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Fr., 04.12.2020, 08:39
Das ist natürlich bei manchen Menschen so... ich kenne auch Leute, die gelernt haben, sich auf ihrer psychischen Erkrankung auszuruhen und immer nur Rücksichtnahme einzufordern. Aber ich denke, da hilft ein konstruktives Gespräch sehr: "Was an der Aufgabe ist schwierig? Wir können dich ja an anderer Stelle entlasten (Aufgabe, die die Leute gerne machen)." Es gibt natürlich, nett ausgedrückt Drückeberger - mit und ohne psychische Beeinträchtigung - und die muss man eben immer einfangen, festnageln. Ich denke aber nicht, dass das für alle Menschen mit psychischer Beeinträchtigung gilt. Viele Menschen haben sowas und arbeiten trotzdem ganz normal. Ich hab das jetzt erst live in meiner Arbeit gelernt. Eine Kollegin wollte mich aufbauen, hat mir von ihrer schlechten Phase erzählt. Sie ist arbeiten gegangen, hat probiert es zu überspielen und hat dem Therapeuten den Auftrag gegeben, sie wieder funktionstüchtig zu machen, weil sie das eigentlich nicht mehr war. Ich kenne die Kollegin und die arbeitet sogar am Wochenende durch - kann schlecht abschalten, hat enorme Ansprüche. Auch das sind Menschen, denen es phasenweise schlecht geht und die trotzdem nicht auf Rücksichtnahme bestehen.
Und ich kann für mich sagen, dass sich seit meinem Outing nicht viel verändert hat und ich immer noch anspruchsvolle Aufgaben, genauso wie unliebsame Aufgaben übernehme. Und das dieses Outing mir gerade dadurch sogar irgendwie gut tat, weil ich in Gänze sein darf, wer ich bin und das trotzdem nicht dazu führte, dass die Kollegen mich anders sehen, mich anders behandeln. Hab jetzt auch ein sehr gutes Feedbackgespräch gehabt, ein super Zwischenzeugnis bekommen. Es ist einfach so: Wenn man nicht arbeitsfähig ist, sollte man sich rausnehmen, und ansonsten wirklich volle Leistung von sich erwarten. Faktisch bin ich eben für alle Menschen mit psychischer Behinderung diskursiv mitverantwortlich; ich will eben nicht, dass man sagt, dass sich solche Leute die Rosinen rauspicken, nicht belastbar sind etc. Ich hatte auch mal eine Kollegin, die wegen ihrer körperlichen Behinderungen eine Extrawurst haben wollte und das nervte natürlich, weil man da das Gefühl hatte: Dann such dir halt einen anderen Job... Kenne ich also auch.
Deshalb ist es aber so wichtig, dass man seine eigenen Stärken und Schwächen wirklich gut kennt und weiß, welchen Job man wirklich machen kann und im Bewerbungsgespräch da mit offenen Karten spielt. Und das ist oft auch der Vorteil von Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, weil die sich häufig wirklich mal damit auseinandersetzen mussten, was sie leisten können und wollen. Ich für mich bin kaum eingeschränkt, brauch eben nur wirklich Ruhephasen, damit ich arbeiten kann. Das heißt, wo andere Leute abends noch Sport treiben, bin ich halt schon im Bett. Das ist es mir aber Wert, weil ich unglaublich gerne arbeiten gehe. Ich kenne auch Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, die nur rummeckern, sich immer übervorteilt fühlen und damit schlechte Arbeitnehmer sind - aber die gibt es in der Allgemeinbevölkerung eben auch. In meinem Team wurde durch mein Ausfallen offenen über eigene Therapieerfahrungen geredet und 90% meiner Kollegen haben selbst Erfahrungen mit Psychotherapie und damit vermutlich einen an der Waffel. Und keiner ruht sich darauf aus. Es entlastet mich aber, dass ich das weiß, dass wir da offen gesprochen haben, weil ich mich nicht so fremd, andersartig fühlen muss. Ich denke daher schon, dass es wünschenswert wäre, wenn man da offen drüber spricht, nicht im Detail, aber es sollte aus meiner Sicht kein Tabu auf Arbeit sein, weil das Menschen mit psychischer Beeinträchtigung schon helfen kann. Ich will auch keine Selbsthilfegruppe, finde aber tatsächlich, dass es hilfreich ist, wenn du dich nicht verstecken/ schämen musst. Und ich denke schon, dass da ein Umdenken notwendig ist, damit diese Art von Beeinträchtigung keine Schande/ kein Stigma ist und die Leute auch mit realen Einschränkungen (Anorexie und Arbeitsessen zum Beispiel) offen umgehen können und da andere Wege gefunden werden, die für den Betroffenen machbar sind.
Ich hab an Gestern nicht gedacht und nicht an Morgen
Es ist Nacht, ich steh am Fenster
Und für einen Augenblick leb ich im Jetzt
von: Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen