Wie kann ich lernen, meinen Eltern zu verzeihen?

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Dantana
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Wie kann ich lernen, meinen Eltern zu verzeihen?

Beitrag So., 25.06.2023, 11:44

Liebe Community,

ich bin inzwischen über 40 Jahre alt und weiß, dass man im Erwachsenenalter selbst die Verantwortung für sein Leben übernehmen muss. Doch innerlich mache ich meinen Eltern immer noch den Vorwurf, dass sie mir vieles versaut haben. Dabei möchte ich ihnen gerne verzeihen, denn meinen Vater liebe ich, meine Mutter nicht.

Ich war kein Wunschkind, meine Mutter hat mich im Alter von 19 Jahren bekommen. Entsprechend lieblos ist sie mit mir umgegangen, hat mich oft angeschrien, beschimpft und mich am liebsten zum Spielen auf die Straße geschickt. Hauptsache, ich war nicht zu viel um sie herum. Mein Vater hat sich etwas mehr um mich bemüht, konnte aber kaum Gefühle zeigen und hatte eine hohe Erwartungshaltung an mich.

Hinzu kommt, dass ich eine gewisse Entwicklungsverzögerung hatte. Ich lernte spät laufen und sprechen. Ab dem Kindergartenalter war mein Leben von Stürzen geprägt. Beim Gehen stolperte ich ständig und fiel meistens auf den Mund. Kaum konnte ich Radfahren, stürzte ich ganz übel und schlug mir ein paar Zähne aus, zum Glück war es noch die Milchzähne! Wenn ich an einer Treppe stand, fiel ich sie auch schon runter. Offensichtlich hatte ich massive Gleichgewichtsstörungen.

Auffällig war auch meine extreme Langsamkeit, die mir bis heute erhalten geblieben ist. Es ist nicht so, dass ich trödele. Ich kann viele Bewegungen einfach nicht schneller ausführen. In der Schule und Ausbildung wurde ich deswegen ständig verspottet, während mich meine Mutter oft wütend als "Lahmar*sch" betitelte.

In der Schule hatte ich Teilleistungsstörungen, die aber sicher viele Kinder haben. Ich konnte mit Mathematik und Naturwissenschaften nichts anfangen und versagte im Sportunterricht wegen meiner gestörten Motorik.

Die Ursachen meiner Defizite interessierten einfach niemanden. Es gab nur Ärger, weil ich nicht so funktionierte, wie man es von mir erwartete. Mein Vater sagte manchmal, dass ich überhaupt nicht in die Welt passe.

Während meine Eltern gewisse Dinge vielleicht auch nicht einmal bemerkten, fielen sie Angehörigen aber auf. Meine Oma nannte mich oft liebevoll "Träumerchen". Dem Träumerchen entging einmal sogar, dass auf dem Herd der Oma gerade das Essen anbrannte und die ganze Küche voller Rauch war. Als ich in den Ferien bei meiner Tante war, fiel ihr auf, dass ich beim Essen vor mich hinstöhnte oder seufzte. Sie sprach mich darauf an und ich war irritiert, weil es mir nicht bewusst war.

Nach meiner Ausbildung, für die ich mich absolut nicht geeignet hatte, machte ich jahrelang einen Hilfsjob als Telefonistin. Dort fielen meine Defizite nicht so auf. Ich freundete mich dort mit einer Kollegin an und wir trafen uns auch privat. Irgendwann sagte sie mir auf den Kopf zu, dass ich mich um eine Diagnostik bemühen sollte, wo mir eine Behinderung attestiert würde.

Es vergingen noch Jahre mit häufigem Scheitern im Berufsleben bis ich wirklich das Thema Diagnostik anging. Mein Verdacht auf ADS bestätigte sich nicht. Dafür geriet ich vor mehreren Jahren an einen Neurologen, der bei mir eine Epilepsie feststellte. Ich war schockiert und konnte das zuerst nicht glauben. Lange habe ich die Diagnose verdrängt und begab mich nicht in Behandlung. Das änderte sich erst, als ich im Zuge einer epileptischen Aura fast von einem Auto erfasst worden wäre und mir innerhalb kurzer Zeit im Schlaf ein paar üble Bissverletzungen an der Zunge zugefügt hatte.

Meine Eltern wissen bis heute nichts von der Diagnose.
Was würde es bringen, ihnen Vorhaltungen zu machen, dass sie sich vor 30 Jahren nicht mehr um mich gekümmert haben und mit mir nicht zu einem Facharzt gegangen sind?
Doch innerlich mache ich ihnen Vorwürfe, dass sie alles haben laufen lassen. Mein Leben hätte sicherlich einen anderen Verlauf nehmen können.

Wie würde es euch damit gehen?
Könntet ihr verzeihen?

Lieben Gruß,
Dantana

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Waldschratin
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Beitrag So., 25.06.2023, 12:06

Hallo Dantana,
darf ich dich mal genauer danach fragen, warum du deinen Eltern verzeihen möchtest?

Du schreibst, weil du deinen Vater liebst, deine Mutter aber nicht.
Aber was hat das für dich mit Verzeihen zu tun?

Ich weiß, Vergebung/Verzeihen ist für die meisten Menschen, denen was angetan wurde, eher ein rotes Tuch, weil Verzeihen an sich gleichgesetzt wird mit den Gefühlen, die man seinen Tätern entgegenbringt.
Oder es wird eine Art Nachsicht und Nicht-mehr-als-schlimme-Tat-Werten darin gesehen, so als ob man akzeptieren soll, dass man sich gefälligst nicht so anstellen soll mit den erlittenen Verletzungen und deren Folgen für einen.

Inwiefern denkst du denn, dass dein Verzeihen mit Liebe zu deinem Vater und Nicht-Liebe/Hass für deine Mutter zu tun hat?

Und wie gehst du denn bisher mit deinen (berechtigten) Vorwürfen und Vorhaltungen deinen Eltern gegenüber um? Was machst du für dich damit, dass vieles so viel anders und besser für dich und dein Leben hätte laufen können, wenn sich deine Eltern wirklich als Eltern dir gegenüber verhalten hätten?
(Ich nehm da deinen Vater übrigens genauso mit in die Verantwortung dir gegenüber wie deine Mutter.)

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münchnerkindl
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Beitrag So., 25.06.2023, 12:19

Ich denke das geht nur über den Zwischenschritt dass sie dir wirklich als Menschen egal werden und keine Rolle mehr in deinem Leben haben. Weil dann hast du die Wahl ob und welche Emotionen du ihnen gegenüber haben willst.

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sebi
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Beitrag So., 25.06.2023, 12:49

Vlt hat der Wunsch nach "Verzeihen können" mit der irrigen Annahme zu tun, dass dann das erlittene Leid weniger gross/tief/nachhaltig sein würde. Irrige Annahme deshalb, weil das Leid, der Schmerz dadurch nicht geringer wird. Ich kann denen vergeben, die mir das angetan haben, weil sie es nicht besser wussten/konnten. Verzeihen muss ich deswegen aber nichts.
"Jeder Mensch sucht nach Halt. Dabei liegt der einzige Halt im Loslassen." Hape Kerkeling

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saffiatou
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Beitrag So., 25.06.2023, 13:13

Ich schließe mich Walsschratin und Sebi an.

Wie soll man jemandem verzeihen, der noch nicht einmal darum bittet??? Und warum sollte man das tun?
Ich finde die Gesellschaft fordert zu schnell und zu deutlich ein Verzeihen ein, dass oft gar nicht gegeben
werden kann. Mann kann auch weiter miteinander leben (auf eine gewisse Weise) ohne zu verzeihen.

Was erwartest Du was sich dann ändern wird?

Was glaubst Du wird sich ändern, wenn Du ihnen verzeihst und sie dich so weiterbehandeln? Ein neues Verzeihen und wieder und wieder?


Die Eltern werden sich nicht ändern, sie wollen es meiner Erfahrung nach auch gar nicht, weil das mit viel Arbeit verbunden ist. Sie müssten sich dann ehrlich dem stellen, was sie Dir antaten.

Warum wissen Deine Eltern nichts von der ADS Diagnose?

Du könntest Ihnen doch auch als Anfang, wenn es unbedingt Dein Wunsch ist zu verzeihen, ihnen mitteilen (persönlich, Brief), wie es Dir ergangen ist, was ihre Nichtbeachtung angberichtet hat, wenn sie dann reagieren kannst Du immer noch den Weg des Verzeihens gehen.
never know better than the natives. Kofi Annan


Waldschratin
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Beitrag So., 25.06.2023, 13:41

sebi hat geschrieben:Vlt hat der Wunsch nach "Verzeihen können" mit der irrigen Annahme zu tun, dass dann das erlittene Leid weniger gross/tief/nachhaltig sein würde. Irrige Annahme deshalb, weil das Leid, der Schmerz dadurch nicht geringer wird.
Ich hab Vergebung/Verzeihen für mich über ein Bild definiert: Ist wie wenn ich jemandem nen dicken Batzen Geld leihe, und derjenige zahlt es dann nicht zurück, sondern tut so, als wüsste er von nichts mehr.
Doppelter Schaden also : Materiell wie mental gleichermaßen richtet so jemand dann allerhand an in mir.

Die Schuld besteht also, egal wie eins drüber moralisieren möchte oder nicht.
Und man kann hergehen und sie einfordern. Auch gerichtlich. Und immer wieder einfordern, einschließlich Zinsen etc.

Wenn aber der Schuldner sich weiterhin weigert, seiner Wiedergutmachungspflicht nachzukommen, kann man sich dran aufreiben und abarbeiten, sich immer wieder vorrechnen, was in der Kasse fehlt, was das für Folgen hat für einen und was gewesen wäre, wenn etc.
Hat man jedes Recht der Welt dazu und "müssen" tut man schon gar nichts.
Aber es kostet einen ausschließlich die eigenen Kräfte und Sorgen und Ärger etc.

Ich für mein Teil war und bin sauer auf meine "Schuldner", weil ihnen nix Besseres eingefallen ist als das, was sie da angerichtet haben in mir.
Da hab ich auch nach wie vor keinerlei Nachsicht oder Verständnis dafür, dass sie es nicht besser gewusst haben etc.
Sie haben es besser gewusst, denn die meisten meiner Täter regen sich inzwischen absolut auf über "Solche, die so etwas Kindern antun".
Das Einzige, was ich mit hernehme als Ent-Schuldigung sind die Störungen und Krankheiten, die die selber davongetragen haben aus ihrer Kindheit. Aber auch da hätten sie sich ja mal die Mühe machen können und Wege für sich finden, damit fertig zu werden, anstatt es schnellschnell an Kindern der nächsten Generation auszuagieren.

Vergeben und verziehen hab ich aus ganz egoistischen Gründen.
Weil ich selber frei werden wollte von der inneren Bindung, die diese Bringschuld meiner Täter eben für mich als deren Opfer mit sich bringt.

Um in meinem Vergleich mit dem nicht zurückgezahlten Geld zu bleiben:
Ich erlasse denen das, was sie mir schulden.
Ich "schenke" ihnen das "Geld" sozusagen.

Das ändert keinen Hauch von den Auswirkungen und Folgen für mich und schmälert weder meinen Verlust, noch meine Wut, Enttäuschung, Verletztheit etc. darüber, dass die so mit mir umgegangen sind.

Aber in mir ändert sich allerhand dadurch.
Mein Wiedergutmachungsanspruch, mein inneres Hinterherarbeiten und Erwarten an sie nimmt mit der Zeit ab und inzwischen ist es ganz weg.
Bringt mir innere Freiheit und die ist mir ehrlich gesagt Gold wert und viel mehr, als wenn ich sie angezeigt hätte und sie alle miteinander auf Jahre eingesessen hätten.

Insofern bringt es mir schon Erleichterung und mein durch sie entstandenes Leid reduziert sich - in den Nachwirkungen durch meinen eigenen Umgang mit den Folgen für mich.

Mir sind inzwischen meine Täter als Täter egal. (Bis auf einen, da bin ich nach wie vor im Prozess der Vergebung unterwegs). Als Menschen die meisten davon auch, aber nicht alle. Zu zweien ist sogar wieder sowas wie "Normalität", wenn auch in sehr eingeschränkter Art im Umgang möglich.
Weil ich innerlich frei bin von den Vorwürfen an sie und dem, was ich ihnen ja tatsächlich anrechnen könnte.

Für mich ist das der einzige Grund, warum ich vergeben/verzeihen wollte und will : Mein eigenes Wohlergehen.
Was "die Gesellschaft" oder irgendeine verkappte Moral dazu meint, ist mir inzwischen egal. Vorteil eines fortgeschrittenen Alters. :hehehe: Da juckt es einen nicht mehr so, was "man" dazu meint.

Deshalb interessiert es mich so, aus welchen Gründen du @Dantana, vergeben/verzeihen willst.


Waldschratin
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Beitrag So., 25.06.2023, 13:45

saffiatou hat geschrieben:Du könntest Ihnen doch auch als Anfang, wenn es unbedingt Dein Wunsch ist zu verzeihen, ihnen mitteilen (persönlich, Brief), wie es Dir ergangen ist, was ihre Nichtbeachtung angberichtet hat
Das find ich auch einen elementar wichtigen Schritt, wenn man vergeben/verzeihen will. :ja:
Sonst kann man sich ja innerlich gar nicht richtig davon lösen, weil es zu schwammig wird.

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Sinarellas
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Beitrag So., 25.06.2023, 14:16

sebi hat geschrieben: So., 25.06.2023, 12:49 Vlt hat der Wunsch nach "Verzeihen können" mit der irrigen Annahme zu tun, dass dann das erlittene Leid weniger gross/tief/nachhaltig sein würde. Irrige Annahme deshalb, weil das Leid, der Schmerz dadurch nicht geringer wird. Ich kann denen vergeben, die mir das angetan haben, weil sie es nicht besser wussten/konnten. Verzeihen muss ich deswegen aber nichts.
wow sebi, wie toll hast du das denn niedergeschrieben.
Danke für diese Worte, genau das ist es: eine irrige Annahme, dass es besser wird, sich tatsächlich etwas beim Gegenüber verändert oder es das Heilmittel gegen die erlittenen Erlebnisse geht, die bei TE offensichtlich bis heute nachwirken.

Ich habe meiner Herkunftsfamilie nicht verziehen, das werde ich auch sicher nicht tun, auch nicht vergeben - ich wüsste wirklich nicht warum? Ist das nicht eine besonders theologisch geprägte Annahme, dass das der Königsweg sein soll?

Meinen Frieden finde ich auch so - ohne verzeihen. Einen Umgang mit den Menschen die schädlichen Einfluss auf mich hatten zu finden, einen der mir persönlich gut tut (mit allen Konsequenzen die sich daraus ergeben).

Ganz oft lese ich die Ideen zu Briefen schreiben, nach meiner Erfahrung (familiär gab es da einige Briefe von anderen an Mitglieder, sowie bekannte und Freunde, die sich damit etwas erhofften) nützen diese Briefe überhaupt nichts, teilweise ganz im Gegenteil. Hat da wer andere Erfahrungen gemacht?
..:..

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sebi
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Beitrag So., 25.06.2023, 14:18

Lb Waldschratin, ich kann alles, was du geschrieben hast, unterstreichen.
Erklärend kann ich dazu, zu dem Verhalten meiner Eltern, nur schreiben, dass beide der Generation des II.Weltkrieges angehörten. Sie haben wenig bis nichts davon erzählt. Nichts davon erzählt, was sie an Gräuel erfahren hatten. Die Psychologie war nach dem Krieg noch in den Kinderschuhen. Keiner wusste damals über die Folgen Bescheid. Die PTBS wurde erst bei Vietnamveteranen als solche erkannt und benannt.
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sebi
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Beitrag So., 25.06.2023, 14:26

@sinarellas, zum Thema Briefe schreiben. Ich habe das damals, also während meiner Therapie, so verstanden, einen "Brief" ohne Hemmungen, Zurückhaltungen ect. zu schreiben. In diesem Aus-Druck des Erlebten gibt es absolut keine moralischen Zwänge. Jedes noch so intensive Gefühl der Wut, des Hasses, der Anschuldigung ist erlaubt. Das Schreiben selbst hat bereits einiges in mir verändert. Eine noch intensivere Form war dann, den Brief vor 'Zeugen' laut vorzulesen. Es geht nicht darum, den Brief an den/die Adressaten abzuschicken, sondern, das Geschehene sozusagen 'öffentlich' zu machen.
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reddie
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Beitrag So., 25.06.2023, 14:32

Ja, bei meiner verstorbenen Mutter standen nach der langen Flucht aus Ostpreußen (sie 6, Schwester 4 und meine Omi) doch plötzlich "die" Russen im Zimmer. Meine Oma hatte sich wohl versteckt. Außer dem Riesenschreck haben sie aber den Kindern nichts getan. Meine Oma hat nie darüber reden wollen. Meine Mutter am Ende ihres Lebens schon.

Ich konnte ihr verzeihen. In meiner Jugend hatte ich mich stark abgegrenzt, durch Schicksalsschläge hatten wir dann zu einer Verbundenheit gefunden, da ihre geliebte Fassade gewaltig bröckelte.

Aber teilweise wird mir erst heute klar, wie schräg meine Erziehung war. Glaubenssätze wie: "Du darfst nicht schwach sein " und "Es gibt nichts umsonst" haben mich immens geprägt.

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Beitrag So., 25.06.2023, 14:44

Vlt geht es ja eh eher darum, sich selber zu verzeihen und zu vergeben. Als Kind ist man den Eltern ausgeliefert und übernimmt, um zu überleben, die Schuld für deren Verhalten auf sich. Und später, als Erwachsener fragt man nach dem 'Warum'? Warum habe ich mich nicht gewehrt? Warum habe ich nicht geschrien? Warum habe ich es zugelassen? Ect., ect. Barmherzig mit sich selber sein. Sich selber nicht zu verurteilen, so wie es die Eltern getan haben.
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saffiatou
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Beitrag So., 25.06.2023, 16:05

Sinarellas hat geschrieben: So., 25.06.2023, 14:16 Ganz oft lese ich die Ideen zu Briefen schreiben, nach meiner Erfahrung (familiär gab es da einige Briefe von anderen an Mitglieder, sowie bekannte und Freunde, die sich damit etwas erhofften) nützen diese Briefe überhaupt nichts, teilweise ganz im Gegenteil. Hat da wer andere Erfahrungen gemacht?
ich habe auch von meinem Therapeuten angeregt, einige Briefe geschrieben, anfangs hatte ich Hoffnung, dass meine Eltern erkennen wie sehr sie mich verletzten, wie schlimm die Misshandlungen waren und sich entschuldigten und nun das kindliche "alles wird gut". Aber das ist nie eingetreten. Irgendwann habe ich verstanden, es geht darum ihnen zu sagen, was passiert ist was es mit mir gemacht hat und nichts mehr zu beschönigen, ihnen ihre Verantwortung zu geben, aber nicht mehr zu hoffen. Es geht darum mich auszudrücken, den Schmerz loswerden. Wenn man dann noch Eltern hat die reflektieren und sich entschuldigen super. Aber ich konnte genau deshalb auch den Kontakt abbrechen, weil ich und mein Schmerz eben weiter nicht gesehen wurden. Es half mich mich zu lösen.
sebi hat geschrieben: So., 25.06.2023, 14:18 Erklärend kann ich dazu, zu dem Verhalten meiner Eltern, nur schreiben, dass beide der Generation des II.Weltkrieges angehörten. Sie haben wenig bis nichts davon erzählt. Nichts davon erzählt, was sie an Gräuel erfahren hatten. Die Psychologie war nach dem Krieg noch in den Kinderschuhen. Keiner wusste damals über die Folgen Bescheid. Die PTBS wurde erst bei Vietnamveteranen als solche erkannt und benannt.
Richtig, auch meine Eltern waren aus dieser Generation, sie haben einen Schaden getragen (durch die Erziehung, durch die Erlebnisse, was auch immer) aber das spricht sie nicht von ihrer Verantwortunug frei, denn sie waren die Erwachsenen.
Schimmer finde ich noch, dass sie genau wussten, dass sie falsch handelten, denn wenn Besuch da war, waren sie wie ausgewechselt, dann waren sie fröhlich, freundlich, und nicht aggressiv. Sie wussten was sie taten, sie hatten sich in Gesellschaft "im Griff".

Warum soll das verziehen werden, wenn von Täterseite noch nicht einmal das Verständis oder der Wunsch da ist?

Meiner Meinung nach hiflt Verzeihen oft den "Tätern" (im weitesten Sinne), weil sie dann munter weitermachen können.
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Sinarellas
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Beitrag So., 25.06.2023, 16:29

Ah ja, das Schreiben selbst und das Erlebte korrekt adressieren ist natürlich sehr hilfreich.
Da bin ich ganz bei euch, nur das Thema, was das Gegenüber dann damit macht, wenn derjenige den Brief erhält, das war immer ohne Nutzen oder hat die Situation völlig zum eskalieren gebracht.
Vielleicht braucht es aber auch genau das, die Nicht-Reaktion oder die schiefe Abwehr-Reaktion die bei Klartext-Briefen kommt. Ein Schritt um sich zu lösen.

Ist für mich schwer auszuhalten, dass vieles auf den Krieg oder die mangelnde Empathie oder gar Mitgefühl hingeschoben wird.
Nur weil ich wirklichen Mist erlebt habe, heißt das nicht, dass ich als mündiger Mensch mein Verhalten nicht reflektieren kann. Auch heute gibt es ausreichend Menschen die genauso handeln wie vor 50 Jahren und das ganz ohne Kriegsgreul, wohl aber mit traumatischen Erlebnissen, denn die gibt es weiterhin und auch weiterhin steht es Menschen frei sich selbst zu reflektieren und ggf. auch Mist einzugestehen. Ich glaube das hat alles weniger mit den Umständen von außen zu tun, sondern mehr mit der Persönlichkeit.
Nicht nur diese Generation hat einen Schaden getragen, die folgende und jetzige genauso.

Verzeihen und so was wie vergeben kann es aus meiner Sicht nur und ausschließlich in Verbindung mit Reue geben. Ansonsten ist es ein Umgang mit den Betreffenden. Ein bewusstes "ich beschäftige mich nicht mehr weiter mit dem was war". Vielleicht.
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Waldschratin
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Beitrag So., 25.06.2023, 17:40

sinerellas hat geschrieben:Ist das nicht eine besonders theologisch geprägte Annahme, dass das der Königsweg sein soll?
Längst nicht mehr nur.
Ich werde heutzutage öfter mal auch von fachfremden Ärzten gefragt, ob ich denn vergeben konnte oder "schon" vergeben hab etc. Da scheint wohl auch die irrige Annahme zu herrschen, dass das der "einzig echte" Weg zu "richtiger" Heilung wäre.
Ich empfinde es ähnlich wie damals mit der DIS, als auch lange Zeit die Integration zu einem einzigen Ich als anzustrebender Heilungserfolg angesehen wurde. Und oft genug hermanipuliert oder gar erzwungen werden sollte.
Ist mit Vergebung/Verzeihen für mich auch nicht weniger übergriffig, sowas zu verlangen oder zu erwarten.
saffiatou hat geschrieben:Meiner Meinung nach hiflt Verzeihen oft den "Tätern" (im weitesten Sinne), weil sie dann munter weitermachen können.
Meinen Tätern ist das durch die Bank völlig egal, ob ich was vergebe oder nicht oder ob es mich überhaupt gibt, wie ich denke und fühle oder atme oder nicht etc. Selbst die, die ich tatsächlich mal konfrontiert hab, haben mich angesehen, als nehmen sie grade mal wabernden Nebel um sich rum wahr, aber bestimmt keine Person, keinen Menschen sich gegenüber.
Nicht mal groß aufgeregt hat sich da einer.

Ob man vergibt und genauso ob man nicht vergibt, ist wohl den allermeisten Tätern egal. Die wollen im Zweifelsfalle so oder so einfach nur weitermachen wie gehabt und interessieren sich nicht für einen.

Und mir ist es tatsächlich auch egal, ob meine Vorfahren "Schlimmes" wie Krieg oder "nur" Misshandlung zuhause oder anderweitig Traumatisierendes erlebt haben.
Ich hab Verständnis, aus meinem eigenen Erleben raus, wie es einem geht, wenn man so fertiggemacht wurde.

Aber entschuldigen tut das für mich nichts. Hätte und hat es auch das nicht, was ich selber aufgrund meiner Traumatisierungen alles falsch gemacht habe.
Dafür hab ich grade zu stehen und tu das auch. Und das hängt meiner Ansicht nach tatsächlich nicht von den Umständen ab, sondern von eigenen, getroffenen und umgesetzten Entscheidungen.

Nochmal zu den Briefen an Täter:
Ich meinte da eher, dass man es mal niederschreiben/ausdrücken und in Worte fassen sollte, für sich selber in erster Linie. Damit man selber es mal schwarz auf weiß vor sich hat und sichs im wahrsten Sinn des Wortes "anschauen" kann, damit einem bewusst wird, was man da eigentlich loszulassen und zu vergeben hat, wenn man das will.

Da kanns auch passieren, dass man dann erst bewusst mitbekommt, wie unglaublich viel das ist und man gar nichts vergeben will. Oder (noch nicht) kann.

Ich hab das immer davon abhängig gemacht, was ich als guten Impuls in mir selber gespürt hat. Wenn ich da das Bedürfnis bekam, einem Täter was zu schicken oder ihm zu begegnen etc., dann hab ichs innerlich aber auch erst vorbereitet und mich abgesichert, z.T. mir Unterstützung, auf jeden Fall aber jede Menge Rückhalt vorneweg besorgt.
Und dann erst was z.B. Schriftliches aus der Hand gegeben oder unter Zeugen einem der Täter gegenüber was Konkretes ausgesprochen.

Immerhin weiß man ja, wem man da sein Wissen ausliefert und dass man ziemlich sicher mit Gemeinheiten, Unwahrheiten, wiederum Manipulation und Vertuschung etc. rechnen kann.

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