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Di., 29.12.2015, 15:53
Vermutlich ist das nicht der Fall, aber mich würde interessieren, ob man als Multi typischerweise in ein und derselben Zeit und am selben Ort lebt. Ich selbst habe identitätsmäßig das komische Gefühl, mich bestimmten Orten und Epochen total verbunden zu fühlen, ohne dass ich jetzt bewusst sagen würde: "Hier finde ich es schön" oder "diese Persönlichkeit bewundere ich". Es ist auch nicht unbedingt eine Sehnsucht, sondern ich hab beim ersten Mal gedacht: "Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ich den Typen auf der Säule kenne" - das waren damals irgendwelche alten Römer in Rom. Es "funktioniert" aber nur mit Römern, und es ist nicht mal so, dass die mich besonders faszinierten oder ich besonders viel darüber wüsste. Mich hat dennoch das Vertraute zwischen mir und der Säule so irritiert. Ich stand da und hatte das Gefühl, ein Teil davon zu sein. Ähnlich ist das mit der Zeit des Nationalsozialismus: Wenn ich darüber lese oder Dokus sehe, dann fühlt es sich nicht an, als würde ich "irgendwas Historisches" machen, sondern als sei ich plötzlich direkt dabei, mittendrin. Ich hatte das schon als Kind, dass ich mich fühlte, als würde ich z.B. zu Sauerbruchs Familie gehören - während ich in Wirklichkeit bei einer Familie lebte, mit der ich überhaupt nichts zu tun zu haben schien.
Ich glaube auch nicht daran, dass man mehrmals lebt, und vielleicht handelt es sich wohl doch eher um eine Flucht und um Tagträumereien. Mich irritiert daran eigentlich nur diese fortwährende Verbundenheit. Auf Friedhöfen hab ich das ganz extrem mit bestimmten Toten. Einmal stand ich am Grab eines Schriftstellers und bin in Tränen ausgebrochen, weil ich mich dem plötzlich so verbunden gefühlt habe (nein, auch nicht plötzlich: Beim Lesen seiner Werke hatte ich dasselbe Gefühl, und die Dozenten, bei denen ich über diesen Mann referiert hab, sagten mir, sie würden diesen Schriftsteller aufgrund meiner "Hingabe" nun immer mit mir in Verbindung bringen).