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undercover
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Post Wed, 24.Oct.07, 17:52      Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

hallo an die forumsmitglieder!

es würden mich meinungen interessieren zu folgendem thema.

ich sehe mich als facettenreichen menschen, etwas philosphisch angehaucht mit interesse an spiritualität, jedoch sich gerne wiederfindend im wissenschaftlichen bereich, mag dinge die belegbar sind und brauche für viele dinge sichtbare, fühlbare oder zumindest erklärbare beweise, glaube nicht an gott aber an eine höhere, unbestimmte macht und an die natur, an fügungen und an zu-fälle, dh ich glaube auch an dinge die nur fühlbar aber nicht sichtbar sind, hingegen bei einigen dingen klammere ich mich dennoch wieder an beweise.
manchmal sehe ich die welt als gut und dann wieder als schlecht, manchmal denke ich das leben hat sinn, dann wieder nicht.

trotz meines hanges zum unkonventionellen mag ich traditionen und rituale, bin sehr verständnisvoll und dennoch stark sellektiv, bin sozial und mag auch luxus.
die mischung zwischen realitätssinn und universellem verständnis stehen manchmal zueinander in konflikt, und ich frage mich warum!

dieser wirklich nur kleine einblick sollte meine ambivalenzen darstellen, die mir manchmal nachgesagt werden.

ich frage mich, wo ist der unterschied zwischen ambivalenz und facettenreichtum?

oder hab ich gar keine meinung? dreh ich es immer so wie ich es brauche? bin ich gestört, verwirrt? zwiegespalten? manisch depressiv? oder ein freigeist?

oder was macht diese vielseitigkeit aus? wie geht es euch damit? ? ?

wäre für mich wirklich interessant ob ich tatsächlich trotz meines realitätssinnes so abgehoben bin, daß es fragwürdig, oder unfaßbar ist.

danke jetzt schon für die antworten.

ps. mich würde im speziellen euer eigenes selbstbild interessieren und ich möchte nicht unbedingt mit fragen bombardiert und analysiert werden, danke Wink

lg u

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comus
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Post Wed, 24.Oct.07, 19:15      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

Hallo,

Ambivalent ist jeder Mensch, Facettenreich nicht, das wäre meine spontane Unterscheidung. Wink Ambivalenz erzeugt einen inneren Konflikt, Facettenreichtum nicht, wird im Normalfall als sehr positiv empfunden.

Hinter dem Versuch alles erklären zu wollen, steckt meiner Meinung der Wunsch nach Kontrolle was die tiefe Angst des Menschen vor dem unvorhersehbaren widerspiegelt. Ich selbst bin auf der einen Seite auf wissenschaftlich beweisbares orientiert, gleichzeitig weiß ich dass das Wissen viel früher endet als die Fragen. Und viele davon sind nur auf der spirituellen Ebene erfassbar, ohne erklärbar zu sein, dennoch sind sie da. Und das finde ich auch gut so, könnte ich alles erklären hätte das Leben für mich auch keine Geheimnisse mehr und würde den Sinn verlieren.

Auf meinem Lebensweg wünsche ich mir die Neugierde als ständigen Begleiter. Und ich finde es nicht schlimm wenn ich in meinem Denken und Handlungen manchmal widersprüchlich erscheine, für mich gibt es kein entweder oder, sondern ein sowohl als auch. Daher bin ich auch gerne ein spiritueller Agnostiker, ein realistischer Träumer, ein optimistischer Pessimist, whatever.

LG, comus

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Post Wed, 24.Oct.07, 19:30      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

danke für deinen beitrag comus,

ich würde mal sagen ein gelungener versuch mir etwas klarheit zu verschaffen.

vor allem das hat mich sehr beeindruckt und ich halte es für wahr!
Quote:
Hinter dem Versuch alles erklären zu wollen, steckt meiner Meinung der Wunsch nach Kontrolle was die tiefe Angst des Menschen vor dem unvorhersehbaren widerspiegelt.


paßt sogar auch zu meinem kontrollzwang, um es gleich auf die persönliche schiene zu bringen Very Happy
es ist doch wohl der menschen größte angst die existenzangst! (nicht finanziell gemeint)
und vermutlich steigt proportional zur angst der kontrollwahn.

aber das geht etwas vom thema weg.

ich möchte nochmal auf die ambivalenzen eingehen, wie du so schön schreibst

Quote:
Ambivalenz erzeugt einen inneren Konflikt, Facettenreichtum nicht, wird im Normalfall als sehr positiv empfunden.


damit kann ich auch gut, und es hilft mir sicher zukünftig meine ambivalenzen vom restlichen, facettenreichen gedankengut zu differenzieren.

ich tu mir nämlich wirklich schwer darauf zu reagieren, wenn mich jemand als ambivalent bezeichnet.
meist stehe ich nur da und sage, ja stimmt, irgendwie bin da wirklich zwiegespalten.

also, es muß eine ordnung her! Cool

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Post Wed, 24.Oct.07, 20:41      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

undercover wrote:
es ist doch wohl der menschen größte angst die existenzangst!

Yep, das Wissen der Vergänglichkeit, treibt uns da voran, unser Wissen (z.B. Medizin) verschafft uns ein längeres Leben und die ganz gescheiten werden sogar durch ihr Wissen welches an die Nachwelt weiter getragen wird "unsterblich". Wink
Las erst kürzlich wieder mal folgenden Satz von Epikur:
"Der Tod geht uns nichts an. Solange wir leben, ist der Tod nicht da. Ist der Tod aber da, existieren wir nicht mehr."
In dem Moment wurde mir folgendes bewusst: Ich hab keine Angst vor dem Tod, ich hab nur Angst vor dem Sterben. Mein Tod betrifft mich echt nicht, den erleb ich nicht, mein Sterben schon. Dennoch in diesen Worten finde ich auch etwas tröstliches, "Leb dein Leben und hab in dieser Zeit nicht vor etwas Angst was nie kommt".
Irgendwie total genial Very Happy

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Selene
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Post Thu, 25.Oct.07, 8:23      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

Hallo undercover,

weitgehend sehe ich es auch so wie Comus. Schwarz-Weiß-Denken, alles in ein Schema pressen zu wollen, für alles eine Erklärung und "Abstempelung" haben zu wollen, enstammt dem Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit.
Andererseits ist gerade das Lebendige im Menschen doch auch neugierig, offen und will differenzieren. Insofern ist der Mensch an sich ambivalent.
Da jede Situation immer neu und einzigartig ist, ist es schon eine Vereinfachung überhaupt Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz festzustellen, das der Vergleichsfall eben immer nur ähnlich, aber nie gleich sein kann. Wenn manche Menschen immer nur kategorisch und eindeutig für oder gegen etwas sind, dann empfinde ich persönlich das immer als etwas kalt und unmenschlich und dem Leben gegenüber inadäquat, weil sich immer alles ändert. Zwar finde ich Prinzipien schon gut, aber Menschlichkeit und Güte, die ich höher schätze, gibt es nur zusammen mit einer gewissen Inkonsequenz.
Außerdem finde ich es wichtig, dass man überhaupt zwei Seiten sehen kann, das ist ja die Voraussetzung für Ambivalenz. Umdenken, das ja manchmal sehr wichtig sein kann, fängt also immer mit einem ambivaltenten Gefühl an. Und man lebt eben immer in einer gewissen Spannung, es ist nie alles perfekt und eindeutig, dazu ist das Leben viel zu komplex.
Auffallend finde ich auch, dass es sehr viele geflügelte Worte gibt, die genau das ausdrücken, hier nur ein paar:
Wer A sagt, muss nicht auch B sagen, er kann auch erkennen, dass A falsch war.
Konsequenz ist ein Kobold, der in engen Köpfen spukt.
Ein Gedanke zu Ende gedacht, mündet oft in sein Gegenteil.
Sowie überhaupt die ganzen östlichen WEisheitslehren mit ihren angeblichen Paradoxien, die für uns so schwer zu verstehen sind, weil dabei immer ausgedrückt wird, dass sowohl eine Sache als auch ihr GEgenteil wahr sind.
So, ich hoffe das war nicht zu wirr!
Viele Grüße
Selene

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Post Thu, 25.Oct.07, 16:23      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

@comus

ja! wirklich genial!! Very Happy kann man ruhig auf sich wirken lassen dieses zitat Wink

@selene

Quote:
Ein Gedanke zu Ende gedacht, mündet oft in sein Gegenteil.


genau das meinte ich, sehr gut auf den punkt gebracht!


aber dennoch, warum wird ambivalenz (zb in meiner therapie) als negativ bewertet?
ich versteh das immer noch nicht, ich bin ja ein mensch der dennoch klare entscheiungen treffen kann, und zwar täglich im kleinen und großen stil! noch dazu bereue ich nichts in meinem leben!


ich möchte daraus noch schlau werden, warum die ambivalenz schlecht sein sollte.......die ganze welt ist doch ambivalent......

danke lg u

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Post Thu, 25.Oct.07, 16:54      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

Hallo nochmal!
Ich würde sagen, Menschen, die selbst ihre Ambivalenz durch Schwarz-Weiß-Denken verdrängen, haben Angst und glauben , so ihre als bedrohlich erlebte Umwelt in den Griff kriegen zu können.

Menschen, die anderen raten, ihre Ambivalenz zu reduzieren, wollen einem das Leben erleichtern bzw. einen funktionstüchtig machen (das meine ich nicht nur negativ). Weil zu viel des Differenzierten, Ambivalenten macht natürlich schon auch entscheidungsunfähig bzw. die eigene Persönlichkeit verschwimmt vielleicht dadurch doch so stark, dass letztlich die Identität bedroht ist, was natürlich psychische Probleme mit sich bringt.
Vielleicht meinen sie auch, dass man die eigenen Widersprüche lösen sollte, um "heil", "ganz" und "ungebrochen" zu sein. Oder dass man sich hinter der Haltung, dass eh alles so und zugleich anders ist auch verstecken kann bzw. an Punkte, die einem gut tun würden zu verändern, deshalb nicht rangeht, weil man so tut als ob einen die Widersprüchlichkeit nicht belasten würde.

Da nach Deiner Aussage das alles aber nicht auf die zutrifft:
Quote:
ich versteh das immer noch nicht, ich bin ja ein mensch der dennoch klare entscheiungen treffen kann, und zwar täglich im kleinen und großen stil! noch dazu bereue ich nichts in meinem leben!

weiß ich auch nicht, was man da kritisieren könnte. Vielleicht würde das wie gesagt ein Taoist auch gar nicht tun, sondern Dir im Gegenteil zustimmen. Es ist ja keiner in Besitz der Wahrheit, auch Therapeuten nicht. Vielleicht denkt er einfach: Sie könnte es sich leichter machen, wenn sie gradliniger denken würde. Das heißt aber ja nicht, dass das auch erstrebenswert ist. Die Frage ist eben, ob Du unter Leidensdruck stehst.

Wahrscheinlich ist mal wieder die goldene Mitte das Erstrebenswerte bzw. der Spagat zwischen der Erkenntnis, dass alles relativ ist und trotzdem der praktischen Lebensfähigkeit, seinen Alltag zu meistern.

VG Selene

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Post Thu, 25.Oct.07, 17:50      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

Nachtrag: Bin gerade auf ein Zitat gestoßen, das mir sehr gefällt und auch in diesen Kontext passt, es stammt von Kurt Tucholsky:
"Dies ist, so glaube ich, die Fundamentalregel alles Seins: das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders."

Das andere Zitat ist von Ibsen, leider weiß ich nichts genaueres, wahrscheinlich aus einem seiner Dramen, und lautet korrekt: "Ja, haben Sie denn noch nie bemerkt, dass bei jedem Gedanken, wenn man ihn zu Ende denkt, das Gegenteil herauskommt?"

In diesem Sinne
Selene

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Post Sat, 27.Oct.07, 8:40      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

danke selene,

das hat mir jetzt echt erkenntnis gebracht! sowohl deine meinung, als auch die zitate sind genial!!

über dein vorletztes post muß ich sicher noch zweimal drüberlesen, denn da steht dennoch etwas von meiner problematik, die mir sicher irgendwo, irgendwie leidensdruck verschafft.

eine art von verwirrtheit merke ich immer dann, wenn ich mit einem wissenschaftler, philosophen, esoteriker, wirtschafter, freunden aus allerlei bereichen mich so gut verständigen kann, ihre meinungen so gut nachvollziehen kann und auch für wahr halte, obwohl alle von denen einen anderen zugang zu ein und dem selben thema haben, und ich mich mit allen ansätzen identifizieren kann, aber am ende alles weiß und nix....

da fühle ich mich dann ambivalent, denn ich sehe ein und diesselbe sache von so vielen seiten, jedoch kann ich mich dennoch nicht auf eine schiene festlegen.
im grunde bestätigen sich meine denkweisen zb über ein thema von all denen die aus verschiedenen bereichen kommen und denken, doch die haben eben EINE meinung und EINEN zugang, und ich halte VIELES für möglich, und kann mich daher nicht festlegen.

also meine signatur spiegelt das irgendwie eh genau wieder was ich damit sagen möchte.........ist mir gerade klar geworden Laughing

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Post Sat, 27.Oct.07, 10:45      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

Hm, was die Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit betrifft, da gibt es für mich eine wichtige Erkenntnis "Wirklichkeit wird nicht gefunden, sie wird erfunden". Damit sind wir schon in der Ethik und speziell im radikalen Konstruktivismus (Paul Watzlawick, Heinz. v. Foerster, u.a)
Dazu ein Beispiel von Watzlawick. Watzlwick erzählt von einer jungen Frau, die bei ihm eine Kurztherapie machte und die grundsätzliche Änderung in der konfliktreichen Beziehung zu ihrer Mutter mit folgenden Worten umreißt:
"So wie ich die Lage sah, war es ein Problem, nun sehe ich sie anders und es ist kein Problem mehr"
Watzlawick macht seine Leser darauf aufmersam, dass sich nichts "wirklich" verändert hat - außer so etwas Subjektives wie eine Ansicht. Wichtig ist es anzuerkennen, dass beide Behauptungen der Klientin zwar widersprüchlich, aber doch sinnvoll sind. Die Lage als solche hat sich nicht verändert, wohl aber die Zuschreibung von Sinn und Bedeutung.
Wirklichkeit ist nach konstruktivistischer Auffassung "das Produkt wirk-samer Unterscheidungen", die Welt ein Prozess.
Das heißt wir konstruieren unsere Wirklichkeit selbst, sie kann nicht losgelöst vom Beobachter gesehen werden.

Damit erklärt sich wohl auch, warum ich auch bei scheinbar widersprüchlichen zustimmen kann, da die Wirklichkeit eines anderen Menschen mit seiner Sichtweise stimmig ist, wenn gleich meine anders ist. Dennoch sind "beide Wahrheiten gleich wahr".

Ich seh das so wie einen Computer mit gewissen Infos füttern und dann kommt ein bestimmtes Ergebnis raus, verändere ich die Grunddaten ändert sich auch das Ergebnis.

LG, comus

PS: Einen interessanten Artikel hab ich hierzu noch gefunden.

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Post Sat, 27.Oct.07, 12:02      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

...(m)ein wichtiger Aspekt im Kontext von Ambivalenzen und Wirklichkeitskonstruktion ist der "Kern des Selbst".

Ich hatte diesen "Kern" mal verloren, - zwischen möglichen Wahrheiten und Ambivalenzen wusste ich nicht mehr, was und wer ICH denn eigentlich bin.
Zum Ende der Pubertät begriff ich, dass meine Ich-Definition, meine Identität mehr eine Negation von Bekanntem war, d.h. ich wusste, "ich bin nicht x", "ich will nicht y".
Blieb die Frage nach dem, was denn nun "ich" bin, wenn für jedes Argument das passende Gegenargument ebenso logisch wie gefühlsmäßig richtig erschien.

Wie konstruiere ich meine Wirklichkeit ohne am Wissen um das Konstrukt zu verzweifeln?
Wie finde ich meine Identität, wenn jede Identität eine schon gedachte ist?

Ich kann nicht formulieren, wie ich den Weg aus diesem "mich auflösenden Denken" gefunden habe - aber das hat einige Jahre gedauert und ich hab das auch nicht allein geschafft, sondern mit einem guten Therapeuten. Er hat mir geholfen, Gefühl und Ratio in Einklang zu bringen, so dass ich trotz Wissen um Konstruktionen meinem Verstand auf Grund meines Gefühls dazu, trauen kann.
(Sorry für meine evtl völlig unverständliche und damit nicht hilfreiche Beschreibung.)


Lg,

Irrlicht

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Post Sun, 28.Oct.07, 8:54      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

@ tanzendes irrlicht

Deinen Post fand ich sehr interessant, er beschreibt fast bis aufs Wort, was ich zufällig gestern in einer alten Psychologie heute gelesen habe, da ging es um Strategien, die das Leben leichter machen, eine davon ist: Das Leben ausbalancieren, vernachlässigte Talente und Fähigkeiten pflegen. Da heißt es: "Jeder Mensch ist eine Bündel verschiedener, oft sehr unterschiedlicher und manchmal widersprüchlicher Rollen, Eigenschaften und Fähigkeiten. Wir besitzen viele Subidentitäten, die von einem Kernselbst integrier, koordiniert und optimal eingesetzt werden. Das Kernselbst sorgt für Kohärenz - wir sind trotz des Facettenreichtums ein Ganzes (und zerfallen nicht, wie es bei Psychotikern der Fall ist, in nichtintegrierte, unverbunden nebeneinander existierende Teile)." (Psychologie heute 12/1999, S. 26)

Der Artikel ermuntert übrigens gerade dazu, möglichst viele Facetten zu entfalten, weil das die Persönlichkeit stabilisiert.

Interessant finde ich nun folgende Aussagen von Dir:
Quote:
Ich hatte diesen "Kern" mal verloren, - zwischen möglichen Wahrheiten und Ambivalenzen wusste ich nicht mehr, was und wer ICH denn eigentlich bin.
(...)
Wie konstruiere ich meine Wirklichkeit ohne am Wissen um das Konstrukt zu verzweifeln?
Wie finde ich meine Identität, wenn jede Identität eine schon gedachte ist?

Ich kann nicht formulieren, wie ich den Weg aus diesem "mich auflösenden Denken" gefunden habe - aber das hat einige Jahre gedauert und ich hab das auch nicht allein geschafft, sondern mit einem guten Therapeuten. Er hat mir geholfen, Gefühl und Ratio in Einklang zu bringen, so dass ich trotz Wissen um Konstruktionen meinem Verstand auf Grund meines Gefühls dazu, trauen kann.


Eigentlich erscheint es ja wirklich als Rätsel, weshalb man nicht seine Identität verliert... Es würde mich deshalb sehr interessieren, ob Du diesen Prozess der Selbstfindung näher beschreiben kannst? Andererseits ist es vielleicht auch eine menschliche Eigenschaft, dass zur Konstruktion der Wirklichkeit auch die Konstruktion einer Kernidentität gehört. Es wäre dann also mehr oder weniger im Menschen angelegt, dass es ihm gelingt bzw. eine Frage der geistigen Gesundheit (oder auch schwieriger Lebensumstände), wenn die Einheit zerfällt.

VG
Selene

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Post Sun, 28.Oct.07, 22:38      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

Auf der Suche nach sich selbst zu sein impliziert etwas verloren zu haben. Man sucht ja Verlorenes. Verlieren kann man aber nur etwas das man einmal hatte.

Ich sehe Ambivalenz eher als notwendigen Prozess, dem man unterliegt, denn als Suche. Ich kann ja nur etwas suchen von dem ich annehme es würde real existieren, von dem ich auch eine halbwegs genaue Vorstellung habe wie es beschaffen ist.

Ab wann weiß ich denn, dass ich, ich bin und woher. Wer sagt mir denn so jetzt habe ich mich gefunden. Es ist also ein ständiges Abgleichen dessen, von dem ich annehme, das könnte jetzt das sein von dem ich annehme, so sollte sich ein ich sein anfühlen.

Deshalb gefällt mir so ein Wort wie Entwicklung besser. Ihm wohnt eher das Werden inne. Suchen macht traurig. Wieder nichts, schade, weitersuchen.

Also werde ich langsam, der der ich sein möchte, der der zwar immer noch etwas will aber immer weniger, weil ich immer mehr lerne. Das beobachte ich jetzt schon seit einiger Zeit bei mir und sehe es als Werden.

Ein Lernprozeß, der mit Sprechen und Gehen über Schule und Beruf nicht abschließt, sondern irgendwann beginnt großen Raum in unserem Denken einzunehmen und große Verwirrung stiftet. Stiften muß? Ja, so denke ich heute, es ist scheinbar notwendig um uns beizubringen wie man Entscheidungen trifft, die gut für uns und andere sind.

Woher sollen wir wissen was richtig oder falsch ist, wenn wir auf keine persönlichen Erfahrungen zurückgreifen können. Da sehe ich die Aufgabe der Ambivalenzen uns Handlungsalternativen zu eröffnen in enener ständig sich ändernden Realität. Wenn immer alles klar wäre, gäbe es keinen Fortschritt. Erst aus der Neukombination von bereits Erfahrenem und Gelerntem entstehen kreative Lösungen.

Ambivalenz also ein Gehen lernen des Geistes, der vor die Qual der Wahl gestellt ist, nirgends Antworten findet, weil es sie nicht gibt und jeder selbst sie finden muß in sich selbst, für sich selbst.

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Post Mon, 29.Oct.07, 8:26      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

Hallo Selene!

Selene wrote:
Es würde mich deshalb sehr interessieren, ob Du diesen Prozess der Selbstfindung näher beschreiben kannst?


Hmmm...ich glaube, ich habe noch nie versucht das zu formulieren und ich befürchte, dass mir das auch nur in Ansätzen gelingen kann:

Ich wrote:

Ich hatte diesen "Kern" mal verloren, - zwischen möglichen Wahrheiten und Ambivalenzen wusste ich nicht mehr, was und wer ICH denn eigentlich bin.


Um näherungsweise zu beschreiben, wie ich meinen Ich-Kern wieder fand, ist vielleicht interessant zu umreißen, wie ich ihn denn überhaupt verloren habe.
Ich musste bereits als recht kleines Kind mit sehr ambivalentem Verhalten meines Vaters zu recht kommen. Dies gelang mir mit zunehmendem Alter (kognitiver Reife) dadurch, dass ich für sein Verhalten Erklärungsmuster konstruierte, die nicht mich als Persönlichkeit "vernichteten". Ich habe also zB für einen cholerischen Ausbruch mir gegenüber Stress auf der Arbeit, für Bestrafungen seine eigene Erziehungserfahrung, für Dogmen seine Ängste etc konstruiert. Neben diesem "Verstehen" warum er also wie agiert standen meine eigenen Empfindungen und Meinungen. Und natürlich gab es noch weitere Meinungen, die ich integrieren musste (Mutter, Freundin, Lehrer...).
Bis zum Ende der Pubertät gelang es mir ganz gut, meinem Gefühl (der Wut zB) zu vertrauen und trotz "Verstehen" seiner Beweggründe und Verhaltensweisen ihm Verständnis vorzuenthalten.
Nachdem er starb verfiel ich in einen emotionalen Dornröschenschlaf, der rückblickend keiner war, nur lief meine Auseinandersetzung mit meinen Themen (Konflikten, Gefühlen) so unbewusst, dass ich Panikattacken bekam und später eine bipolare Störung entwickelte (man-depr.).

Mein jetziger Ehemann weckte mich vor über 8 Jahren aus diesem Dornröschenschlaf und ich schlitterte in das totale emotionale und rationale Chaos.
Alle ambivalenten und so hübsch in die hintersten Ecke meines Selbst versteckten dissonanten Wahrnehmungen und Gefühle brachen angesichts einer unsicheren Bindung zu diesem Mann über mir zusammen.
Ich wusste nicht, welches Gefühl "richtig" ist und welches Verhalten. Das bezog sich nicht nur auf meinen Mann (also damals Freund) sondern auf alles andere in meinem Leben. Ich war entscheidungsunfähig, wusste nicht, was ich möchte oder nicht, wen ich mochte, oder nicht, welche Meinung ich vertreten konnte, welches Fremd- und Selbst-Verhalten ich gut fand oder nicht - weil ich immer und für alles die Gegenmeinung und das Gegengefühl genauso zutreffend fand.
Einerseits war ich innerlich leer, andererseits war ich über alle Maßen voll.

In der Therapie war dann der Weg um "mich wiederzufinden", der, dass mir erstmal bewusst wurde, dass ich zuviel rationalisierte. Während de facto ja die kognitive und die emotionale Ebene in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen, habe ich diese Ebenen aufgespalten und hatte nur bewussten Zugang zu meinem Denken.
Ich "wusste" zB das in der Situation x Wut ein gesundes Gefühl wäre, ich empfand aber nichts (oder allenfalls Traurigkeit oder Unruhe). Zu stark war ich damit beschäftigt, Gründe für Verhalten in der Situation x zu konstruieren.
Mein Thera schubste mich oft unsanft von der Verstandesebene runter. Er wollte keine Analysen über mich und die Welt hören und auch keine Abhandlungen über 10 Sichtweisen auf z. Er sagte dann "ich fühle Sie nicht". Ein sch**** war das, ich fühlte mich ja selber nicht Wink

Aber genau das war der Weg, wieder zu mir. Erstmal zu realisieren, dass ich mich zerdenke, dass ich Gefühl und Verstand von einander abgespalten habe.
Dann zu lernen, warum ich das tat und welchen Nutzen das für mich hatte.
Warum ich aggresssive Gefühle zu Gunsten von depressiven aufgegeben hatte.
Ich musste neue Strategien entwickeln, emotional sein zu dürfen ohne von ihm (Vater, dann Freund) "vernichtet" zu werden.
Ich musste lernen, meiner Weltkonstruktion vertrauen zu können und zu dürfen, so dass ich mich nicht in den Konstruktionen anderer verliere.

Als es mir gelang (und das war nicht über Nacht sondern ein Prozeß) war ich wieder ICH.
Natürlich habe ich auch heute viele Meinungen (Facetten) in mir und ich kann immer noch für Verhaltensweisen viele Begründungen finden, Verstehen und Verständnis haben und auch mal meine Meinung zu so manchem Thema wechseln - aber ich kann:

Ich wrote:

Gefühl und Ratio in Einklang () bringen, so dass ich trotz Wissen um Konstruktionen meinem Verstand auf Grund meines Gefühls dazu, trauen kann.


Das war ein ziemlicher Seelenstripp von mir Wink
Ähnliches aber ohne soviel Selbstmitteilung von mir gibts hier einen Thread:

http://www.psychotherapiepraxis.at/forum/viewtopic.php?t=26898


Lg,

Irrlicht

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Last edited by tanzendes_irrlicht on Mon, 29.Oct.07, 16:35; edited 1 time in total
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Post Mon, 29.Oct.07, 9:02      Re: Ambivalenzen, Facetten oder keine Meinung? Reply with quoteBack to top

Hallo Irrlicht,

vielen Dank für Deine Offenheit. Blumen für dich Ich hoffe, ich bin Dir nicht zu nahe getreten; meine Bitte, Deine "Selbstfindung" näher zu schildern, kommt mir jetzt fast ein bisschen grenzüberschreitend vor...
Aber Du hast mir tatsächlich genau auf das geantwortet, was mich interessierte (und ich habe das natürlich auch nur gefragt, weil ich, wenn auch in wesentlich schwächerer Form, manchmal ähnliche Probleme habe). Dein Posting ist also wirklich sehr wertvoll für mich und ich empfinde es als sehr authentisch und kann viel damit anfangen, also noch einmal vielen Dank. Und ich finde das auch sehr bewunderswert, dass Du das jetzt so in Worte fassen und darstellen kannst und es kommt mir doch sehr so vor, dass Du da einen wirklichen "Heilungsprozess" schildern konntest und das ist sehr schön.

Mir ist durch Deine Antwort jedenfalls klar geworden, dass ich mein Kernselbst (zum Glück) keinesfalls verloren habe, ich wohl nur etwas aufpassen muss, dass meine rationale Seite die emotionale nicht zu sehr dominiert und es schön wäre, wenn sich beide Seiten etwas besser verstehen könnten. Denn ich für meinen Teil fühle eigentlich immer recht eindeutig, ob ich etwas richtig oder falsch finde, es so will oder anders, ob ich mich gut fühle oder nicht. Das Problem ist nur, dass ich es nie erklären kann und oft mein Verstand eigentlich zu einem anderen Resultat kommt. Mein Verstand will dann von meinem Gefühl Gründe hören, aber da hab ich echt Probleme, die zu liefern und mir meine eigenen Gefühle verständlich zu machen. Aber meine Gefühle verwirren sich dadurch nicht, sie bleiben trotzig bei ihrer Meinung und setzten sich meistens dann auch durch. Das heißt ich ärgere mich dann eher, dass ich mich so anstelle, wo doch so viel für eine bestimmte Entscheidung z. B. spricht, aber ich habe kein wirkliches Identitätsproblem deswegen. Das ist mir aber erst durch Deine "Kontrastdarstellung" so richtig klar geworden. ja

Beste Grüße
Selene

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