Präsuizidales Syndrom

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R.L.Fellner
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Präsuizidales Syndrom

Beitrag Mi., 28.11.2007, 12:31

Der Begriff "präsuizidales Syndrom" stammt vom Wiener Psychiater Dr. Erwin Ringel, der die Gemeinsamkeiten im seelischen Erleben von Überlebenden untersuchte.

Er spricht von drei Punkten:
  1. Einengung
  2. Gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression
  3. Selbsttötungsphantasien
Durch das Zusammenspiel dieser drei "Bausteine" kommt es zu einem Teufelskreis, in dem sie sich gegenseitig verstärken.
  1. Einengung
    • Situative Einengung (Einengung der persönlichen Möglichkeiten)
      Das menschliche Leben ist durch eine Fülle von Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten geprägt. Im Zustand des präsuizidalen Syndroms ist dieses Gefühl jedoch weitestgehend nicht mehr vorhanden. Die Lebensumstände werden als bedrohlich, unveränderbar und unüberwindbar erlebt. Die eigene Person wird als klein, hilflos, ausgeliefert und ohnmächtig empfunden, die den übermächtigen Umständen ausgeliefert ist.
    • Dynamische Einengung (Einengung der Gefühlswelt)
      Die Stimmung, Gedanken, Vorstellungen und Assoziationen gehen nur mehr in eine Richtung. Durch diese einseitige Ausrichtung kommt es zu Depression, Verzweiflung, Angst und Panik oder zumindest nach außen hin zu einer unheimlichen Ruhe. Im Moment der Selbsttötung erreicht die dynamische Einengung ihren Höhepunkt. Nur ein gefühlsmäßiger Vorgang und nicht eine bloß rationale Überlegung vermag dies zu bewirken.
    • Einengung der zwischenmenschlichen Beziehung
      Für die Selbsttötung gefährdete Menschen sind einsam, isoliert, fühlen sich von anderen Menschen verlassen und unverstanden.
    • Einengung der Wertewelt
      Es tritt eine Störung der Wertbezogenheit auf, nichts hat mehr einen "Wert". Mangelnde Wertbezogenheit resultiert in Interessenslosigkeit, Gleichgültigkeit, "Verdünnung" des Lebens, Langeweile. Eine Folge ist die unzureichende praktische Wertverwirklichung, wodurch das Selbstwertgefühl weiter geschädigt oder zerstört wird. Das Überhandnehmen subjektiver Wertungen verstärkt die gefühlsmäßige Außenseiterpoition.
  2. Gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression
    Adler definiert Selbsttötung als eine klassische Racheaktion, wobei man zwar sich selbst treffe, damit aber zugleich andere für alle Zeiten vorwurfsvoll belaste.
    Selbsttötung erfordert eine enorm aggressive Haltung, in der sich die Aggression gegen die eigene Person richtet, obwohl im Grunde andere Menschen, auch in ihre Gesamtheit, also als "die Gesellschaft", das in Wirklichkeit gemeinte Ziel darstellen.
    Damit dies eintritt, müssen ein starkes Aggressionspotential vorhanden sein und eine Abreaktion nach außen muß verhindert sein.
  3. Selbsttötungsphantasien
    Viele Menschen haben schon einmal mit dem Gedanken gespielt, sich umzubringen. Bürger-Prinz meinte einmal, dass wir alle tot wären, wenn wir an unserem Körper eine Vorrichtung hätten, die ähnlich einem Lichtschalter auf "aus" gestellt werden kann.
    Solche gelegentlichen Ideen führen üblicherwiese nicht zum Suizid, sie sind an sich auch nicht als krankhaft zu sehen.
    Im Zustand des präsuizidalen Syndroms unterscheidet sich die intensive gedankliche Beschäftigung mit der Selbsttötung davon grundlegend. Es läßt sich zwischen den zunächst aktiven, das heißt willentlich intendierten, Suizidvorstellungen unterscheiden und den späteren passiven, welche sich einfach, oft gegen den Willen und auch in Form von Zwangsgedanken aufdrängen. Was zunächst ähnlich wie ein Entlastungsmechanismus wirkt, kann sich zu einer heftigen Bedrohung entwickeln, wenn sich die Phantasien verselbständigen. Jede derartige Phantasie ist allerdings eine Flucht aus der Wirklichkeit. Dies gilt auch für die Vorstellung tot zu sein. Meist verstehen die Betroffenen schon einige Tage später nicht mehr, wie sie ursprünglich nur auf derartige Gedanken kommen konnten.
Die Inhalte der Phantasien lassen sich in drei Stufen unterteilen:
  • Die Vorstellung, tot zu sein
    Es geht bei dieser Phantasie um den Lustgewinn und Effekt, den dieses Ereignis bei den Mitmenschen auslöst und nicht um den Akt des Sterbens selbst. Es geht nicht um den Akt der Selbsttötung, sondern nur um das Ergebnis. Der Vorgang des Sterbens selbst wird übersprungen. Als "Toter" bleibt man in der Phantasie sozusagen am Leben und genießt den "Lustgewinn". Wie in den Phantasien oder Tagträumen von Kindern kann der Tod dabei jederzeit ungeschehen gemacht werden.
  • Die Vorstellung, Hand an sich zu legen
    Die zweite Stufe besteht in der Vorstellung, Hand an sich zu legen, ohne dass dabei konkrete Methoden oder Vorgehensweisen phantasiert werden.
  • Die detaillierte Vorstellung der Methode der Selbsttötung
    In der dritten Stufe, in welcher höchste Gefahr besteht, wird die konkrete Durchführung, oft bis in das kleinste Detail gehend, geplant. Von hier zur aktuellen Durchführung ist es nur mehr ein kleiner Schritt.
(Quelle: persönlichkeit & psyche)

Suizidphantasien und Suizidgedanken treten auf, wenn ein fortgeschrittenes depressives Störungsbild vorliegt. Depressionen sind heute gut behandelbar, auch wenn es mitunter eine gewisse Zeit dauern kann, bis Psychotherapie (und fallweise erforderliche Antidepressiva) ansprechen.

Wenn Sie Symptome eines präsuizidalen Syndroms an sich bemerken, wenden Sie sich umgehend an einen Facharzt für Psychiatrie oder Neurologie oder an einen/Ihren Psychotherapeuten(in). Ein Internet-Forum wie dieses hier kann Ihnen in einer solchen psychischen Situation nicht adäquat weiterhelfen!

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aradiasophie
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Beitrag Sa., 19.01.2008, 02:26

Hallo Hr Dr Fellner!
Bei mir wurde im Rahmen der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung auch eine präsuizidale Haltung festgestellt. Was wäre das? Hab mich in einigen ihrer angeführten Punkten als Jugendliche wiedererkannt. Aber Jahre später bin ich ja doch froh noch nicht tot zu sein. Und was sind die Ich-Funktionen zur Wahrnehmung der Realität? Ich weiß ja, dass ich existiere.?.
aradiasophie
auch Engel wissen manchmal nicht ob Licht oder Finsteniss ihr zu hause ist

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Britt_Stadler
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Beitrag Mi., 26.12.2012, 12:35

Gibt es dieses Syndrom auch für sich alleine stehend oder gehört es Zwangsläufig zu einer Depression o.ä. dazu?
"Vertrauen ist Mut, und Treue ist Kraft."

Maria von Ebner- Eschenbach

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Dilemma
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Beitrag Mi., 26.12.2012, 17:22

Mich interessiert, was ich mache, wenn es meinen Therapeuten nicht interessiert? Er hört sich das an, sagt nichts dazu und reagiert nicht. Zum Glück sind es ja immer nur Phasen, aber in diesen brauche ich Hilfe. Habe Angst meinen Impuls nicht kontrollieren zu können und weiß, dass es gefährlich werden könnte, wenn ich in diesen Phasen alleine bin. Doch wenn es den Therapeuten nicht interessiert und den Partner auch nicht, interessiert es mich langsam in diesen Phasen auch nicht mehr. Es heißt immer, Menschen die in dieser Situation sind, sollen sich Hilfe holen und die sieht dann so aus, dass dieser Zustand ignoriert wird

Vertrauenswürdig ist das nicht und sehr verletztend. Zum Glück bin ich jetzt wieder stabil, aber die letzte Krise war sehr heftig und die Angst, vor der nächsten Krise, ist enorm.

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candle.
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Beitrag Mi., 26.12.2012, 17:26

Britt_Stadler hat geschrieben:Gibt es dieses Syndrom auch für sich alleine stehend oder gehört es Zwangsläufig zu einer Depression o.ä. dazu?
Nein, das denke ich nicht. Suizidalität hängt wohl immer mit depressiven Phasen zusammen, sie kommen nicht aus dem Nichts.

Frohe Weihnachten!
candle

@ Dilemma, hast du es mal mit dem Notarzt/ Krankenwagen oder sonstigen Hilfen versucht? Es ist sicher die beste Lösung in die Klinik zu fahren im Akutfall.
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Eiswürfel
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Beitrag Mi., 26.12.2012, 23:09

Der Zeitraum wäre auch interessant. Gibt ja auch ganz spontane Selbstmorde, wenn Leute erfahren, dass sie Krebs haben und aufgrund dessen Bungee Jumping ohne Bungee wagen. Außerdem, ist dieses Syndrom (streng) monoton steigend?

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Engel22
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Beiträge: 167

Beitrag Mi., 26.12.2012, 23:15

Es gibt ja verschiedene Formen des suizides und solche plötzlichen Sachen (wie Tumorerkrankungen) sind ja dann Kurzschlussreaktionen.

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Dilemma
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Beiträge: 111

Beitrag Do., 27.12.2012, 00:27

Hallo Candle,

in diesen Phasen bin ich zum Glück noch soweit handlungsfähig und merke es rechtzeitig um mich mitzuteilen.

Wir haben hier eine Psychiatrie, in die ich mich begeben könnte, leider ist es dort nicht sehr vertrauenswürdig und die Behandlung dort beschränkt sich ausschließlich auf Medikamente.
Ich würde mir das gerne ersparen, werde es aber bei der nächsten schweren Krise in Erwägung
ziehen.

LG Dilemma

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