Keine Diagnostik / Behandlung trotz Betreuung

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hawi
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Beitrag So., 12.02.2012, 10:57

Hallo Lilly,

schwer darauf überhaupt noch was zu schreiben.

Ich versuchs mal mit ein wenig „Weltbild“ von mir, jemandem, der sich für ziemlich rational hält, der sich ganz überwiegend so seine „Weltsicht“ zurecht zimmert.

Spätestens seit Einstein ist bekannt, dass unsere Welt, deine, meine, die menschliche, die anderer Lebewesen, dass diese Sichten alle lediglich etwas relativ sind, jeweilige Sichten, individuelles Erfassen, Verarbeiten.
Zwar gibt es die Erde, Welt, gibt es Geschehnisse, aber (bislang) nichts, das zu EINER Realität führt.
So ist für einen Menschen Gegenwart, wenn sie bei ihm angekommen ist, schon Vergangenheit. Wie sieht Welt aus, wie fühlt Welt sich an, wie hört sie sich an, wie riecht sie? Zum einen individuell verschieden, aber sogar diese Dimensionen der Wahrnehmung, womöglich gibt es diverse andere Möglichkeiten, wahrzunehmen?
Oder unsere Wahrnehmung ist ….?….. womöglich zählt all das nur, weil Mensch halt so wahrnimmt, allein für sich, aber auch um sich mit anderen drüber auszutauschen.
Doch sogar schon dieser Austausch? Genau genommen macht Mensch es sich immer auch selbst passend. Ist sich einig, dass z.B. die Farbe gelb gelb ist. Nur - weil Augen schon nicht genormt sind und auch alles andere nicht, das uns gelb als Farbe denken lässt, fühlen lässt, sind es am Ende individuelle Gelbwelten, die sich oft wohl ähneln, aber nie die selben sind.
Immer dann, wenn wir versuchen, diese Relativität zu sehr zu leugnen, Begrenztheiten zu missachten, wenn unser Maß uns verleitet, alles damit erklären zu wollen, zu können, etwas finden zu können, wahre, richtige Antworten, ich finde, dann täuschen wir uns, machen es verkehrt, weils entweder überhaupt nicht geht, also auf etwas tatsächlich unmögliches hinausläuft oder weil es zumindest zur Zeit menschlich nicht geht, wir momentan oder nie als Menschen dazu fähig sind.

Schon deshalb will ich lieber nicht für mehr sprechen als nur für mich selbst.
Und ich weiß für mich, ich habe eindeutig diese Begrenztheit. Sogar wenn ich alles wüsste, ich käme mit diesem Wissen immer irgendwann an meine Denkgrenze, Vorstellungsgrenze. Zu etwas, wo z.B. auch die kleinste Erkenntnis Unmengen an neuen Fragen aufwirft, oder Erkenntnisse anfangen sich aufzulösen, aufzuheben, nach und nach immer undeutlicher zu werden.
Spätestens da muss ich aufpassen. Gehe ich über diese Denkgrenze, verliere ich den eigenen Halt. Stehe im Nichts oder falle in eine Dimension, die sich zumindest für mich wie „nichts“ anfühlt.
Keine Ahnung wer was wie erklärt, erklären kann, mit Sicht auf deine Freundin.
Immer wird es begrenzt sein. Relativ. Wenn ja eigentlich schon jeder sich selbst nicht zu 100% erklären kann, ich finde, dann kann er es bei anderen noch weniger.
Etwas annehmen, ein wenig versuchen, dein Freundin, so wie sie jetzt ist, zu erklären, zu verstehen, das geht wohl, und muss, soweit es denn geht, auch sein.
Aber zu tief, zu weit, zu umfassend? Lieber nicht! Lieber einfach dort, wo hinterfragte Unklarheit nur weitere Unklarheiten bringt, es lassen, lieber dann irgendwann wieder vereinfachen, relative eigene Klarheit finden, eigene „relative“ Sicherheit.

Mehr geht halt nicht.

LG hawi
„Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, daß die Dummen todsicher
und die Intelligenten voller Zweifel sind.“
Bertrand Russell

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hawi
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Beitrag So., 12.02.2012, 11:50

Lilly111 hat geschrieben:
Scheinbar Offenheit selbst umso besser kann, je eher ich andere als unoffen erlebe.
Warum glaubst du ist das so?
Vllt. als Ausgleich? Wenn der andere sich nicht öffnen kann, dann tust du es für ihn? Stellvertretend? Oder zum "Mut machen", es dir nach zu tun?
Oh je, da fragst du was.

Wie üblich, ich denk es ist ne Mischung aus mehreren Sachen, gibt da nicht nur eine Ursache und es ist ja auch ziemlich viel Selbstsicht, sprich, andere sehen es womöglich gar nicht so.

Zum warum:
Mir ist einiges wohl vorgelebt worden von meinen Eltern. Offenheit von meiner Mutter, Unoffenheit auf eine spezielle Art von meinem Vater. Auch der Umgang der Offenheit mit der Unoffenheit und umgekehrt. Nen Teil hab ich so dann wohl übernommen, mir angeeignet. Es für mich wohl auch weiterentwickelt.
Aber was tue ich dann? Wohl schon recht verschieden. Mit guten Beispiel vorangehen?
Auf jeden Fall greif ich Unoffenheit selten ganz direkt an, wenn ich spüre, bemerke, dann belasse ich denjenigen erst mal so, wie er ist. Reagiere aber halt selbst dann offen, öffne mich mehr. Bin offener als sonst . Kann dann schon frappieren, situationsbezogen halt für mehr Offenheit sorgen, für weniger Distanz.

Dann wohl auch noch, dass meine eigene Verschlossenheit mir eher bewusst wird, wenn ich sie bei anderen erlebe. Dann seh ich sie, sind halt andere der Spiegel. Und wenn es mir bewusst, bewusster wird, dann steuere ich gegen, dann werde ich selbst offener, zumal ich ja schon meine, dass Offenheit positiv wirken kann, meist mehr bringt, als Verschlossenheit und mich auch nicht für völlig unfähig zur Offenheit halte.

So wie du es schreibst? Meist eher nicht. Ich versuch mit Offenheit sicherlich oft was zu erreichen, aber von mir ist Offenheit mal ein Angebot an andere, es auch zu sein, mal auch was, um die Atmosphäre zu ändern, dort mehr Nähe, individuell persönliche, reinzukriegen wo manchmal halt keine, oder zu wenig ist. Aber ich tu da nichts für andere, versuch vorrangig nicht die Unoffenen selbst zu ändern. Das eher nicht.
Ich ändere mich, biete quasi mehr Offenheit an oder versuch sie selbst zu schaffen.
Durchaus wohl erst mal auch, weil ich es, wenn ich beteiligt bin, selbst für nützlich halte, meine, es hat Vorteile für alle.
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Lilly111
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Beitrag So., 12.02.2012, 21:35

Hallo hawi !

Ich versuche es heute mit Humor, ok?

a1) Ich denke zu viel.
a2) Ich frage zu viel.

Richtig?

Zu meinem letzten Post..., ja, ist schwer. Es sind Gedanken, vllt. zu viele, das mag sein.
Du hast das schön beschrieben mit den sich auflösenden Erkenntnissen. So ähnlich empfinde ich das auch. Es ist scheinbar unlogisch. Man glaubt, je mehr man weiß, desto schlauer müsste man sein, desto einfacher wird es. Stimmt nicht immer. Manchmal wird es komplizierter, irgendwie unfassbarer, im wahrsten Wortsinn.
Die Schlußfolgerung wäre, Dinge nicht zu sehr zu hinterfragen, auch einfach mal anzunehmen, das Einfache anzunehmen und damit zu "arbeiten".
Was das praktisch heißt, wie ich es umsetze, darüber denke ich nochmal nach.

Offenheit...
Wie habe ich das zu Hause vorgelebt bekommen? Wohl ähnlich, Vater eher verschlossen, Mutter relativ offen. Wobei das bei ihr sehr differenziert, irgendwie themenbezogen ist. Es gibt Dinge, über die spricht man nicht (die Gründe dafür sind vielfältig) und dann gibt es Themen, da denke ich manchmal 'hola, also das hättest du Mama jetzt nicht zugetraut'. Immer für eine Überraschung gut.

Ja..., ich muss gerade ein bisschen schmunzeln. Wenn du durch deine eigene Offenheit versuchst die Gesprächsatmosphäre zu ändern, dann ist das eine Form der Manipulation. Im absolut positven Sinne! Das Schöne ist, dass es meistens auch erfolgreich ist. Vllt. weil sich (fast) jeder im Grunde nach Offenheit sehnt, sich dabei mitunter aber selbst im Wege steht.

War ein langer Tag heute....
Mal schauen wie sich alles entwickelt.


Lilly
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hawi
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Beitrag Mo., 13.02.2012, 10:25

Hallo Lilly!

Ich denke, also bin ich; ich bin, also denke ich.
So in etwa ticke ich. Wenn Denken ne Sucht wäre, dann wäre ich mindestens so was wie ein Gewohnheitsdenker, so ganz ohne oder auch nur mal wenig denken, geht bei mir kaum. Ob ichs lernen könnte?

Schon deshalb geht mit mir nicht, anderen das Denken vorzuwerfen, ihnen ein zu viel an Denken vorzuwerfen. Nee, aber auch zum Denken lässt sich halt viel Denken, bzw. lassen sich Erfahrungen sammeln, lässt sich aus wissenschaftlichen Studien oder eigener Feldforschung was lernen. Und deshalb, ich glaub, viel, detailliert zu einem Thema gedacht, sehr breit, tief, intensiv nachgedacht, führt fast immer zu dem, was ich beschrieb. Es scheint immer eine Grenze zu geben, ab der Denken nur noch zu der Erkenntnis führt, dass entweder Mensch blöd und dumm und begrenzt und und und ist, und/oder dass hinterfragte menschliche Erkenntnis am Ende zu einer Leinwand wird, auf das sich alles malen lässt, wo vorher vermeintlich noch eine gewisse Vorgabe da war, zumindest da zu sein schien.
Ob das da rein passt weiß ich nicht, aber selbst quer gedacht, nehm ich als Beweis dafür Untersuchungen zu Entscheidungen im Konsumbereich. Z.B. neue Tapeten, Neugestaltung eines Zimmers. Ich weiß es selbst von mir, habs aber auch schon gelesen, dass Mensch da nur begrenzt aufnahmefähig ist, bzw. sich zwar zwischen einer begrenzten Anzahl von Alternativen entscheiden kann, aber bei zu vielen überhaupt nicht mehr fähig ist, zu wählen. So in etwa stell ichs mir für alles vor. Und empfinde es auch so. Denken als Irrgarten, als etwas, dem jede Richtung fehlt, wenn zu weit, zu tief gedacht wird.
Schutz dagegen? Immer häufiger merke ich an mir, dass ich ganz schnell an der Denkgrenze des Beliebigen lande, mir schnell mal beginne, meine eigenen Überzeugungen wegzudenken, oder so komplex zu denken, dass weder ich noch andere dann durchsteigen. Noch hab ich selber nicht gelernt, mit dieser Grundlage richtig umzugehen, einerseits Grundakzeptanz dafür zu haben, dass menschlich erst mal alles denkbar ist, soweit, dass es fast kein wirkliches richtig oder falsch mehr gibt, andererseits aber grad deshalb selbst für mich zu entscheiden und dies auch zu vertreten.

Vor dem Hintergrund: Jepp, ich manipuliere andere mit meiner Offenheit und nicht nur damit. Machen wir, wie ich finde, meine, denke, alle ständig.
Dies ein kleines Beispiel dafür, wie gemein Denken sein kann. Manipulieren! Ungedacht weist es jeder von sich, sogar nicht allzu weit und allzu tief gedacht.
Aber eigentlich……?
Wie bewusst oder unbewusst, ich krieg das selbst oft gar nicht auseinander gedacht, aber eigene Offenheit manipuliert andere, sie wirkt auf andere, bewirkt eine Reaktion der anderen. Gilt so gesehen jedoch auch für die Unoffenheit. Z.B. mich scheint sie ja in Richtung Offenheit zu „manipulieren“.

So, mal sehen was diese Manipulation von mir bei dir bewirkt, wie du zurück manipulierst. Aber auch bezogen auf dein Thema, auch da beeinflussen halt alle Beteiligten einander, ob sie das nun grad wollen oder nicht.

LG hawi
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Lilly111
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Beitrag Mo., 13.02.2012, 12:31

Hallo hawi !

Ich stelle für mich fest.... Ich denke manchmal oder oft zu viel. Zu wenig passiert eher selten bis gar nicht. Aber wenig schon. Das geht, auch ganz bewußt. Bspw. wenn ich in den Urlaub fliege, im Moment ready for take off, zurück denken (hast du auch die Fenster zugemacht etc.) ist sinnlos, der Pilot wird für mich nicht umkehren. Vorwärts denken, was mich am Urlaubsziel erwartet ist genauso sinnlos, die Entscheidung wohin ist gefallen, das Hotel gebucht, also überraschen lassen. Bliebe noch die unmittelbare Gegenwart, was gibt es zu essen, hoffentlich ist der Film gut. Das ist unwichtig. Also den Kopf abschalten, den Start, die Wolken auf mich wirken lassen und gar nichts denken. In solchen Situationen geht das ganz gut. Das ist (für mich) auch eine Art mich fallen zu lassen, mich auf den Moment einzulassen. Vllt., nur so ein Gedanke...., hat denken, verstehen wollen auch was mit (vermeintlicher) Kontrolle zu tun. Wer nicht denkt, kann nicht korrigierend eingreifen. (Der Gedanke wird schon wieder unklar...)

Mit den Tapeten stimmt hundertprozentig. Mein "Schlüsselerlebnis" diesbezüglich war, als ich das erste Mal in einer Douglasfiliale stand. Wer soll sich da entscheiden? Das geht doch gar nicht! Und tatsächlich verabschiedet sich der Geruchssinn nach der fünften oder sechsten Probe, ist schlicht überfordert, Mensch ist nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, zu entscheiden. Man kann also nur Vorentscheidungen treffen (soll blumig sein, ein hübscher Flacon o.ä.). Im Osten war das wesentlich einfacher. 'Kaufen se oder kaufen se nicht?' Möglichkeit A oder B, fertig. Ich erlebe diese ständig notwendigen Entscheidungen im Konsumbereich tatsächlich als anstrengend und unnötig zeitraubend. So weit möglich, vermeide ich es. Damit der Kopf für andere Dinge frei ist? Vllt. ja.

Wie schaffst du es dir deine eigenen Überzeugungen wegzudenken? Das würde mich verunsichern. Hat nicht jeder für sich so ein paar Grundpfeiler seiner Realität (wie stimmig oder richtig diese ist, ist eine andere Frage). Wenn die Pfeiler wackeln oder weggedacht sind, dann ist es wie im luftleeren Raum, ohne jeden Halt. Bestimmte Grundannahmen sollte man vllt. besser nicht in Frage stellen? Aber das kommt einem selbst auferlegtem Denkverbot gleich. Auch nicht gut. Wieder eine gedankliche Sackgasse.

Mit Offenheit kann man tatsächlich manipulieren. Ich erlebe das seit einiger Zeit in meinem Umfeld. Da gibt es jemanden, der normalerweise sehr verschlossen ist, wenig von sich preisgibt. Das ist akzeptiert und wirkt sich auch nicht störend auf den Umgang miteinander aus. Nur manchmal, völlig unvorhergesehen, sind alle Vorhänge weggezogen. Das ist dann für mich jedes Mal so überraschend, teils schon schockierend. Weil auch kein Anlass oder Grund erkennbar ist. Und ja, ich fühle mich in solchen Momenten eindeutig manipuliert. Offenheit kann auch verunsichern. Der andere ist gezwungen mit den Informationen umzugehen, in welcher Form auch immer.

Kurz zurück zum Thema... Das oder ein Problem daran ist eben, dass andere in meinem Umfeld eher denkfaul sind (vllt. zu hart ausgedrückt, aber ich empfinde es so) und sich so gesehen auch gern von meiner Meinung beeinflussen, manipulieren lassen. Das hat für sie den Vorteil, dass sie sich nur einer bestehenden Meinung (meiner) anzuschließen brauchen, also nicht selbst denken müssen, nicht selbst Verantwortung übernehmen müssen. Und ich versuche dann vllt. unbewußt für andere gleich noch mit zu denken. Das ist zu viel.

Was deine Manipulation bei mir bewirkt? Denken! ^^

Lilly
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Beitrag Mo., 13.02.2012, 14:43

Den Flugzeugstart noch einen Gedanken weiter gedacht...
Wenn das Denken in den Hintergrund tritt, ist automatisch das Fühlen im Vordergrund. Und umgekehrt. Ist das so? Ich glaube ja.
Dieser Mechanismus wirkt, denke ich, auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Im Gespräch steht die verbale Botschaft im Vordergrund. Beide konzentrieren sich zuerst auf das gesprochene Wort, Emotionen aller Art kommen an zweiter Stelle. Im Schweigen, also wirklichem Schweigen, auch keine eigenen unausgesprochenen Gedanken, tritt die nonverbale Botschaft des anderen in den Vordergrund. Ich denke, den Zustand kann man auch ganz bewußt herbeiführen. Den anderen nur auf sich wirken lassen, ohne zu denken (könnte ja mal wieder zum Frisör gehen oder das Hemd steht ihm) - da werden die Emotionen angesprochen.

Umgekehrt, in sehr emotionalen Situationen (Trauer, Wut, Freude usw.) ist das Denken stark eingeschränkt. Beides auf gleich hohem Level scheint irgendwie unmöglich. Da stößt Mensch an seine Grenzen. Die empfinde ich in dem Punkt aber als sehr sinnvoll, positiv.

Also Kopf aus, Gefühl an. Und umgekehrt. Ist das wirklich so einfach?
Was meinst du, hawi?

Lilly
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hawi
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Beitrag Mo., 13.02.2012, 17:05

Hallo Lilly!

Zwar hab ich das, was du grad schreibst, erfasst, aber….

Möglich, dass ich noch wieder drauf zurück komme.
Jetzt grad? Denkfaulheit? Oder?

Führt mich jedenfalls gedanklich sehr weit von dem weg, was noch so grad zum Thread passt. Und ist - meiner Meinung nach - ganz schön facettenreich.

Deshalb: Nee, ist so einfach, kurz, knapp, prägnant, wie du es grad formulierst, nicht, nicht immer.

Kommunikation, Verständigung einerseits und auch pro Individuum das Denken, Fühlen und und und
Beides für sich komplex, vielschichtig und sehr variantenreich, zusammen genommen, - ganz schön viel Denkstoff.

Klar lässt sich ab und an annehmen, die Emotionen seien ausgeschaltet und nur die Ratio, nur emotionsloses Denken fände statt. In der Realität passiert so was jedoch wohl kaum bis nie. Und würde es passieren, würd ich so einen Menschen ganz schnell zum arzt schicken, mit dm stimmt dann was nicht.
Es läuft also „leider“ fast alles parallel, gleichzeitig, und nicht nur das, es gibt auch Zusammenspiel. Heute fällt mir zu diesem Thema gleich ein ganzer wissenschaftszweig ein: Neurowissenschaften, Hirnforschung. Und sogar diese Wissenschaft ist allein wohl nicht ausreichend für das, was deine Frage beantworten könnte.
Spannend, wie ich finde, bereits jetzt so manche Annahme berühmter Philosophen wenigstens zum Teil widerlegend, aber grad da, Mensch weiß eher wenig.
Auch zu Ratio und Emotion und deren Zusammenspiel. Weiß heute womöglich grad man, wo was beim Menschen im Gehirn angesiedelt ist, aber trotz all des Wissens, noch ist das eher wenig.
Eigentlich ist deine Freundin dafür ja durchaus ein Beispiel. Ärzte können womöglich orten, definieren, was wo nicht mehr so funktioniert, wie es sollte. Aber!!! Emotion + Ratio? Dass es nicht hinhaut, das sieht, merkt wohl jeder, aber schon die Beschreibung, wie es grad suboptimal funktioniert, schon die wird eher dürftig sein, wird wohl zu Teilen nichts anderes sein, als der Abgleich mit menschlich üblichem.

Und wenn du zum Frisör gehst? Wenn du es automatisch in neu festen Rhythmus tust, dann ist es womöglich etwas, bei dem gar nicht viel Ratio oder Emotion, bei dem noch nicht mal viel Wille vorhanden ist. Du tust es einfach, hast es dir so beigebracht und den Rest machst du quasi automatisch. Wie laufen, hinsetzen, aufstehen, etc., wird alles von dir gesteuert aber großteils emotionslos, ohne drüber nachzudenken, ohne so recht das, was wir Willen nennen. Geht dir aber vor dem Gang zum Frisör mehr durch den Kopf, wird sich Emotion und Ratio wohl mischen. Eher rational wärs, wenn du einfach Maß nimmst, feststellst, Die Haarlänge überschreitet das zulässige Maß, oder die Haartönung passt nicht mehr zu deiner Norm oder oder oder. Eher emotional wärs, wenn du dich belohnen (oder bestrafen) willst, oder jemandem mit schönen Haaren nacheiferst und deshalb über den Frisör nachdenkst, wobei das nachdenken selbst schon wieder der rationale Anteil wäre. Der könnte dich auch nachdenken lassen, ob Gänge zum Frisör überhaupt rational begründbar sind. Fände dies Nachdenken aber nach dem Motto „hat ja doch alles keinen Sinn“ statt, dann würde diese Ratio wohl von negativen Emotionen getrieben, worüber sich rational nachdenken ließe.

Nette Spielchen. Oft auch welche, die ich an mir schon für nen Luxus halte, den ich mir halt leiste. Erkenntnisse daraus? Oft kaum. Jedenfalls nicht so, dass sich groß was durch diese Erkenntnis ändert. Wie ohnehin Erkenntnisse eigenem Tun, Verhalten etc. zwar ne andere Qualität geben, halt mehr eigenes Bewusstsein, aber in vielen Fällen geht es ohne das Bewusstsein auch, manchmal wohl sogar einfacher. Wer alle paar Wochen ohne drüber nachzudenken zum Frisör geht, sieht nicht schlechter aus, kriegt keinen mieseren Haarschnitt, als der, der diesen Gang zunächst bewusst durchdenkt oder emotional begründet hingeht.
Und finge er an, ob seines Denkens dem Frisör seine Gedankenwelten zu offenbaren, womöglich mit kritischen Gedanken zum Frisieren an sich, spätestens dann könnte das Denken auch nach hinten los gehen, sich als lebenserschwerend erweisen.

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Lilly111
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Beitrag Mo., 13.02.2012, 20:44

Hallo hawi !

Ich bin immer noch ganz betüttelt. Ohne einen Tropfen Alkohol.
Allein vom Lesen deiner Ausführungen über den Besuch eines Frisörs.

Da schreibst du was Wahres. Ohne viel Denken, also ohne ein etwas mehr an Bewusstsein, ist manches wohl tatsächlich einfacher. Ich stehe manchmal staunend davor, wie unbedarft andere Menschen an bestimmte Dinge rangehen. Scheinbar ohne nachzudenken, oder zumindestens nicht allzu viel. Aber deswegen ist das Ergebnis nicht zwangsläufig schlechter.
Vllt. kann man da ein Lebensmotto draus machen... learning by doing, without thinking.

Perspektivwechsel...
These: mit dem ganzen Denken, was wir uns jeden Tag selbst und anderen antun, beschränken wir uns gleichzeitig auch wieder.
Scheinbar, oder oft tatsächlich, denkt man über Grenzen hinaus, überwindet alte Vorstellungen, öffnet sich neuer Sichtweisen, und hat dennoch immer sowas wie einen inneren Wächter(?) in sich. Kinder haben den noch nicht und denken daher wirklich frei. Dazu kann ich eine Geschichte erzählen. Ich sitze in Hamburg im Bus, mir gegenüber eine Mutter mit ihrer vllt. 3-jährigen Tochter. Am Himmel ein Flugzeug. Die Mutter zeigt der Kleinen das Flugzeug und fragt sie, was sie meint, wo das Flugzeug hinfliegt. Nach Hamburg! Wie aus der Pistole geschossen. Mutter guckt irritiert, ja wir sind doch aber in Hamburg. Die Kleine wiederholt im Brustton der Überzeugung: nach Hamburg. Völlig klar, Zweifel ausgeschlossen. Ich fand das so faszinierend. Ein Erwachsener würde niemals auf die Idee kommen, eben niemals denken, das Flugzeug könnte nach Hamburg fliegen. Was es zu 99,999% Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich nicht tat, aber kein zufälliger Betrachter kann es wissen. Wir (Erwachsenen) schließen es dennoch aus unseren Überlegungen aus. Es ist gewissermaßen eine selbst verordnete Denkblockade. Oder eine Beschränkung. Die oft wahrscheinlich richtig und sinnvoll ist (sonst wird man gar nicht mehr fertig mit denken), aber vllt. auch nicht immer. Dieses kindliche, wirklich freie, Denken bekommen wir als Erwachsene nie wieder. Da können wir noch so viel denken. Oder anders, selbst wenn man ob morgen gar nicht mehr denken würde, das bis heute Gedachte bleibt erhalten. Was natürlich ganz überwiegend gut und lebensnotwendig ist.

....

Lilly
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Beitrag Di., 14.02.2012, 02:10

Neurowissenschaften….
Auf meine Freundin bezogen ein paar gewagte Gedanken, Gedankenspiele, ohne Beschränkungen, ohne ethische Wertungen, ohne erhobenen Zeigefinger. Nur Gedanken.

Sicher ist, dass der Schlaganfall (und vllt. auch schon Ereignisse davor) einiges im Denken und Fühlen meiner Freundin durcheinander gewirbelt hat. Zum Teil ist das mit EEG und anderen Untersuchungsmethoden sichtbar zu machen. Zu einem anderen Teil ist es im wörtlichen Sinne unübersehbar, leider. Das Denken und Fühlen ist eingeschränkt. Sicherlich auch die eigene Entscheidungsfähigkeit. Und damit ist die Aussage "Recht auf Krankheit" für mich nur noch begrenzt richtig. Ich unterstelle mal, dass meine Freundin eben nicht im vollen Bewusstsein und gern krank bleibt und sich deshalb nicht operieren lässt. Es ist richtig, dass sie die OP verweigert. Aber muss man nicht fragen, aus welchen Gründen? Weil sie wirklich krank sein will? Oder weil sie Bedenken vor der OP hat? Das Ergebnis ist das Gleiche. Die Motivation ist aber eine grundlegend andere. Sollte sich dann nicht auch das Handeln unterscheiden?

Mal angenommen....
Meine Freundin hat "nur" vor der OP Bedenken, aber möchte eigentlich schon gesund sein. Heißt, wenn es eine Möglichkeit ohne OP gäbe, würde sie dem zustimmen. Wäre es dann nicht richtig, sie praktisch zur OP zu zwingen? Weil letztlich das Ergebnis das von ihr gewünschte, und nur der Weg dahin von ihrem Wunsch abweichend ist? Scheinbar ist die OP angstbesetzt. Diese Ängste könnte man ihr (medikamentös) nehmen. Ist das wirklich so falsch?

Mir schwirrt in dem Zusammenhang seit Tagen ein Wort durch den Kopf: human !

Gedankensprung, vllt. ein etwas heftiger…
Als vor zwei Jahren der hier schon erwähnte Freund starb, war das Thema Sterbehilfe und die Frage wie wollen / müssen wir sterben in den Medien sehr präsent. Anlass war das Buch von Michael de Ridder „Wie wollen wir sterben“. De Ridder ist Leiter der Rettungsstelle am Urbankrankenhaus Berlin und setzt sich für ein humanes Sterben ein. Ganz oben an steht der Wille des Patienten. Keine lebensverlängernden Maßnahmen, wo es praktisch kein Leben mehr gibt. Stattdessen aber ein würdevolles, humanes Sterben, ohne unnötiges Leid und Schmerzen. Heftig umstritten, gerade auch in der Ärzteschaft, ist sein Einsatz für den ärztlich assistierten Suizid. Da überschreitet de Ridder heute geltende Grenzen. Im Sinne und zum Wohle der Patienten. Noch vor zehn Jahren hätte mein Freund unter ganz schrecklichen Umständen sterben müssen. Ein langsamer, qualvoller Erstickungstod ist wohl die so ziemlich schlimmste Art zu sterben. Aber er war in seinen letzten Stunden nicht mehr bei Bewusstsein. Dank humaner Ärzte.

Ist es nicht auch ein Akt der Humanität eine OP durchzuführen, die letztlich zu einem gesünderen und längerem Leben führt? Man nimmt wissentlich zukünftige Komplikationen und Schmerzen in Kauf, weil es ein Nein zur OP gibt.
Die Frage ist falsch gestellt. Sie müsste lauten: Möchten Sie krank sein und früher sterben?
Antwort offen. Vermutet ebenfalls Nein. Was ein anderes Handeln nach sich ziehen würde.

Lilly
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hawi
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Beitrag Di., 14.02.2012, 08:42

Hallo Lilly!

Human?!
Du, ich, die meisten anderen, einigermaßen einig sind wir uns wohl, wenn es dabei um den humanen Umgang mit Kranken, Pflegebedürftigen geht, es darum geht, ihnen die Situation in der sie sich befinden, so erträglich wie möglich zu machen und natürlich sie als Person ernst zu nehmen, zu respektieren.
Wie weit das im einzelnen gelingt, ist zwar immer mal wieder fraglich, aber immerhin.
Du schreibst zu deinem Freund. Ich hab es in den 80ern ähnlich bei meinem Vater erlebt. Ist heute womöglich besser, aber damals empfand ich sein Sterben „unnötig“ qualvoll, weil aus meiner Sicht ihm seine Schmerzen zu wenig genommen wurden.
Was gemacht wurde, wirkte oft nicht und was wohl geholfen hätte, durfte zu wenig sein, weil es zwar schmerzlindernd aber auch lebensverkürzend gewirkt hätte. Das ist wohl heute noch eine Grenze, aber ich hoffe, nicht mehr so strikt, so „inhuman“ wie damals.

Dort aber eine Grenze, mit der sich kaum problemlos umgehen lässt. Sterben, sterben lassen. Egal wie damit umgegangen wird, es wird kaum eine ideale Umgangsform dazu geben, wird immer ein „Kompromiss“ sein.

Ähnlich empfinde ich es bezüglich der möglichen OP deiner Freundin.
Erster wesentlicher Punkt: Das Operationsrisiko!
Du siehst, empfindest, dass das Abwarten, das Nichtoperieren das OP Risiko vergrößert.
Das mag so sein. Aber soweit ichs bei dir lese, mir auch selbst zusammenreime, ist das Risiko bereits jetzt beachtlich. Eine OP könnte damit (in Anlehnung deiner Worte) human sein, lebensverbessernd, lebensverlängernd wirken, sich könnte aber auch genau das Gegenteil erreichen, lebensverschlechternd, lebensverkürzend wirken. Dann wäre die OP im nachhinein betrachtet wohl kaum human, auch grad deshalb nicht, weil im Moment ja die Situation deiner Freundin zwar nicht gut, aber eben auch nicht so ist, wie z.B. die, in der sich dein Freund befand, mein Vater befand.
Ratio/Emotion! Ich neige dazu, in so einer Situation Emotionen zwar sehr zu beachten, aber sie auch sehr rational zu hinterfragen, zu kontrollieren, vor allem nicht sofort dem zu folgen, was emotional scheinbar nahe liegend ist.
Wohl auch nach den Erlebnissen mit meiner Mutter, ich habe heute viel mehr Respekt als früher vor denen, die professionell mit so etwas umgehen, die mit solchen Situationen einfach mehr Erfahrung als z.B. ich haben. Ne harte Lehre, aber es gibt schon oft gute Gründe, Patienten scheinbar „inhuman“ zu behandeln.
Passt jetzt sicher nicht zu deinem Fall, aber sehr schnell nach Schlaganfall, Operation, wurde meine Mutter bei vielem fast schon gescheucht, dazu gebracht, auch durch „Nichthilfe“ gedrängt, selber aktiv zu werden. Vor allem im Bereich Bewegungen, wieder Lernen sich selbst zu bewegen, Arme, Hände etc. , und all das oft so, dass einem, dass mir der erste fürsorgliche Impuls sagte, dass das doch inhuman sei, zu wenig Hilfe, zu wenig Betreuung, zu viel Verlangen von Eigenständigkeit, wo sie überhaupt nicht da war.
Aber genau das war gut, sie musste lernen, zunächst ohne so recht selbst zu wollen, zu können, aber sie wurde bestärkt, auch bestätigt darin, auch grad dann bestätigt, weiter zu machen, als erst mal auch der zigste Versuch, auch nur einen Schritt allein hinzukriegen, nicht klappte. Knapp in Worte gefasst: Fordernd begleitend betreuen und erst sehr spät fürsorglich betütteln, jemanden als uneigenständig behandeln.
Das auch grad, um ihm soweit es geht, den Glauben an sich selbst überhaupt (wieder) zu geben. Also auch da wieder: Stärkung des Eigenwillens, des Willens, wieder eigenständiger zu werden. Nicht allein, weil dadurch ein Patient dann nicht mehr so viel Arbeit macht, sondern weil grad das ihn und seine Situation bessert. Wille! Lebenswille! Glaube an sich selbst! Thema vielfach hier im Forum, aber grad auch eins für schwer Erkrankte.

Zu deiner Freundin: Es wird im Thread ja recht deutlich, wo wohl das eigentliche Problem steckt. OP Ängste! Also eine Beeinflussung ihres Willens, die wohl gar nicht so sehr physische Gründe hat. Wie damit umzugehen ist? Ich weiß es nicht! Hoffe aber zum einen darauf, dass sich nach und nach alle darüber erst mal klarer werden, als es jetzt der Fall zu sein scheint. Und dann? So professionell und intensiv wie möglich mit diesem angstbestimmten Willen deiner Freundin arbeiten. Gegen ihn? Wenn es formal rechtlich überhaupt geht, sogar dann nur, wenn ……?
Mein Hauptbedenken: Blockiert der Wille deiner Freundin wirklich, ist vor allem auch für sie selbst ihre Weigerung etwas, das dominiert, sehr stark ist, ein eigenr Wille, an den sie sich womöglich grad in ihrer üblen situation jetzt auch klammert, über den sie sich definiert, dann sagt mir eine Mischung aus Ratio und Emotion: Eine OP könnte dann womöglich eher lebensverschlechternd, lebensverkürzend sein. Das aber natürlich ohne Kenntnis der näheren Umstände.

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Lilly111
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Beitrag Di., 14.02.2012, 15:51

Hallo hawi !

Danke.
Ich habe deine Zeilen kreisen und sich setzen lassen.

Ich bin durchaus jemand, die gern professionelle Hilfe sucht und annimmt. Ich weiß nicht, warum ich mich in dem Fall so schwer tue. Vllt. weniger mit dem Annehmen, aber mit dem Vertrauen. Es gibt, wie hier auch angedeutet, eine Vorgeschichte zur Geschichte. Die ist von meiner Seite schon immer von Misstrauen begleitet gewesen. Aber eben meinem Misstrauen, ohne behaupten zu können, dass das tatsächlich gerechtfertigt ist. Womöglich entspringt daraus auch der (verstärkte) Wunsch, in einer so wichtigen Frage wie der OP, auf keinen Fall einen Fehler zuzulassen. Das ist überzogen. Ich kann schließlich (auch) nicht wissen, was richtig oder falsch ist.

Ein anderer - sicherlich verständlicher - Wunsch ist, dass man versucht zukünftigen Schaden abzuwenden. Aber es ist mein Wunsch, und es ist mein Problem damit umzugehen. Mit den Folgen einer Nicht-OP. Die, da gebe ich dir recht hawi, durchaus auch das kleinere Übel sein kann.

Ja, im Grunde ist ihr Wille wohl so ziemlich das Einzige, was ihr an Eigenständigkeit geblieben ist. Andere Menschen kochen für sie, andere waschen sie, andere ziehen sie an. Ihr Kosmos, ihr Aktionsradius hat sich deutlich eingeschränkt. Wo ist sie selbst? In ihrem Willen, und vllt. wirklich nur noch da.

Lilly
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Lilly111
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Beitrag Mi., 15.02.2012, 20:35

Meine wichtigsten Fragen zu diesem Thema sind wohl vorerst beantwortet.
Der Weg in die Zukunft ist etwas klarer, die Zukunft selbst im Nebel.

Akut gibt es keinen Handlungsbedarf, daher nutze ich den Thread hier, um über Themen zu schreiben, die nur mittelbar etwas mit dem Thema zu haben. Wer "mitphilosophieren" möchte - herzlich gern, aber zu manchen Dingen kann man vllt. wirklich kaum was sagen.

Zwei Gedanken...

Ich hoffe inständig, dass sich die Situation nicht verschlechtert oder akut zuspitzt. Heute gab es wieder eine neue Schrecksekunde. Meine Freundin hat - schon vor 14 Tagen im Krankenhaus - teils auch die Nahrungsaufnahme verweigert. Ich hoffe, dass diese Art des Protestes nicht zur Gewohnheit wird. Sonst schwebt dann doch noch/wieder eine Zwangsbehandlung über sie. Tropf und/oder Magensonde. Möge sie es sich selbst ersparen.
Ist es wirklich Protest oder ist es fehlender Lebenswille? Ihre Medikamente nimmt sie nach wie vor nicht. Damit ist es dann leider auch nicht möglich ihr was stimmungsaufhellendes zu geben.
Wenn es fehlender Lebenswille ist, wird es ein ganz schwerer, langer Weg. So schnell stirbt's sich nicht.
Fragen, wie die Ärzte das einschätzen....

Verantwortung. Verantwortung für sich selbst.
Aufgewachsen in einem Elternhaus, in dem alles geregelt war. Selbst denken war gewünscht und erlaubt, aber die wichtigen Lebensentscheidungen standen fest. Ziemlich unverrückbar, unantastbar. Wenn sie mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmten, war es einfach. Zu einfach. Es erforderte keine eigene Entscheidung mehr. Stimmten sie nicht überein - Revolte. Ihre Reaktion war Flucht. Flucht aus der Situation, Flucht aus der Notwendigkeit sich entscheiden zu müssen. Entscheiden zwischen "den eigenen Willen durchsetzen, auch gegen Widerstände und um den Preis sich unbeliebt zu machen" und "den (für sie) unerträglichen Vorgaben zu folgen".
Dieses Muster setzt sich in ihrem weiteren Leben fort. Wenn auch in etwas anderer Form. Nicht Flucht ist nun das Mittel der Wahl, sondern Vermeidung von Entscheidung. Also sich freiwillig in Verhältnisse zu begeben, in denen möglichst wenig selbst entschieden werden muss. Anderen Verantwortung zu übertragen bedeutet gleichzeitig selbst eigene Verantwortung abzugeben.
Wenn man dann in Situationen kommt, in denen man selbst, nur man selbst ganz allein, sonst niemand, entscheiden muss, (lebens)wichtige Dinge entscheiden muss, ist es schwer. Nur schwer oder war sie schlichtweg überfordert?
(Anmerkung um den Text etwas verständlicher zu machen: der OP-Plan war vor einiger Zeit schon mal so weit fortgeschritten, dass der Termin feststand, sie bereits ihr Zimmer bezogen hatte, alle Voruntersuchungen abgeschlossen waren und sie eben "nur" die Unterschrift unter den Aufklärungsbogen verweigert hat. Damit konnte/durfte/musste sie wieder nach Hause. Der Rest der Geschichte ist hier nachzulesen.)
Versucht sie heute bezüglich eigenen Willen durchsetzen, nachzuholen, was sie jahrelang vernachlässigt hat? Wird es ihr erst jetzt, in dieser hilflosen Situation, richtig bewusst, dass sie vllt. einiges versäumt hat?

Wieder viele Fragen und keine Antworten. Aber es quält mich im Moment nicht. Es ist eher ein Reflektieren und Nachdenken wie und warum ein Leben genau diesen und keinen anderen Verlauf nimmt.

Lilly
... as stubborn as a mule.

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hawi
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Beitrag Do., 16.02.2012, 08:31

Hallo Lilly!

Mein Denken sucht grad dann, wenn er scheinbar nicht da ist, wenn er nicht erkennbar ist, den roten Faden. Grad auch bei Menschen, grad dort, wo alles widersprüchlich scheint, oder auf einmal völlig anders.
Ob es so ist? Ich finde ihn jedenfalls oft. Nicht immer beschreibbar, aber schon Mensch so, dass Mensch sich treu bleibt, zwar ändert, manchmal sehr. Aber nicht, weil die Person sich ändert, eher im Gegenteil. Änderung, um so bleiben zu können, sein zu können, wie mann/frau von klein auf ist (geworden ist?).

So betrachtet:
Einerseits wollte irgendwann deine Freundin nicht mehr das Entscheiden anderer für sie.
Diesem Muster, diesem Zustand entzog sie sich und das radikal, sehr weitgehend.
Bis heute! Andere, die für sie entscheiden, die über sie bestimmen, sie lehnt es ab, widersteht dem.
Womöglich gefiel ihr dies (fremd)bestimmt sein nie?
Jedenfalls will sie sehr weitgehend halt nicht.
Und das - so scheint mir - fundamental.
Soll ich es nun „Entscheidungsphobie“ nennen? Oder konsequente individuelle Entscheidung, Denkrichtung, Willensrichtung deiner Freundin, dass all das, was Mensch so meint, üblicherweise lebensnotwendig für sich entscheiden zu müssen, von ihr halt nicht entschieden wird. Was ja durchaus auch ne (Lebens-)Entscheidung ist.
Wird dann meist als Unfähigkeit oder als Bequemlichkeit oder als ……???…. gesehen.
Es so einfach zu sehen, mir steht da dann wieder mal mein Denken im Weg (oder auch meine Wertvorstellungen ?).
Für mich jedenfalls nicht undenkbar, dass Leben auch mal so (selbstbestimmt?) gelebt wird, werden kann. Klar wird sich wohl grad da vielstimmig sagen lassen, dass das so menschlich verkehrt ist, dass der, der so ist, „gestört“ ist.
Ist eben zu weit weg von dem, was von Mensch üblicherweise erwartet wird.
Ist außerhalb des Rahmens, der noch als gesund toleriert wird.
Menschlich subjektive Wahrnehmung zwar, aber da wirs ja gar nicht anders können, halt nach unserem heutigen Kenntnisstand das, was richtig ist.

Zwei mögliche Sichten: Die radikal individuelle, die deiner Freundin ihren roten Faden (so es denn einer ist) belässt, auch die Selbstbestimmtheit lässt, die entscheidet, entschieden hast, dass (fast) nichts entschieden wird.
Oder die üblich menschliche, die so was als „gestört“ nicht mehr toleriert, die eingreift, die versucht, so was so hinzubiegen, dass es (wieder) halbwegs richtig läuft, so richtig, wie Mensch halt meint, dass es richtig wäre.

LG hawi
„Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, daß die Dummen todsicher
und die Intelligenten voller Zweifel sind.“
Bertrand Russell

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Lilly111
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Beitrag Mi., 14.03.2012, 20:46

Die Einschläge kommen näher.
Heute ein epileptischer Anfall, Notaufnahme ins Krankenhaus, Stabilisierung, meine Freundin ist ansprechbar, morgen Diagnostik, soweit möglich. Medikamente verweigert sie nach wie vor.
Der Arzt, mit dem ich gesprochen habe, war angesichts dieser Tatsache etwas ratlos. Also morgen erneute Rücksprache mit der Betreuerin. Medikamente kann sie zwangsanordnen, wenn ich das richtig behalten habe. Nur für die OP bräuchte es die gerichtliche Anordnung.

Wenn Schütteln oder Anflehen helfen würde, würde ich es tun.
Aber es hilft nicht. Nichts hilft.

Lilly
... as stubborn as a mule.

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Lilly111
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Beitrag Mo., 19.03.2012, 23:51

Gesetze sind was Feines.
Sie schützen den Patienten vor nicht erwünschten Behandlungen.
Und sie schützen die Ärzte vor Klagen wegen nicht erwünschten Behandlungen.
Somit ist jeder vor dem anderen geschützt. Sicher ist sicher.
Nur, der Patient wird durch Nichtbehandlung nicht gesünder.
Diese Kleinigkeit muss man notfalls ausblenden. Oder verdrängen. Oder die Lösung des Problems (ist es überhaupt eines?) auf später verschieben.

Falls jemand diesen Irrsinn im Detail verstehen möchte...
Meine Freundin verweigert nach wie vor jede Behandlung, einschließlich Tabletteneinnahme. Nun ist eine, an sich, harmlose Blasenentzündung dazu gekommen. Aufgrund dessen kann man sie - so krank - nicht aus dem Krankenhaus entlassen. Behandeln kann man sie aber auch nicht. Das wäre gegen ihren erklärten Willen. Eine Zwangsbehandlung lehnt die Betreuerin nach wie vor sehr rigeros ab. 'Wie ich mir das vorstellen würde?!?!? Sollen die Schwestern meine Freundin jedesmal am Bett festschnallen?' Als ich mit Ja geantwortet habe, fiel ihr der Hörer aus der Hand. Gespräch beendet.
Die Ärzte warten auf eine Entscheidung. Wissen nicht was sie tun sollen. Was sie mit meiner Freundin anfangen sollen. Im Allgemeinen werden im Krankenhaus Patienten behandelt. Wer nicht will, darf/muss nach Hause. Geht aber auch nicht. Zumindest nicht in diesem Fall.

Gesunder Menschenverstand?
Fehlanzeige.

Lilly
... as stubborn as a mule.

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