Vater mit Demenz im Pflegeheim

Hier können Sie sich über Belastungen durch eigene oder fremde schwere Erkrankungen, aber auch den Umgang mit Tod und Trauer austauschen.
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lisbeth
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Beitrag Mo., 27.11.2023, 09:06

ziegenkind, das berührt mich. Sehr. Mein Vater spricht auch Dinge aus, die ihm früher nie über die Lippen gekommen wären. Bei ihm ist es, als ob er durch die Demenz vergessen hat, dass er kontrolliert sein muss, nichts fühlen und spüren darf, und das was er fühlt nicht zum Ausdruck bringen darf. Und mich versöhnt es (ein stückweit) mit meinen Vater, zu erleben, dass das alles da ist, in ihm ist. Dass er es aber in nicht-dementen Zeiten nie zum Ausdruck bringen konnte.
When hope is not pinned wriggling onto a shiny image or expectation, it sometimes floats forth and opens.
― Anne Lamott

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ziegenkind
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Beitrag Mo., 27.11.2023, 21:54

Ja, Lisbeth, genau so scheint es zu sein: die Kontrolle wird schwächer.

Heute lag mein Vater im Bett als ich kam, traurig und verloren. Er hat mir wieder dieselben Fragen gestellt: "Wo bin ich? Wann kann ich nach Hause." Ich hab ihm noch einmal alles erklärt. Dass der Leiter seiner alten Seniorenresidenz ihm gekündigt hat, das wusste er noch. Ich habe ihm angekündigt, dass ich viele seiner Sachen bringen werde und es ihm so schön wie möglich machen werde. Fröhlich haben wir überlegt, was er in seinem neuen Zimmer allesunterbringen könne. Das ist mit 25 Quadratmetern Gott sei Dank recht groß.

Irgendwann sagte er: "Jetzt bin ich wieder wie ein Kind, man sagt mir, bohre nicht in der Nase." Wir haben uns lange schweigend angesehen. Er brach das Schweigen und bat leise: Lass mich nicht allein. Ich habe ihn 10 Minuten im Arm gehalten und mit ihm geweint.

Ach ja, er hat jetzt Corona. Sch.eiße.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.


Kirchenmaus
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Beitrag Mi., 29.11.2023, 09:00

Ach, ziegenkind.

Ich weine ein bisschen mit.
Es ist in Ordnung, mich zu akzeptieren.


Kirchenmaus
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Beitrag So., 03.12.2023, 09:06

Hallo ziegenkind,

wie geht es dir? Wie geht es deinem Vater?
Ich denke an dich und wünsche dir ein Licht in dieser dunklen Zeit.
Es ist in Ordnung, mich zu akzeptieren.

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ziegenkind
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Beitrag Di., 05.12.2023, 08:51

Kirchenmaus, danke für die Nachfrage.

Die letzte Woche war schlimm. Ich habe mich bei meinem Vater mit Corona angesteckt und durfte dann natürlich nicht hin. Bei mir war es wieder nicht schlimm. Ich war nur einen Tag unendlich müde. Mein Vater hat auch kaum Symptome, kein Husten, kein Fieber, nur ein bisschen Kopfschmerzen.

Dann habe ich seinen Umzug organisiert. Darüber hat er sich sehr gefreut. Er hat jetzt seine Ledersessel, seine Bilder, seine Fotos und noch ein wenig Schnick-Schnack da. Das war ein guter Tag.

Gestern ist er allerdings gestürzt, musste zum Röntgen in die Notaufnahme. Da war Corona dann echt ein Hindernis. Ich hab mit Engelszungen auf alle eingeredet, aber da war nichts zu machen, ich durfte nicht zu ihm. Da war ich ziemlich verzweifelt - ein dementer, schwerhöriger, uralter Mann wird in ein Krankenhaus gebracht, das er nicht kennt und ist fürchterlich verwirrt. Gott sei Dank ist nichts gebrochen. Ich hab dann lange mit einer sehr netten Ärztin gesprochen. Er hat noch ein paar Infusionen bekommen, weil er fast nichts getrunken hat und ist dann zurück ins Heim.

Ich warte noch bis 10, um ihm Zeit zum Ausschlafen zu geben - er ist erst nach 24 Uhr entlassen worden. Dann geh ich hin. So wie es aussieht, macht seine Demenz den nächsten riesigen Sprung. Er hat zunehmend Probleme mit dem Schlucken. Immer wenn ich da bin, will ich ihn zum Trinken animieren.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.

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Candykills
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Beitrag Di., 05.12.2023, 11:36

Ja, das ist irgendwie dieses Phänomen mit den Infekten, die die Demenz befeuern.
Vielleicht konnte er wenigstens gut ausschlafen heute nach so einer großen Aufregung und hat dann heute wieder einen besseren Tag.
Wenn keine Krankheit dagegen spricht, kannst du ja vielleicht gucken, ob du ihm etwas zu trinken anbietest, was er gerne trinkt und ihm das dann vielleicht etwas erleichtert. Säfte oder so.
Ich bin wie einer, der blindlings sucht, nicht wissend wonach noch wo er es finden könnte. (Pessoa)


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ziegenkind
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Beitrag Di., 05.12.2023, 12:10

Ach, das wusste ich gar nicht, dass Infekte die Demenz beschleunigen. Hab mich grad ein wenig belesen. Das bestätigt meine Beobachtungen. Am Anfang konnte er heute kein grades Wort sagen, krause Buchstabenkombis.

Ich war grad da. Er ist sehr schläfrig. Erst habe ich einfach eine Stunde am Bett neben ihm gesessen und seine Hände gestreichelt, die jetzt fast unaufhörlich in Bewegung sind. Das ist wohl das typische Nesteln, das zur Demenz gehört. Dann ist er aufgewacht, hat sich gefreut mich zu sehen und ich habe ihm immerhin ein großes Glas Cola trinken lassen. Auf Cola ist er ganz wild, immer schon.

Der Sturz muss ziemlich viel Dramatik gehabt haben. Er hat die Gardine runter gerissen und am ganzen Körper blaue. Flecken, außerdem ein paar kleine Wunden an den Armen.

Dass er gestern unterwegs war hat er mitgekriegt. Er kenne jetzt alle Kaschemmen, sagte er mir. Das bräuchte er dann auch nicht mehr.
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Nico
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Beitrag Di., 05.12.2023, 13:31

Ich hab vorgestern auf 3 Sat etwas interessantes über Demenz gesehen.

Hier der Link zur Sendung in der Mediathek falls Interesse besteht: https://www.3sat.de/suche?q=Demenz+–+We ... rue&attrs=
Nicht das schwarze Schaf ist anders, sondern die weißen Schafe sind alle gleich ;)


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ziegenkind
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Beitrag Mi., 06.12.2023, 14:02

Danke Nico, hab ich gesehen. war hilfreich.
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ziegenkind
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Beitrag Do., 07.12.2023, 13:06

Heute habe ich verstanden, warum es für ihn so schrecklich war, jetzt bei uns in Berlin zu sein. Mit großen Augen hat er mich grad gefragt, wie das denn wäre, wenn er sterbe. Er war so aufgeregt, dass er dann gar nicht weiter sprechen konnte. Irgendwie wusste ich aber sofort, worum es ging. "Du kommst natürlich zu Mama ins Grab", hab ich ihm versichert. Er hat mehrfach nahgefragt und war ganz verstört bei der Vorstellung, dass das weit weg und vielleicht schwierig umzusetzen sei. Ich hab dann bekräftigt, dass das überhaupt gar kein Problem sei und ich ihm bei allem, was mir heilig sei, versprechen würde, ihn dorthin zu bringen und dort auch mit allen Nachbarn und Bekannten, die noch am Leben sind, eine Beerdigungsfeier zu organisieren. Ihm schossen die Tränen in die Augen, er nahm meine Hände und hat sich mehrfach bedankt.

Im Moment ist es ganz gut: Sein Bein ist nicht gebrochen, aber geprellt. Er liegt im Bett, ist aber heute schon von einer Schwester durch die Gegend gefahren worden. Sein Zimmer ist jetzt ganz eingerichtet und sieht sehr gemütlich aus.

Wir haben eine neue Routine. Er hat immer Angst, er könne stinken und glaubt, er würde viel zu selten gewaschen. Ich weiß, dass das nicht stimmt. Aber seit gestern wasche ich ihn immer, wenn ich komme. Ich habe ihm einen weichen Waschlappen gekauft, gutes Duschgel und Bodylotion von Weleda. Wir brauchen nicht viel reden (das fällt ihm sehr schwer, er ist immer sehr beschämt, wenn er etwas nicht versteht), haben aber viel Körperkontakt. Er war ganz gerührt, dass ich das für ihn tue. Ich bin ganz ruhig und glücklich, wenn ich das Gefühl habe, seine Situation tätig etwas angenehmer für ihn machen zu können. Mit einem Wort: Das ist super für beide Seiten.

Ich hab am Anfang mal gedacht, ich würde das nicht können, ihn berühren und so. Weil er uns ja immer so geschlagen hat. Aber das ist auf einmal ganz leicht. Er ist nur noch Haut und Knochen. Der harte Mann ist weg. Da ist nur noch ein kleiner, mitunter ängstlicher Junge und - ich weiß das klingt pathetisch, sind aber die Worte, die mir in den Kopf schießen - eine leidende Kreatur, die eigentlich nur noch sterben will.
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Nico
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Beitrag Do., 07.12.2023, 13:41

Ich habe das Gefühl, dass du da eine große Chance bekommen hast, dich mit deinem Vater bis zu einem gewissen Grad auszusöhnen und du scheinst diese Chance ganz toll zu nützen.
Das war bei mir ähnlich und ich bin, obwohl mein Vater schon lange gestorben ist, noch heute sehr glücklich darüber. Es gibt viel inneren Frieden.
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reddie
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Beitrag Do., 07.12.2023, 15:14

Du machst das ganz toll.

Ich bin ja meiner Mutter auch im Alter und als sie schwächer wurde erst wirklich nahe gekommen.

Sie wollte jahrelang nicht zum Arzt. Das habe ich akzeptiert, weil sie meiner Meinung nach diese Entscheidung bewusst getroffen hat. Auch wenn ich sie bekniet habe.

Dann irgendwann ging es körperlich rapide bergab. Und als wir endlich im Krankenhaus waren... Da geschah das Weihnachtsmarkt-Attentat und das Chaos brach aus. Alle Besucher mussten das Krankenhaus verlassen und so hatte ich nur die Minute am nächsten Morgen, und dann wurde sie ins künstliche Koma versetzt, weil nicht mehr zu retten. Ich hab dann ihre Hand gehalten und konnte unglaublich viel weinen (wäre sie Bewusstsein gewesen, hätte ich mich zurückgehalten. Und irgendwann konnte ich ihre Stirn küssen und sagen: Du kannst gehen, ich schaff das alleine. Bis bald.

Alles Gute, dir und deinem Vater!

reddie

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Lady Nightmare
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Beitrag Do., 07.12.2023, 23:10

@Ziegenkind: Ich will keinesfalls deinen Thread sprengen, aber vielleicht ist mein folgender Beitrag auch für andere hilfreich. Es geht um die medikamentöse Umstellung bei dementen Menschen.

Bei meinem Vater sah es in dieser Woche furchtbar aus. Nachdem ich in den letzten drei Wochen schon den Eindruck hatte, es geht zu Ende – er lag zunehmend bleich und schlafend im Bett, wird in dieser Woche Wiederauferstehung „dank“ einer Umstellung auf Venlafaxin „gefeiert“ (er erhält neben dem Antidepressivum ein Antiepileptikum und ein Antipsychotikum). Mit dem Ergebnis, dass ich ihn beim vorletzten Besuch komplett psychotisch angetroffen habe. Er litt unter Logorrhoe (sonst spricht er zunehmend weniger) und berichtete mir, er habe ein neues Unternehmen gegründet. Es hätte einen großen Artikel darüber in der Zeitung gegeben. Auch beschwerte er sich darüber, dass ich immer wieder nach Hause gehen könnte und offenbar auch keine Lust hätte, das neue Unternehmen in Augenschein zu nehmen. Ich habe nicht gegen den Wahn angeredet, trotzdem war er am Ende ärgerlich, weil ich seinen Enthusiasmus nicht teilen konnte. Zum Abschied wurde ich mit pampigen Blicken bedacht. Zum ersten Mal, seit 2,5 Jahren wollte er auch wieder mit nach Hause gehen. Danke künstlicher Antrieb! Zurück auf Los? Heute war er Lichtjahre von mir entfernt in seiner
psychotischen Blase.

Ich hoffe, dass das nur ein Switch ist …

Der letzte Besuch: mein Vater sitzt sehr hilflos in seinem Zimmer auf dem Bett und seine Beine sind unaufhörlich in Bewegung – offenbar Restless Legs Syndrom. Er teilt mir mit, dass ich nicht immer wieder abhauen könne, ich müsse jetzt mal dauerhaft bei ihm bleiben, er sei schließlich immer alleine und einsam. Eine Pflegerin sagt: „Aber Sie sind doch bei uns.“ Er flieht sie, wie es diesmal überhaupt sein Tag des Fliehens ist. Er nässt sich im Bett sitzend ein und will später mit der Hose in den Kniekehlen auf den Flur rennen. Obwohl ihm beim Toilettengang assistiert wird, schreit er dabei und auch später noch unentwegt um Hilfe. Da er sehr schwach, aber gleichzeitig ebenso agitiert ist, schaffe ich ihn mühsam in den Rollstuhl, in dem er dann „herumsaust“, am Ende flieht er auch mich …

Ich verabschiede mich und konnte ihn heute noch viel weniger erreichen. Nicht helfen zu können, ist sehr belastend, seine Hilferufe sind belastend. Am Folgetag bin ich gedanklich immer wieder bei ihm und seiner aktuellen Situation, ich habe Bauchschmerzen, mir ist oft übel und ich bin zittriger als sonst unterwegs und fühle mich mehr als erschöpft. Gerne würde ich weinen, aber es geht nicht.

Die Pflege habe ich auf seine Restless Legs aufmerksam gemacht. Vielleicht fahre ich morgen wieder hin, denn ich will nicht, dass ihm eine medikamentöse Umstellung zugemutet wird, die er offenbar nicht verkraftet, aber nun ist er schon mittendrin. Hinzu kommt, dass ich Venlafaxin auch nicht nehmen wollen würde. Ich habe die Substanz vor etlichen Jahren mal drei Tage ausprobiert.

@Nico: Danke dir auch für den Link. Ich habe mir die Sendung angesehen.

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Lady Nightmare
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Beitrag Fr., 08.12.2023, 18:11

Heute war ich dann noch einmal im Pflegeheim. Die Agitation wie weggeblasen. Mein Vater sitzt beachtlich wach mit um 80 Prozent ruhigeren Beinen an seinem Tisch zwischen den anderen Bewohnern. Er ist in seinen üblichen Nörgelmodus zurückgekehrt. Kein Quengeln beim Abschied. Ich bin wahnsinnig erleichtert. Jetzt ist es mir peinlich, das hier so ausführlich ausgebreitet zu haben. Dass ich so "mitgehe" und so durchlässig bin, ist natürlich eine meiner Baustellen.

@Ziegenkind: Dir wünsche ich, dass die Situation stabil bleibt.


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ziegenkind
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Beitrag Fr., 08.12.2023, 19:17

Lady Nightmare, ich kann Dich so gut verstehen. Die Bauchschmerzen, die Übelkeit und die ängstliche Ungewissheit, wie wird er jetzt drauf sein. Da brauch Dir gar nichts peinlich zu sein. Das ist ungeheuer anstrengend und schmerzlich.

Mein Vater fragt mich immer noch jedes Mal, wo er denn jetzt zu Hause sei und ist jedes Mal ganz verstört, wenn ich sage "hier." Im Moment erkläre ich ihm dann immer, dass ich von allen die Einzige bin, die sich wegen Home Office und flexiblen Arbeitszeiten zuverlässig um ihn kümmern kann. Da ist er dann immer ganz gerührt.

Auf seine Freundin, die selber 89 ist und aus verständlichen Gründen aufgegeben hat - auch weil sie nicht drei Mal in der Nacht seinen Urin aufwischen oder die Bettwäsche wechseln kann - ist er zur Zeit gar nicht gut zu sprechen. Er fühlt sich von ihr verraten. Darüber habe ich heute lange mit ihm gesprochen. Ich hab ihm gesagt, ich telefonierte regelmäßig mit ihr, sie würde viel weinen und ihn sehr vermissen, weil sie ihn wirklich liebe, aber eben einfach erschöpft sei. Da wurde er ganz weich und sagte, er liebe sie auch. Mein Gefühl: Das ist wichtig für ihn, dass er nicht im Zorn und im Hass sein muss.

Ich will versuchen seine Freundin dazu zu bewegen, ihm in einem Brief ehrlich und aufrichtig zu schreiben, wie das alles für sie war und ist. Sie ist sehr konfliktscheu und hat ihm bis zum Schluss nichts Klares gesagt. Ich merke langsam, das mein Vater in existentiell wichtigen Dingen Klarheit braucht und schätzt - auch wenn sie weh tut.

Gleichzeitig ging das alles wirklich nicht mehr. Sie war so überfordert, dass sie permanent mit ihm geschimpft hat, v.a. wenn er nicht wie aus dem EI gepellt aussah, was er eigentlich immer tat, was aber für einen Demenzkranken - so lerne ich jetzt - ungeheuer anstrengend und eigentlich nicht möglich ist.

Ich lerne mich im Validieren und gehe mit seinen Geschichten mit. Heute hat er mir seinen Bruder im Spiegel vorgestellt und war ganz glücklich, dass ich den sehr nett fand. Die Gespräche mit diesem Spiegelbruder retten ihn vor der Einsamkeit. Ein wenig bewundere ich meinen Vater für seinen hoch-kreativen Umgang mit seinem Alleinsein. Auf die anderen Bewohner will er sich (noch?) nicht einlassen. Die sind ihm zu schräg. Ich verstehe das. Außerdem war er immer genre und viel allein. Er mache dann Kopfkino erklärte er mir.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.

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