Demut und Verrat - Begriffserklärung

Hier können Sie Fragen zu Begriffen, Diagnosen und sonstigen Fachworten stellen, die einem gelegentlich im Zusammenhang mit Psychologie und Psychotherapie begegnen oder die Bedeutung von Begriffen diskutieren.

leberblümchen
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Beitrag So., 13.12.2015, 09:53

Das mit dem Gebären traumatisierter Frauen wollte ich neulich noch in deinen Blog schreiben. Ich gehe auch davon aus, dass gerade die Frauen, denen ihre eigenen Verletzungen gar nicht so bewusst waren (z.B. weil in der Familie nicht gesprochen werden konnte oder durfte), durch die Geburt des eigenen Kindes völlig aus der Fassung geraten. Das, was andere Frauen als natürliches Kontinuum erleben - man findet einen Partner, bindet sich an ihn, gründet eine Familie, die ihrerseits wiederum noch an die eigenen Eltern gebunden ist -, also als eine mehr oder weniger kontinuierliche Weiterentwicklung; das erleben traumatisierte Frauen (behaupte ich einfach mal so) als einen Bruch, als ein Abgehacktwerden, weil in diesem Moment - und wann bitte sonst, wenn nicht bei einer Geburt, die als Erlebnis so ziemlich das Heftigste ist, was man überhaupt erleben kann! - klar wird, was vorher nie klar war: dass es keine sichere Bindung und keine sichere Verbindung zur Familie gibt: Man ist alleine, wie man es immer schon war. Und man hat Schmerzen, wie man sie (als junge Frau!) noch nie gehabt hat. Und just in diesem Moment soll man plötzlich der glücklichste Mensch auf Erden sein. Und wieder wird man nicht gesehen, denn alle sehen nur das Glück, den Stolz, die Zukunft in Rosa und Himmelblau. Und wieder kann man es sich nicht erlauben, man selbst zu sein, denn damit würde man alles zerstören: das bedürftige Kind, den verwirrten Partner, die stolzen Großeltern.

Ich habe das für mich gelöst, indem ich alles, was meines war oder hätte werden können, ausradiert habe. Wie ich das immer schon gemacht habe. Es hat dann, nach der Geburt des ersten Kindes, weitere 14 Jahre gedauert, bis ich mir Gedanken darüber gemacht habe, das ändern zu wollen. Und weitere vier Jahre später bin ich kurz davor, aber gleichzeitig noch ziemlich weit entfernt davon.

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leberblümchen
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Beitrag So., 13.12.2015, 10:05

Und trotzdem empfinde ich es nicht als Verrat, während der Geburten meiner Kinder alleine gewesen zu sein. Mein Mann war da, aber er war nicht da. Das war noch schlimmer, als wenn er auch physisch nicht da gewesen wäre. Ich glaube, das war das schlimmste Erlebnis unserer Beziehung (und ich kann ihm da nichts vorwerfen, denn er hat nichts falsch gemacht, weil er es sowieso nicht besser gekonnt hätte): zu sehen, dass der Andere da ist und so was von überhaupt nicht teilnimmt am eigenen Erleben. Und am Ende sieht es so aus - und es sieht IMMER so aus -, als seien sie alle da gewesen: die Mutter, der Partner, die Freunde. Alle scheinen immer irgendwie da gewesen zu sein, denn immerhin hat man sie ja gesehen und anerkennend ihre Anwesenheit notiert. Aber wie es wirklich ist, wenn der Andere nur vorgibt, da zu sein, das hat niemand bemerkt.


Landkärtchen
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Beitrag So., 13.12.2015, 18:09

Leberblümchen, ich kann das so gut nachvollziehen. Das es besser wäre jemand ist erst gar nicht da, als da zu sein ohne innere Beteiligung.

Das Schlimme während der gesamten Geburt war, dass ich mich und mein Verhalten nicht verstand / verstehen konnte. Innerlich völlig erstarrt nahm ich die Wehen und Schmerzen wahr. Hinzu kam, dass zwar Bilder und Gefühle von denen als Kind erfahrenen sexuellen Übergriffen während des Geburtsvorgangs zum ersten Mal auftauchten, aber diese auch noch überlagert wurden durch einen anderen sexuellen Übergriff als Jugendliche von dem ich jedoch zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts wusste. Mein inneres Chaos war perfekt. Ich war während des Geburtsvorgangs so damit beschäftigt die Erinnerungen an die kindlichen Übergriffe wegzudrücken, und den jugendlichen überhaupt erst gar nicht aufkommen zu lassen, dass ich mich völlig entfremdet von mir und der Geburt fühlte.

Ja, ich fühlte mich in und nach der Geburt nicht gesehen. Weder von Freundinnen und Verwandte die mich besuchten noch von der Hebamme die regelmäßig nach mir schaute. Wenn ich ihnen noch Monate später mitteilte, dass ich jeden Tag die Geburt mit ihren Schmerzen wieder erlebe wurde mir gesagt, dass das vergehen wird und das ich mich freuen soll ein gesundes Kind und einen fürsorglichen Partner an meiner Seite zu haben. Als ich nach der Geburt deutlich sagte, dass ich nie wieder schwanger werden möchte nahm dies keiner ernst. Als ich nach etwa vier Monaten Pause wieder zum damals noch nicht übergriffigen Therapeuten ging, konnte der mit meinen Worten und Schilderungen nichts anfangen. Viele rieten mir sogar rasch wieder schwanger zu werden, um die unangenehme Erfahrung zu relativieren.
Von da an verkapselte ich meine Erfahrungen und beendete innerlich die Beziehung. Mein innerer Schwerpunkt war nun mein Kind in seiner Entwicklung zu begleiten und paralell mein Studium zu beenden. Wohl wissend das da zwar einer mit an "meiner Seite" ist, aber trotz seines Daseins in jeglicher Hinsicht nicht da ist. Ich brauchte sehr lange bis ich das fühlen und verstehen konnte.

Als ich etwa zehn Jahre später die schwierige und schmerzhaft verlaufende Geburt bei der TfP – Therapeutin wieder ansprach, sagte diese das es gar nicht notwendig wäre sich diese genauer anzusehen, weil dies zu einer Retraumatisierung führen kann. Stattdessen sollte ich mir die ideale Geburt vorstellen. Das tat ich, weil ich damals dachte das dann endlich Ruhe in meinem Erinnerungschaos eintritt. Doch dem war nicht so. Wie denn auch …

Danke für deine Gedanken und dem Mitteilen deiner eigenen Erfahrungen.

LG-Landkärtchen

P.S. "Ich habe das für mich gelöst, indem ich alles, was meines war oder hätte werden können, ausradiert habe." Was hätte deins werden können?
Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren?

Vincent van Gogh


leberblümchen
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Beitrag So., 13.12.2015, 19:32

Das Meine ist etwas ganz Konkretes: Wir sind damals wenige Wochen nach der Geburt in ein anderes BL gezogen - in ein schwarz-braunes Dorf im ansonsten schönen Baden. Es gab einen Teil in mir, der genau wusste, dass das falsch war. Ich hab meine geliebte Wohnung, meine Heimat und mein Studium aufgegeben; ich hab zugesehen, wie die Umzugsfirma meinem Baby und mir das Bett unterm Hintern weggerissen hat. Es schien damals alles so logisch: macht man doch so, dass man dem Mann folgt. Ich war dann da völlig entwurzelt, während mein Mann sich amüsiert hat wie Bolle. Also, ich kann das eigentlich niemandem außer mir selbst vorwerfen, dass ich nicht auf mich selbst gehört habe. Ich hab mich und meine Ängste und Sorgen komplett geleugnet, so gut es ging. Ich hab mich auf alle möglichen Krankheiten konzentriert; etwas anderes hatte ich nicht mehr. Kein Vergleich mit meinem Zustand vor der Geburt.

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Landkärtchen
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Beitrag So., 13.12.2015, 19:53

Ich finde dieses "auf sich selber hören" aber auch verdammt schwierig insbesondere dann wenn man das erste Mal Mutter geworden ist. In dieser Lebensphase ist so viel neu und kann verunsichern. Aus dem tiefen Wunsch heraus eine "heile Familie" aufbauen zu wollen werden womöglich Kompromisse getan die sich nicht wirklich für einen stimmig anfühlen.
Doch wenn ich mich recht erinnere hast du trotzdem recht schnell den Absprung geschafft, oder?
Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren?

Vincent van Gogh

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blade
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Beitrag Mo., 14.12.2015, 08:29

Demut ist für mich: Hingebung und zwar freiwillig.
Hingebung an das, was die oberste Priorität hat.
Es umfasst dienen, lieben, schützen, verehren,...vmtl. noch mehr, vmtl. alles wozu man im Stande ist.

aber es ist wie gesagt freiwillig

wenn es das nicht ist, oder gar erzwungen/verordnet/erpresst werden soll
dann ist das Verrat
und demütigend

Demut ist keinesfalls Unterwerfung
Unterwerfung ist gar der Feind der Demut, denn der Wille zur Demut zeichnet diese aus.

Verrat erschüttert das Vertrauen.
Ohne Vertrauen keine Demut.


Vertrauen kann nicht immer beschützt/erhalten werden. Eigentlich geht es fast immer verloren in dieser Welt.
Als "braucht" man etwas Höheres als diese Welt, wozu man wieder Vertrauen fassen kann, eine Idee.
Dann schützt einen die Demut.


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