Psychisch erkrankte Mutter - ein Zwiespalt der Gefühle

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shichan
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Psychisch erkrankte Mutter - ein Zwiespalt der Gefühle

Beitrag Do., 17.07.2025, 18:47

Hallo zusammen,

ich bin neu hier im Forum und auf der Suche nach Austausch mit anderen Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen – vor allem mit denen, die eine ähnlich belastende Beziehung zu einem Elternteil erleben. Vorab möchte ich mich für die Länge des Beitrags entschuldigen - ich muss an einigen Punkten jedoch weiter ausholen, um alles verständlich zu machen.

Ende März ist mein Vater ganz plötzlich mit nur 63 Jahren verstorben. Dieser Verlust trifft mich sehr, aber ich finde kaum Raum zu trauern – denn die Beziehung zu meiner Mutter überschattet momentan alles.

Schon seit vielen Jahren zeigt sie ein für mich sehr belastendes Verhalten, das möglicherweise auf eine psychische Erkrankung hindeutet: starke Stimmungsschwankungen, Schuldzuweisungen, emotionale Erpressung, Manipulation und Kontrollverhalten. Kommunikation mit ihr fühlt sich oft an wie ein Minenfeld – ich muss ständig auf Tonfall, Mimik und Formulierungen achten, um keine Eskalation auszulösen. Seit dem Tod meines Vaters hat sich diese Dynamik noch verstärkt. Ich erlebe viel Druck, Schuldgefühle und emotionale Erschöpfung.

Zur Einordnung: Als mein Vater starb, war ich mit meinem Partner gerade im Urlaub am Gardasee. Wir sind sofort zurück nach Berlin gereist und waren rund zehn Tage bei meiner Mutter, um sie zu unterstützen. Während dieser Zeit haben wir viel für sie organisiert, Beerdigung geplant, Hobbyraum 1 leergeräumt. Wir haben ein Fernwartungstool auf ihrem Handy eingerichtet, damit wir ihr aus der Ferne helfen können. Doch anstatt das anzunehmen, äußerte sie nur, dass ihre Freunde und Kollegen „wenigstens für sie da sind“. (Den Kontakt zu diesen hatte sie übrigens zuvor komplett abgebrochen – ich habe sie eigenständig informiert und um Unterstützung gebeten).

Kurz nach unserer Rückkehr in unseren 450 km entfernten Wohnort bin ich selbst schwer erkrankt: Am 17. April wurde ich mit einer gefährlichen Wirbelsäulenerkrankung ins Krankenhaus eingeliefert, musste mehrfach operiert werden und war bis zum 9. Juli stationär (inkl. Reha). Ohne diese Operation wäre ich vom zweiten Halswirbel abwärts gelähmt gewesen – meiner Mutter war das bewusst.

Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie keinerlei Mitgefühl zeigen konnte. Während der Beerdigung meines Vaters – bei der ich noch deutlich eingeschränkt war – sprach sie kein Wort mit mir, würdigte mich keines Blickes. Sie scheuchte mich sogar von meinem Sitzplatz neben ihr in der Kapelle weg, da sie neben ihrer Freundin sitzen wolle usw. Mein Partner und ich hatten uns bewusst entschieden, im Hotel zu schlafen, um emotional Abstand wahren zu können und weil ich aufgrund der Einschränkungen eine barrierefreie Übernachtung benötigt habe. Dass sie dies kränkte, wurde uns erst später klar – sie hatte nie offen darüber gesprochen, sondern lediglich kommentiert: „Dann muss ich halt sehen, wo ich es nach der Beerdigung beende. Ich bin ja alleine.“ (Indirekt hat sie mir mal wieder mit Selbstmord gedroht, um ihren Willen zu bekommen). Als ich daraufhin eine Freundin von ihr kontaktierte, teilte diese mir mit, dass sie längst geplant hatte, bei ihr zu übernachten.

Ein weiteres Beispiel: Als ich beiläufig erwähnte, dass ich nach über vier Monaten Arbeitsunfähigkeit noch rund 30 Tage Urlaub übrig habe und vielleicht einen kleinen Tapetenwechsel plane, wurde sie sofort wütend – mit dem Vorwurf, wie ich in so einer Zeit überhaupt an eine Reise denken könne statt ihr zu helfen die Hobbyräume meines Vaters aufzulösen. Jetzt droht sie mir damit die persönlichen Dinge meines Vaters (eine Drehmachiene), die für mich einen hohen idealen Wert haben wegzuschmeißen, weil ich sie noch nicht abgeholt habe (Nochmal. Ich war fast 3 Monate im Krankenhaus - es ging körperlich nicht - zudem können wir nichtmal eben 450km fahren um ein paar Dinge im Hobbyraum umzuräumen). Immer wieder wird mein Erleben ausgeblendet oder infrage gestellt, als hätte ich kein Recht auf Erholung oder eigenen Schmerz. Es fühlt sich oft an wie Gaslighting.

Schon in meiner Kindheit war die Beziehung schwierig: Seit ich etwa 10 Jahre alt bin, hat meine Mutter in emotional belastenden Situationen mit Selbstmord gedroht – mit Sätzen wie „Dann bring ich mich eben um“ – und war dann stundenlang verschwunden. Auch heute droht sie in Konfliktsituationen weiterhin mit suizidalen Aussagen. Ich habe deshalb mittlerweile den sozialpsychiatrischen Notdienst kontaktiert und melde alle konkreten Drohungen. Eine Therapie lehnt sie kategorisch ab – Zitat: „Ich bin doch nicht verrückt.“

... weiter gehts im ersten Kommentar

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shichan
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Beitrag Do., 17.07.2025, 18:49

Ich habe sogar – mit Unterstützung des sozialpsychiatrischen Notdienstes – eine Trauergruppe für sie organisiert, weil ich hoffte, dass ihr der Austausch mit anderen Betroffenen guttun könnte. Als ich sie ermutigte, dort hinzugehen, sagte sie nur: „Nein sind nicht in der gleichen Situation, die haben wenigstens noch ihre Familie.“ Solche Bemerkungen sind leider keine Ausnahme – ich höre oft ähnliche, verletzende Sätze, die mich klein und schuldig fühlen lassen.

Ganz gleich, was ich tue – es scheint nie genug zu sein. Manchmal denke ich: Selbst wenn ich meinen Partner verlassen, meinen Job kündigen und zu ihr ziehen würde, wäre es immer noch nicht richtig. Es fühlt sich an, als gäbe es keine Form von Zuwendung, die ausreicht.

Auch im Alltag merke ich, wie stark sich alles um ihre Bedürfnisse dreht: Wenn ich sie tagsüber anrufe, werde ich angeschrien – sie möchte nur abends telefonieren, weil sie sich dann einsam fühlt. Selbst wenn ich 90 Minuten mit ihr rede, ist sie beleidigt, sobald ich irgendwann das Gespräch beende. Inhaltlich drehen sich die Gespräche ausschließlich um sie und ihre Trauer – für mein eigenes Erleben, meine Situation, meine Bedürfnisse ist kein Raum. Ich traue mich gar nicht mehr irgendwas positives aus meinem Leben zu berichten, da eh alles negativ kommentiert wird und mir verglichen mit dem Verlust ihres Mannes, meines Vaters nichtig vorkommt. Ich verlasse solche Gespräche meistens erschöpft, manchmal sogar mit Schuldgefühlen, obwohl ich eigentlich helfen wollte.

Mir ist bewusst, dass meine Mutter trauert – und ich weiß auch, dass Menschen sehr unterschiedlich mit Verlust umgehen. Aber die schwierige Dynamik zwischen uns besteht nicht erst seit dem Tod meines Vaters. Ihre Ausbrüche, ihre emotionale Erpressung und der unterschwellige Druck begleiten mich seit meiner Kindheit – das sind keine neuen Verhaltensweisen, sondern alte Muster, die sich durch ihre Trauer lediglich verstärken.

Was mich zusätzlich verletzt: Sie kann durchaus freundlich, hilfsbereit und wertschätzend sein – nur eben nicht zu mir. Im Umgang mit Kollegen, Bekannten oder früheren Freunden zeigt sie sich oft ganz anders. Bei mir hingegen habe ich das Gefühl, ständig auf einem Prüfstand zu stehen und nie zu genügen – unabhängig davon, wie sehr ich mich bemühe.

Ich selbst habe inzwischen Unterstützung gesucht: Bei der Caritas habe ich ein sehr hilfreiches Gespräch geführt, eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von psychisch kranken Menschen angefragt (leider mit Warteliste) und bald beginnt auch meine psychologische Begleitung. Die Fachkräfte haben meinen Wunsch nach Abgrenzung als absolut berechtigt und gesund eingeordnet. Denn ich merke zunehmend: Ich habe mein Leben lang versucht, das emotionale Gleichgewicht meiner Mutter zu regulieren – aber dabei völlig verlernt, mich selbst zu schützen.

Ich bin hier, weil ich Menschen suche, denen es ähnlich geht. Die vielleicht auch zwischen Mitgefühl und Selbstschutz zerrieben werden. Die sich fragen:
Wo endet Fürsorge – und wo beginnt Selbstaufgabe?

Ich danke euch, dass ich mich hier öffnen darf und freue mich sehr auf den Austausch mit euch.
Herzliche Grüße

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Zauberlehrling
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Beitrag Do., 17.07.2025, 20:43

Ich würde mich fragen, inwiefern ich einen Menschen wie deine Mutter in meinem Leben bräuchte. Oder anders: Wofür brauchst du deine Mutter?

Herzliches Beileid zum Verlust deines Vaters!
Novembernacht

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shichan
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Beitrag Do., 17.07.2025, 21:06

Du stellst mir genau die Frage, die mir die Sozialberaterin der Caritas ebenfalls gestellt hat. Grundsätzlich - ich weiß es nicht. Ich habe den Kontakt eig. nur aus Pflichtgefühl oder kurz gesagt "es ist halt meine Mutter". Ich glaube, es hängt stark damit zusammen, dass ich schon seit meiner frühesten Kindheit das Gefühl hatte, für ihr emotionales Gleichgewicht verantwortlich zu sein. Dieses Muster sitzt tief in mir. Genaues möchte ich in einer Therapie aufarbeiten. Montag habe ich diesbezüglich und auf Anraten der Caritas ein Erstgespräch mit einer Therapeutin.

Den Kontakt habe ich seit der Beerdigung pausiert. (Kontaktabbruch klingt so hart. Wenn sie eine Therapie machen würde wäre ich die letzte, die ihr nicht verzeihen würde).

Trotzdem begleitet mich ein schlechtes Gewissen – auch weil ich innerlich noch immer diese alte Verantwortung spüre. Was mir zusätzlich auffällt: Sie meldet sich nie von sich aus, sondern es wird stets vorausgesetzt, dass ich den Kontakt halte.

Schon früher gab es viele Momente, in denen ich den Kontakt gerne auf Eis gelegt hätte – doch ich habe es nie getan. Nicht zuletzt, weil ich meinem Vater zuliebe den Familienfrieden erhalten wollte. Ich wusste, dass es ihn belasten würde, wenn ich mich distanziere. Jetzt, da er nicht mehr da ist, fallen diese Rücksichten weg – und ich versuche zum ersten Mal herauszufinden, was für mich eigentlich gesund ist.

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münchnerkindl
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Beitrag Do., 17.07.2025, 21:17

Ich würde die Drehbank an der du emotional hängst abholen lassen und dann auf Distanz gehen.

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Sinarellas
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Beitrag Fr., 18.07.2025, 07:13

Mir war es zu viel Text, ich habe nur den ersten Beitrag gelesen und bei ganz vielen Sachen denke ich mir:
Ja da hat die Mutter einen sehr sehr schlimmen Verlust erlitten, Vater ist das eine, Lebenspartner das andere, da prallen Erlebniswelten aufeinander maybe.
Dann lese ich, dass du unendlich viel mechanisch für sie tust weils deine Pflicht ist und gleichzeitig wunderst du dich, warum sie das nicht annehmen will und sie entgegnet, dass Kontakt xy wenigstens (physikalisch) da ist. Sie teilt sich dir mit wie ein kleines Kind und du reagierst auf sie wie eine Mutter (ich bin dafür verantwortlich wie sie sich fühlt, ich muss ihre Affekte lösen usw). Kann nicht gut gehen. Was ich da lese ist ein vertauschtes Mutter-Tochter Verhältnis und sie hat nicht die kognitiven Kapazitäten Selbstreflexion zu bewerkstelligen.

Stell dir öfters mal vor: Morgen ist sie tot. Du kannst sie nichts mehr fragen, nichts mehr diskutieren, nichts mehr lösen. Bist du damit fine? Läuft dein Leben besser weiter? -> Vielleicht doch mal über den Sinn deiner Beziehung zu ihr global bedenken. nicht fine? Gönn dir Abstand und erwachsenen (!) Kontakt nach deinen Bedürfnissen.
..:..

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shichan
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Beiträge: 17

Beitrag Fr., 18.07.2025, 10:28

Sinarellas hat geschrieben: Fr., 18.07.2025, 07:13 Dann lese ich, dass du unendlich viel mechanisch für sie tust weils deine Pflicht ist und gleichzeitig wunderst du dich, warum sie das nicht annehmen will und sie entgegnet, dass Kontakt xy wenigstens (physikalisch) da ist. Sie teilt sich dir mit wie ein kleines Kind und du reagierst auf sie wie eine Mutter (ich bin dafür verantwortlich wie sie sich fühlt, ich muss ihre Affekte lösen usw). Kann nicht gut gehen. Was ich da lese ist ein vertauschtes Mutter-Tochter Verhältnis und sie hat nicht die kognitiven Kapazitäten Selbstreflexion zu bewerkstelligen.
Du hast einen Punkt getroffen, den ich selbst gerade erst beginne zu begreifen: dieses vertauschte Mutter-Tochter-Verhältnis. Dass ich emotional schon lange die Rolle übernommen habe, die eigentlich ihr zustehen würde – und dass ich dadurch automatisch in diese Verantwortung rutsche, ihre Emotionen „zu regulieren“, obwohl ich das weder kann noch sollte. Das Bild mit dem kleinen Kind trifft es erschreckend gut: Sie teilt sich so impulsiv mit, erwartet sofortige emotionale Reaktion, überträgt mir unterschwellig Schuld oder Verantwortung.
Sinarellas hat geschrieben: Fr., 18.07.2025, 07:13 Stell dir öfters mal vor: Morgen ist sie tot. Du kannst sie nichts mehr fragen, nichts mehr diskutieren, nichts mehr lösen. Bist du damit fine? Läuft dein Leben besser weiter? -> Vielleicht doch mal über den Sinn deiner Beziehung zu ihr global bedenken. nicht fine? Gönn dir Abstand und erwachsenen (!) Kontakt nach deinen Bedürfnissen.
Die Frage „Was, wenn sie morgen tot wäre?“ hat mich berührt. Weil ich sie mir genauso in letzter Zeit stelle. Ich habe gerade erst meinen Vater verloren – und bei ihm spüre ich Trauer, Sehnsucht, Liebe. Bei meiner Mutter… ist alles komplizierter. Da ist oft eher ein dumpfes Schuldgefühl und die Angst, etwas „falsch“ zu machen – aber wenig ehrliches Bedürfnis nach Nähe. Als sie mir mal wieder mit Suizid gedroht hat, wart mein einziger Gedanke "boah ne ich habe jetzt keine Lust, eine Wohnung aufzulösen.", was einfach nur zeigt wie erschöpft ich davon gerade bin.

Oft habe ich den Gedanken eines völligen Kontaktabbruchs, in 20 Jahren nach ihrem Tod ihre Wohnung zu betreten und vorzufinden wie einsam sie die letzte Zeit war, zu sehen wie sie dort "gehaust" hat. Das macht mich traurig. Sie hat den Kontakt zu ihren Eltern selbst abgebrochen gehabt. Erst nach knapp 10 Jahren war der Kontakt zu meiner Oma wieder da, nachdem ihr Vater starb. Sie hat sich deswegen auch sehr schlecht gefühlt.

Ich merke mehr und mehr, dass ich im Kontakt mit ihr mich selbst verliere. Und dass ich diesen „Sinn unserer Beziehung“ nie wirklich hinterfragt habe – sondern sie vielmehr als Pflicht empfunden habe.

Aber das sind gerade die Gefühle, die mich innerlich zerreißen: Das Pflichtgefühl ihr gegenüber und zeitgleich der Selbstschutz.

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Sarana
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Beitrag Fr., 18.07.2025, 12:37

Also erstmal herzlich willkommen, liebe shichan. Das klingt wirklich furchtbar anstrengend, und ich bin echt froh, dass du sowohl schon Unterstützung hast (hoffe zumindest mal, dass dein Partner hier zählt), und dass du dir mehr Unterstützung suchst.

Nimm dir die Zeit, dich selbst zu finden, und auszutesten, wie viel Abgrenzung du brauchst, was dir gut tut, und was dir Kraft entzieht. Und gönn es dir selbst, ausgleichende Erfahrungen zu machen! Deine Mutter ist halt da, und auch, wenn du komplett den Kontakt abbrichst, wirst du keine andere Mutter haben. Das ist hart, und es tut weh, und es ist vollkommen ok, genau das zu betrauern. Freunde und Partner aber kannst du dir im Hier und Jetzt aussuchen, und ich wünsche dir viele Menschen in deiner Umgebung, die dir mit Respekt und Wertschätzung begegnen.

So einiges davon kenn ich von meiner eigenen Familie. Unter anderem auch das mit den Schuldgefühlen, aber auch, wie man selbst erst mit Abstand, oder durch Rückmeldungen anderer merkt, wie unglaublich verstrickt man selbst ist. Du hast zum Beispiel viele Rechtfertigungen in deinem Text drin, viel "Ich konnte wirklich nicht anders!", wo das eigentlich gar nicht nötig wäre. Genau das meine ich mit ausgleichenden Erfahrungen - deine Mutter ist so drauf, dass du dich für alles entschuldigen und erklären und rechtfertigen musst. Dabei würden die meisten Menschen nicht mal auf die Idee kommen, zu sagen, ja ok, dann werf ich die Sachen deines Vaters halt weg, wenn du jetzt in den Urlaub fährst, wie kannst du es nur wagen... Wenn sie zum Beispiel nicht mehr damit klarkommt, diese Gegenstände in ihrem direkten Umfeld zu haben, gäbe es viele verschiedene Wege, das auszudrücken, und vielleicht mit dir gemeinsam eine Lösung zu suchen. Vorwürfe und Forderungen sind halt ein möglicher, aber auch ein sehr beschissener Weg, das zu tun.

Mit Teilen meiner Familie habe ich gar keinen Kontakt mehr, mit anderen Teilen nur sporadisch. Bei einer Person zum Beispiel hat sich wirklich einiges verbessert, und es ist klar sichtbar, dass sie sich wirklich Mühe gibt. Trotzdem ist es auch heute noch so, dass ich ihr manchmal mit ruhiger, fester Stimme erklären muss, dass sie mich nicht anschreien darf, und ich in dem Fall das Telefongespräch abbrechen oder aus dem Raum gehen werde. Und das ist nicht normal, ok, oder sonstwas. Das kostet unheimlich viel Kraft, und Schuldgefühl hin oder her, mir geht es besser, wenn ich den Kontakt sehr gering halte. Sei als allererstes auf deiner eigenen Seite. Du merkst selbst, und hörst es immer öfter, dass das Verhalten deiner Mutter überhaupt nicht ok ist. Erlaub dir das. Trauer darum. Wie viel Kontakt du am Ende mit ihr haben wirst, und haben willst, ergibt sich mit der Zeit.
"Not doing life today. Love to. But can't."


ziegenkind
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Beitrag Fr., 18.07.2025, 12:58

Meine Erfahrung: ich brauchte ein paar Jahre Kontaktabbruch zu meinen Eltern, um mich aus den Verstrickungen zu lösen. Danach konnte ich sie dosiert wieder sehen, mich sauber abgrenzen und am Ende hat meine Klarheit sogar ein klitzekleines bisschen an ihrem Verhalten geädert. Ich habe beide im Sterben begleitet. Das wäre ohne die Jahre der Klärung nicht gegangen.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.


Entknoten
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Beiträge: 260

Beitrag Fr., 18.07.2025, 18:00

Hast Du Dir schon mal die Frage gestellt, was Dir der Kontakt bringt?
Manchmal halten wir ja auch an dramatischen Beziehungen fest, weil sie und etwas geben: Aufmerksamkeit, Bedeutung, Bestätigung von Dritten.
Manchmal leidet man ja um das Leidens Willen. Und das nicht nicht böse gemeint.
Niemand muss Kontakt zu seinen Eltern haben. Ich habe den Kontakt zu meiner Mutter vor 12 Jahren beendet.
Dum spiro spero. Dum spero amo. Dum amo vivo.
Cicero

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shichan
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Beitrag Sa., 19.07.2025, 08:49

Danke euch für eure ehrlichen Rückmeldungen. Es ist spannend – und auch etwas erschreckend – dass allein das, was ich hier bislang erzählt habe, schon mehrfach als Grund für einen Kontaktabbruch gesehen wird. Dabei habe ich die wirklich schwerwiegenden oder schmerzhaftesten Erlebnisse bisher gar nicht erwähnt. Das macht mir noch einmal bewusst, wie tief dieses Thema sitzt und wie sehr ich es über all die Jahre normalisiert habe.

Für mich fühlt sich der Begriff Kontaktabbruch noch sehr groß und endgültig an – vielleicht, weil mein inneres Kind immer noch an der Hoffnung festhält, gesehen oder gehört zu werden. Aber was ich inzwischen begreife: Dieses „Pause machen“ oder „Abstand halten“ ist nicht nur erlaubt, sondern manchmal schlicht notwendig, um überhaupt wieder bei sich selbst ankommen zu können. Ich danke euch sehr für eure Perspektiven – sie helfen mir, meine Gefühle nicht länger kleinzureden.

Habt ihr den Kontaktabbruch mit einem Brief an eure Eltern angekündigt oder einfach gar keinen Kontakt mehr gehabt?


theweirdeffekt
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Beiträge: 742

Beitrag Sa., 19.07.2025, 08:58

Hallo und willkommen im Forum,

es tut mir leid, dass es dir so schlecht geht. Ich habe auch jemanden in meiner Familie, mit psychischer Erkrankung. Sowas dominiert gerne das gesamte Familiensystem.
shichan hat geschrieben: Fr., 18.07.2025, 10:28 Als sie mir mal wieder mit Suizid gedroht hat, wart mein einziger Gedanke "boah ne ich habe jetzt keine Lust, eine Wohnung aufzulösen.", was einfach nur zeigt wie erschöpft ich davon gerade bin.
Auf derartige Drohungen hatte ich sogar schon den Gedanken „dann wäre wenigstens endlich Ruhe“. Mit 1000 Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Heute weiß ich, dass das einfach zeigt, wie das krankhafte Verhalten, die emotionale Erpressung auch fürs Umfeld ist.

Sie wird sich von selbst nicht nie ändern. Du wirst ihr auch nie genügen (können). Das liegt und lag nie an dir. Weil du ganz sicher ein wertvoller, unterstützender und emphatischer Mensch bist. Das liest man in deinen Ausführungen. Darum ist es wichtig, dass du für dich Strategien findest. Den PSD bei Selbstmorddrohungen anrufen, ist zB schon eine gute Strategie. Das du selbst in Therapie gehst, ebenso.

Herzliches Beileid auch für deinen Verlust. Das für sich, wäre alleine schon fordernd genug.

Alles Gute
Kopf hoch... Sonst kannst du die Sterne nicht sehen

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shichan
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Beitrag So., 20.07.2025, 12:51

Hallo ihr Lieben,
ich wollte etwas mit euch teilen, das mich aktuell sehr beschäftigt. Gestern habe ich einen handgeschriebenen Brief von meiner Mutter bekommen. Oberflächlich betrachtet wirkt er versöhnlich – sie schreibt, dass sie traurig über den wenigen Kontakt ist, dass sie sich einsam fühlt, dass sie stolz auf mich ist und hofft, dass wir wieder zueinanderfinden.

Aber in mir löst der Brief sehr widersprüchliche Gefühle aus – ich bin irritiert, traurig, aber auch wütend und überfordert.
Ich habe ihr zuletzt am 7.7. auf eine Nachricht geantwortet, es gab also durchaus Kontakt – aber im Brief klingt es so, als hätte ich sie monatelang komplett ignoriert. (Dabei ist sie diejenige die mich auf der Beerdigung ignoriert hat).
Das fühlt sich für mich überzogen und unfair an. Es wird so getan, als wäre der Kontakt komplett abgebrochen, aber meine Realität wird darin nicht erwähnt. Mein körperlicher und emotionaler Zustand nach dem Krankenhausaufenthalt oder unsere angespannte Beziehung – nichts davon findet Raum.

Stattdessen bekomme ich unterschwellig das Gefühl vermittelt, ich sei diejenige, die den Kontakt „verhindert“ oder „zerstört“. Und das, obwohl ich seit Jahren versuche, mit ihren Ausbrüchen, Vorwürfen und der ständigen Verantwortung, die sie auf mich projiziert, umzugehen. Sie betont zwar, wie stolz sie auf mich ist – aber gleichzeitig wirkt das wie ein Mittel, um mich emotional zurückzuholen in meine alte Rolle: funktionierend, verständnisvoll, verfügbar.

Ich merke, wie sehr mich dieser Brief wieder in innere Konflikte stürzt. Einerseits ist es meine Mutter, sie ist allein, sie trauert, und ich weiß, dass ihre Worte vielleicht ein Ausdruck von Überforderung sind. Andererseits ignoriert sie – wie so oft – völlig meine Seite, meine Verletzungen, meine Grenzen. Und das tut weh.

Ich frage mich: Ist dieser Brief wirklich ein Schritt auf mich zu? Oder nur ein neuer Versuch, den Kontakt nach ihren Bedingungen wiederherzustellen – ohne Veränderung, ohne echtes Zuhören?

Des Weiteren hat sie abgesehen von der letzten organisatorischen WhatsApp keinen Kontakt aufgenommen - kein Anruf oder ähnliches. Hätte sie angerufen, wäre ich ja rangegangen. 🤷‍♀️

Kennt jemand von euch solche Briefe? Wie habt ihr darauf reagiert? Und wie gelingt euch der Spagat zwischen Empathie und Selbstschutz?

Danke, dass ich das hier lassen darf.


Waldschratin
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Beitrag Mo., 21.07.2025, 12:15

Liebe shichan,
du gibst dir deine Antworten im Prinzip schon selbst - Gott sei Dank, denn das sagt mir, dass du bei dir sein kannst und dich trotz allem nicht hast restlos "absorbieren" lassen von deiner Mutter.
shichan hat geschrieben:Stattdessen bekomme ich unterschwellig das Gefühl vermittelt, ich sei diejenige, die den Kontakt „verhindert“ oder „zerstört“.
Bei solch einer Störung ist es für den Betroffenen wohl völlig egal, wer dazu benutzt wird. Ich kann von meiner Mutter berichten, dass sie nie jemanden als eigenständige Person, als gleichwertiges Gegenüber empfunden hat, sie hat alles und jeden instrumentalisiert und dazu hergenommen, ihre eigene Störung und die dadurch in ihr vorhandenen emotionalen Defizite auf Teufel komm raus über und durch andere auszugleichen.

Ich hab diese Störung jahrzehntelang "studiert", schon aus der eigenen Notwendigkeit, so einen Umgang mit mir als ihrem Kind überlebt zu bekommen.
Dabei fallen mir immer wieder ganz ähnliche Strukturen auf : Das Gegenüber zum „Täter“ zu machen z.B.
In einer Absolutheit, die sich gewaschen hat und zu keinem Funken "Kompromiss" fähig ist, weil dann wohl das eigene (falls vorhandene) Selbst zerbröselt, wenn nicht über einen "Avatar" das Eigene im Anderen kompensiert und über und vom Anderen "ernährt" wird.
shichan hat geschrieben:Ich merke, wie sehr mich dieser Brief wieder in innere Konflikte stürzt. Einerseits ist es meine Mutter, sie ist allein, sie trauert, und ich weiß, dass ihre Worte vielleicht ein Ausdruck von Überforderung sind. Andererseits ignoriert sie – wie so oft – völlig meine Seite, meine Verletzungen, meine Grenzen.
Ich denke, das ist nicht nur Ausdruck von Überforderung. Das würde ja bedeuten, dass an sich ein "Normalmaß" an Empathie für dich vorher schon vorhanden gewesen wäre in ihr.
Kannst du dich da an wirklich echte Erlebnisse erinnern, wo es deiner Mutter um dich und nur um dich ging? Wo du dich nicht nur wahrgenommen "wusstest", anhand dessen, was sie zu dir (oder meist Anderen drumherum) sagte oder dir tat, sondern dich auch so gefühlt, es so erlebt hast, ganz ohne schalen Beigeschmack von "Eigentlich gehts aber ja doch wieder mal ausschließlich um sie"?
shichan hat geschrieben:Ich frage mich: Ist dieser Brief wirklich ein Schritt auf mich zu? Oder nur ein neuer Versuch, den Kontakt nach ihren Bedingungen wiederherzustellen – ohne Veränderung, ohne echtes Zuhören?
Wie oft hat sie es denn in den letzten 35 Jahren schon mal entsprechend in die Tat umgesetzt?

Wenn diese Grundstruktur von sich ausleben und spüren so absolut über Andere geschieht, schließt sich eine "echte" Veränderung wohl von selbst aus. Denn wenn deine Mutter tatsächlich mal sich selbst reflektieren würde und zu der Einsicht käme, dass sie nicht in Absolutheit "perfekt und vollkommen" ist, dann fällt ihre Persönlichkeit ja im selben Moment auseinander.

Das erklärt mir diese vehemente Ausschließlichkeit, der ich da auch immer begegnet bin.
Meine Mutter hatte sicherlich gute Gründe (selbst Erlebtes) dafür, dass sie sich eine eigene Persönlichkeitsentwicklung gespart hat. Und die Störung, die dadurch entstanden war, hab ich auch als "mildernde Umstände" für sie werten können.

Aber an diesem Punkt muss man gerade als "Lieblings-Avatar" unbedingt die Reißleine ziehen und bei sich selber bleiben.
Und konsequent und ohne Kompromisse klar definierte Grenzen ziehen - und v.a. ebenso konsequent für deren Einhaltung sorgen.

Mitleid und Mitgefühl sind da wohl fehl am Platz. Das wäre, als ob du einem Drogenabhängigen sein Suchtmittel unter die Nase hältst.

Ich bin am besten mit zwar Verständnis für ihre Störung gefahren, aber ansonsten möglichst sachlich bleiben, auch in meinen eigenen Reaktionen und Gefühlen zu ihr.

Weil ich verstanden habe, dass sie über und von meinen Reaktionen und Gefühlen emotional sich "ernährt" und davon lebt. Wie eine Spinne mich Insekt einwickelte und nach Bedarf mich aussaugte.
So konnte ich wieder zu mir selber zurückkehren und eine eigene Entscheidung wählen: Will ich weiterhin "Futtertier" bleiben oder doch lieber mich wehren und/oder schnell abhauen?

Teil 2 folgt gleich. :-)


Waldschratin
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 80
Beiträge: 4197

Beitrag Mo., 21.07.2025, 12:16

Teil 2:

Ich hab auch ein Leben lang darauf gehofft, dass sie irgendwann einmal versteht, was sie da mit mir anstellt und sich dann auch Mühe gibt, das zu ändern. Hat sich nie erfüllt. Bis auf ein paar wenige Highlight-Momente hat meine Mutter nie registriert, dass ich überhaupt als eigenständige Person außerhalb ihrer existent bin. Und an diesen wenigen Highlight-Momenten ist sie regelmäßig schwer abgestürzt.

Ja, sie ist deine Mutter und ja, ich mache das auch, obwohl sie ein paar Jahre schon nicht mehr lebt, sie als meine Mutter zu respektieren.
Aber du hast eine eigene Aufgabe : Dich zu finden, dich "herauszudefinieren" als die Person, die du selber bist, aus dieser Verschmelzung mit deiner Mutter, weil du ein eigenes Leben zu leben hast und "jemand" dazu sein musst, wenn dieses Leben "lebendig" sein und dich "satt machen" soll.

Empathie ist glaub ich nicht so das Problem in Verbindung mit Selbstschutz. Das verträgt sich an sich gut nebeneinander.
Ich seh da eher Schuldgefühle, den eigenen (ungestillten...) emotionalen Hunger nach Intimität und Innigkeit, den man in Beziehung zur Mutter ja voraussetzt. Und die ständige Überforderung, die sie in dir inszeniert, weil es für sie "nie (gut) genug" sein kann und wird, was du bist.

Was sie von dir will und braucht, ist ja eben dieses "Du bist schuld! - Dann muss ich es nicht sein" und "Versorge mich und zwar mit allem, denn ich mache dich zu meiner Mutter!"

Noch so eine von mir beobachtete Struktur: Das Kind wird zur Versorgenden, zur "Mutter", umfunktioniert, und zwar manchmal schon vor der Geburt. Und die eigentliche Mutter verhält sich wie ein (Klein-)Kind dem eigenen Kind gegenüber.

Ich finde, du bist da schon auf einem sehr guten Weg.
Deine Reaktionen von Wut, Enttäuschung, Trauer, Überforderung sind nämlich nichts anderes als einfach normal.
Das macht es noch nicht an sich besser, aber es kann dabei helfen, sich weniger Vorwürfe zu machen oder Schuldgefühle zu entwickeln und sich damit als wieder manipulierbar(er) zu präsentieren.

Ich wünsche dir ganz viel Konsequenz und jede Menge Verständnis und Behutsamkeit, ganz "egoistisch" nur für dich selbst!

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