun.

Und während der Klinik ist man ja krankgeschrieben, man muss nicht gleich den Job hinschmeissen.

Benutzeravatar

chrysokoll
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 45
Beiträge: 3954

Beitrag So., 10.07.2022, 12:26

@ Kellerkind, es gibt sehr viele Abstufungen zwischen funktioneren wie eine Maschine und alle Viere von sich strecken.

Und ich denke es ist Teil der Erkrankung in Katastrophengedanken zu verfallen, zu denken bestimmt wäre der Job weg, bestimmt würde man keinen mehr finden, bestimmt wäre man auf ewig aussortiert und in Hartz 4.
Das stimmt so einfach nicht.

Es gibt auch sehr viel zwischen Vollzeit Arbeit und gar nichts.
Ich kenne einige die für die Therapie Stunden reduziert haben, einen Nachmittag frei haben, Arbeitszeiten umstellten, je nach Job natürlich.
Und viele die auch jenseits der 50 noch gute Arbeit fanden, und zwar ohne die gesuchten Spitzenqualifikationen in Mangeljobs zu haben!
Und ich erlebe grade in meinem Alter wie viel sich noch mit der richtigen Therapie verändern kann, wie viel ICH verändern kann. Das wünsche ich wirklich JEDEM !!
Ich habe zwar keine Depressionen, aber nicht minder schwere Diagnosen. Es ist nie aussichtslos !
Ja, es ist auch nicht leicht, es erfordert Mut, eigenen Willen und Veränderungsbereitschaft.

Mir ist auch nicht klar warum du gleich von mehreren Jahren Krankheitspause ausgehst?

Benutzeravatar

münchnerkindl
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 38
Beiträge: 9774

Beitrag So., 10.07.2022, 12:37

Je geplanter man einen stationären Aufenthalt angeht umso eher kann man vermeiden dass man irgendwann so im Burn Out drinsteckt dass man gezwungenerweise in die Arbeitsunfähigkeit geht weil man die Leistung irgendwann auch mit Zusammenreissen nicht mehr bringen kann.

Und Stunden reduzieren, sagen wir mal von Vollzeit auf 30 oder so, damit man Therapie machen und anderen heilsamen Aktivitäten nachgehen kann ist ja auch machbar ohne dass man seine ganze Existenz aufgibt.

Benutzeravatar

lisbeth
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 80
Beiträge: 4003

Beitrag So., 10.07.2022, 13:09

Kellerkind hat geschrieben: So., 10.07.2022, 12:06 es allerdings sehr schwierig und komplex, und Aussagen wie "nicht funktionieren" zu müssen viel zu vereinfacht. Ohne das böse zu meinen, sondern ich denke darüber aus persönlichem Interesse nach, gerade auch sehr aktuell.

Überspitzt gesagt: das Gegenteil von "nicht funktionieren müssen" ist sich kaputt schonen.
Und ich finde deine Gegenüberstellung viel zu vereinfacht. Hier redet keiner von "sich kaputt schonen". Und dass du zu solchen Gegenüberstellungen greifst und das "funktionieren müssen" als alternativlos hinstellst, ist denke ich auch ein Symptom für chronische Depressionen (alles hoffnungslos, es gibt keinen Raum für Veränderung) und ein Hinweis darauf, was man so auf seinem Weg ins Erwachsenwerden so alles an ungesunden Glaubenssätzen aufsaugt.

Wenn man sich mal erlaubt, nicht mehr (perfekt) zu funktionieren, dann bekommt man erstmal den nötigen Abstand zum eigenen (mentalen) Hamsterrad, um ganz unmittelbar zu erkennen, was alles schräg läuft im eigenen Konstrukt. Dann merkt man, dass eben nicht die Welt zusammenbricht, dass eben nicht sämtliche Katastrophenszenarien, die man sich im Kopf ausgedacht hat, Wirklichkeit werden. Und da entsteht dann erst der Raum, um Dinge mal anders zu machen und etwas Neues auszuprobieren. Und darüber entsteht die Veränderung.

Das passiert nicht von selbst, und ja, in meinen Augen ist das (emotionale) Schwerarbeit. Und ja, man braucht dafür auch unbedingt die passende Begleitung und es wäre blauäugig, sich da kopfüber und unüberlegt reinzustürzen. Aber das Kopflose ist ja genau das, was bei Depressionen oft passiert: Verausgabung bis zum Geht-nicht-mehr und dann hektische Schadensbegrenzung, um möglichst "schnell" zum Status-ante-quo zurückkehren und wieder möglichst reibungslos funktionieren zu können.

Auch eine längere Krankschreibung bedeutet nicht automatisch das Aus im Job. Ich war zweimal länger AU und in der Klinik, beide Arbeitgeber haben an mir festgehalten und haben mit mir zusammengearbeitet, um meinen Wiedereinstieg möglichst gut hinzubekommen. Dass ich dann bei der 2. AU einen Aufhebungsvertrag unterschrieben habe, war meine eigene Entscheidung. Und ja, auch mit Ü 50 landet man dann nicht automatisch in der Grundsicherung. Es ist sicher nicht alles ideal, aber es gibt in D viele Möglichkeiten, über die Rentenversicherung sich beruflich neu zu orientieren, wenn es im alten Job aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr geht. Klar, haben die auch ein eigenes Interesse, und machen das nicht nur aus reiner Nächstenliebe, aber es ist mMn durchaus möglich, daraus eine Win-Win-Situation zu basteln.

Die entscheidende Frage ist glaube ich eher: Was bleibt von mir übrig, wenn ich nicht mehr "funktioniere" - was macht dann meinen "Wert" aus, in meinen Augen aber auch in den Augen meines Umfeldes oder der Gesellschaft? Ist es möglich, einfach zu sein, sein zu dürfen? Kann ich mir das selbst erlauben und ermöglichen? Und das ist weniger eine materielle Frage als eine Frage der inneren Haltung. Und wenn mir das nicht möglich ist, wie komme ich dort hin?
When hope is not pinned wriggling onto a shiny image or expectation, it sometimes floats forth and opens.
― Anne Lamott

Benutzeravatar

Kellerkind
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
anderes/other, 44
Beiträge: 3551

Beitrag So., 10.07.2022, 13:14

@münchnerkindl
Und während der Klinik ist man ja krankgeschrieben, man muss nicht gleich den Job hinschmeissen
Bitte verzeih mir, wenn ich bei solchen Aussagen etwas zynisch auflache. Ich schrieb ja dazu oben schon: Theorie ist das eine, die Praxis das andere.

Erstens, es ist mit einem Reha-Aufenthalt/Klinik-Aufenthalt definitiv nicht getan. Da komm noch jede Menge VOR- und eben auch NACHSPIEL dazu, und jede Menge drumherum.

Da wäre u.a. auch noch das Krankengeld, um das man sich Sorgen muss, oder auch Überlegungen wie: was bringen einem die tollsten Ratschläge aus der Reha, wenn man sie später neben einem 40 Job nicht umsetzen kann? Weil einfach keine Kraft/Zeit dafür da ist? Oder aus selben Grunde keine ambulante Therapie im Anschluss führen kann? Im Bestcase wäre das Wechsel zu Teilzeit angesagt, aber das muss man sich auch erst mal leisten können.

Zweitens, ist es und bleiben psychische Erkrankungen in diesem Ausmaß ein Stigma in der Arbeitswelt. Und zwischen Recht haben und Recht kriegen gibt es auch nochmal erhebliche Unterschiede.
So offen wie ich mit den Themen umgehe, selbst ich würde es auf Arbeit nicht kommunzieren obwohl ich dort schon knapp ein Jahrzehnt arbeite und mir die Kollegen mehr Familie&Halt sind als meine echte Familie. Auch wenn da Schweigepflicht herrscht, weiß ich, dass trotzdem getratscht wird.

Theorie versus Praxis eben. Ich persönlich kennen KEINEN Fall, der für eine psychische Reha/Klinikaufenthalt den Vollzeitjob unterbrochen hat und dann nahtlos wie zuvor wieder dort weitergemacht. Obwohl das THEORETISCH möglich sein sollte.
Ich will ja nun auch nicht behaupten, dass es gar nie nicht klappen könnte, aber es bleibt eben vom Einzelfall und von dessen Job/Alter/Umstände abhängig und ein Balance-Akt zwischen Riskien&Nutzen. Unter dem Strich halte ich Scheitern wahrscheinlicher als ein Erfolg. Die Frage, die sich für mich stellt: ist es das Risiko wert?

--

Du schriebst, man müsse erst mal davon wegkommen, funktionieren zu müssen.

Was ich ausdrücken wollte, war u.a. dass dies nicht der einzige potenzielle Grund ist, wieso man sich zu Arbeit aufrafft auch wenn man auf dem Zahnfleisch kriecht. So ein Job kann auch Halt und Struktur geben und natürlich (finanzielle) Sicherheit. Oder Ablenkung. Wenn es mir schlecht geht und ich mich trotzdem zur Arbeit quäle, dann NICHT weil ich glaube, ich müsse funktionieren. Sondern weil es das kleinere Übel ist.
"Auch andere Wege haben schöne Steine. "

Benutzeravatar

Kellerkind
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
anderes/other, 44
Beiträge: 3551

Beitrag So., 10.07.2022, 13:26

münchnerkindl hat geschrieben: So., 10.07.2022, 12:37 Je geplanter man einen stationären Aufenthalt angeht umso eher kann man vermeiden dass man irgendwann so im Burn Out drinsteckt dass man gezwungenerweise in die Arbeitsunfähigkeit geht weil man die Leistung irgendwann auch mit Zusammenreissen nicht mehr bringen kann.

Und Stunden reduzieren, sagen wir mal von Vollzeit auf 30 oder so, damit man Therapie machen und anderen heilsamen Aktivitäten nachgehen kann ist ja auch machbar ohne dass man seine ganze Existenz aufgibt.
Dem stimme ich zu.

Aber ich wiederhole: Ich kenne keinen Fall, dass jemand aus Vollzeit heraus geplant in eine Reha geht und danach (mehr oder weniger geheilt) voll wieder einsteigt. Soll es zwar geben, wäre mir aber kein Fall bekannt.

TEILZEIT ohne seine Existenz aufzugeben? Na, das auch schon wieder fraglich. Ich käme sowohl bei längerem Krankengeld als auch Teilzeit relativ bald wieder in finanzielle Nöte.
Tatsächlich kommen dann viele zu dem Schluss, dass man mit Frührenter oder HartzIV besser dran wäre. Je nach Beruf natürlich. Aber ICH könnte z.B. von Teilzeit nicht leben bzw. wenn, dann eben auf besagten HartzIV-Niveau. Ich würde dann nur noch arbeiten "zum Vergnügen" und aus "Stolz", aber viele andere würden sich dann denken: "Wenn ich dann eh finanziell nichts von habe, kann ich auch gleich HartzIV oder Frührenter machen!"

Ich meine das um Himmels Willen nicht böse oder kontrovers. Aber das alles sind meine Meinung nach eben alles so hübsche Theorien, die Praxis und die Erfahrung sieht nun mal anders aus. Theoretisch sind Depressionen ja auch heilbar, und Medikamente wirken und alle Therapeuten fehlerfreie kompentene Menschen. Die Statistik und die gelebte Erfahrung sagt allerdings was anderes. Man kann Glück haben oder eben auch nicht. Mir hat ein Job MEHR geholfen als alle Therapien zusammen, auch wenn ich ihn manchmal hasse oder er mich auszusaugen scheint. Und dabei ging es mitnichten ums funktionieren müssen.

Ich beneide durchaus Menschen, die ein solches Umfeld haben, dass sie sich TEILZEIT dann leisten können, ich wäre sofort mit dabei. Ich mutmaße allerdings, dass in meinem Fall das alles gar nicht mehr nötig hätte, wenn ich sozial so viel Halt/Sicherheit hätte, womit sich die Katze wieder in den Schwanz beißt.
"Auch andere Wege haben schöne Steine. "

Benutzeravatar

chrysokoll
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 45
Beiträge: 3954

Beitrag So., 10.07.2022, 14:53

es ist dein Leben und deine Lebenszeit und ich finde es schade das so zu verbringen.
Deinem "geht alles nicht" möchte ich daher auch strikt widersprechen, das stimmt einfach nicht und diese Katastrophenstimmung und dieses absolute ist leider sicher der Krankheit geschuldet.

Warum z.B. muss man sich um Krankengeld Sorgen machen? Warum ist das die absolute Unmöglichkeit?
man braucht im Krankenstand in aller Regel weniger Geld, man kann notfalls Hilfen beantragen, Wohngeld etc.
Es gibt Möglichkeiten, ich hab das durch

Es ist immer schade wenn man bis zum Zusammenbruch wartet. Zum einen schade um die so vergeudeten Jahre, aber auch weil dann oft tatsächlich lange nichts mehr geht. Manchmal tatsächlich dauerhaft nichts mehr.
Es ist wesentlich besser da vorher geplant zu intervenieren

Und es gibt sehr sehr viel zwischen nichts und total abrackern.
Sehr sehr viel zwischen "nur" 20 Stunden und 40
Es gibt auch die Möglichkeit 20 Stunden im Job zu arbeiten und sich einen netten, wenig stressigen Zusatzjob zu suchen, kleine Freiberuflichkeit oder auf 450 Euro Basis. Doch, das geht !
Ich habe bemerkt dass sich dann auch Türen auftun (auch wenn der Spruch abgedroschen klingt) wenn ich bereit bin etwas locker zu lassen, mich aktiv um mich kümmere. Ich hab eine Weile einen ganz lockeren Teilzeitjob gemacht für den man eigentlich nichts können musste, sowas in der Art wie Museumsaufsicht, nur damit ich durchkomme und mich langsam sortieren kann. Ich bin nicht untergegangen !

Und ich würde heute der Therapie immer den Vorrang geben und habe bemerkt: Dafür gibt es Lösungen!

Benutzeravatar

münchnerkindl
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 38
Beiträge: 9774

Beitrag So., 10.07.2022, 15:01

Kellerkind hat geschrieben: So., 10.07.2022, 13:26 TEILZEIT ohne seine Existenz aufzugeben? Na, das auch schon wieder fraglich. Ich käme sowohl bei längerem Krankengeld als auch Teilzeit relativ bald wieder in finanzielle Nöte.
Tatsächlich kommen dann viele zu dem Schluss, dass man mit Frührenter oder HartzIV besser dran wäre. Je nach Beruf natürlich. Aber ICH könnte z.B. von Teilzeit nicht leben bzw. wenn, dann eben auf besagten HartzIV-Niveau. Ich würde dann nur noch arbeiten "zum Vergnügen" und aus "Stolz", aber viele andere würden sich dann denken: "Wenn ich dann eh finanziell nichts von habe, kann ich auch gleich HartzIV oder Frührenter machen!"


Eine psychische Krankheit die chronifiziert ist ist keine leichte Erkrankung. Es ist klar dass das eine Auswirkung auf das Berufsleben und damit auch auf das ganze Leben haben kann. Aber wenn du nach einem Unfall im Rollstuhl landest musst du auch dein Leben auf diese Situation einstellen.

Und alle Frauen die Kinder haben stehen alle vor der Entscheidung nicht mehr vollzeit zu arbeiten und auf Einkommen zu verzichten.

Werbung

Antworten
  • Vergleichbare Themen
    Antworten
    Zugriffe
    Letzter Beitrag