Kriegstraumatisierte Eltern / Großeltern

Alle Themen, die in keines der obigen Foren zum Thema "Psychische Leiden und Beschwerden" passen.
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gompert
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Kriegstraumatisierte Eltern / Großeltern

Beitrag So., 28.02.2010, 17:39

Für mein Wehwehchen gibt es hier in Holland extra vom Staat finanzierte, maβgeschneiderte Therapie, sowohl individuell als auch in Gruppen von 5-9 Klienten die kriegstraumatisierte Eltern haben oder hatten. Der ganze Ottokatalog von Coabhängigkeit, Bindungsproblemen, Ängsten usw. passiert dort Revue.

In meinem Dorf wohnen viele Ausländer, darunter Deutsche und Österreicher. Als passabel Deutsch sprechender Holländer werde ich dort zu barbecues und so eingeladen. Nun erzählt mir da einer von seiner neulich verstorbenen Mutter. Er kam vor einigen Tagen von der Beerdigung zurück. Seit acht Jahren kenne ich ihn schon, jetzt erst höre ich dass diese Mutter als Mädchen im Bunker von zehn Russen mehrere Wochenlang grausamst vergewaltigt worden war. Mit einem solchen Schicksal konfrontiert hält man erst mal den Mund. Es fielen mir aber auch die Schuppen von den Augen. Es erklärte endlich warum er und ich uns mit wenigen Worten verstehen und er genau die gleichen Beziehungsprobleme hat wie ich. Aufzuwachsen bei einer solchen Mutter bringt nun mal bestimmte Macken mit sich. Ich musste das erst nach drei Gläsern Wein quasi aus ihm rausziehen. Bei Fragen nach dem restlichen Familienschicksal ging die Luke aber wieder zu. Warum bloβ? Ist die Geschichte 2010 noch ein solches Tabu? Wird in D/Ö an dem Kausalzusammenhang zwischen heutigen mentalen Problemen und Kriegserlebnissen der Familie vorbeigeschaut? Es wundert mich immer dass dieses Thema im Forum nie vorbeikommt, obwohl ich in der reellen Welt sogar hier in freier Wildbahn drüber stolpere.
Staunend liest's der anbetroffne Chef......

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candle
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Beitrag So., 28.02.2010, 18:24

Hallo gompert!

Doch ich hatte das mal so angesprochen in meinem Blog. Irgendwer hat mir dazu auch einen Link gegeben. Mal schauen, ob ich das wiederfinde.

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SamuelZ.
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Beitrag So., 28.02.2010, 19:01

Hi gompert, ein Thema, dass auch mich nicht kalt lässt. Auf der Website von Tilmann Moser gibt es Links zu Artikeln, die sich mit den Spätfolgen von Diktatur und Krieg beschäftigen:Spätfolgen NS-Zeit/Krieg

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gompert
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Beitrag So., 28.02.2010, 20:12

Danke SandyP., toller Artikel das, muss schon sagen. Er bestätigt so ziemlich meinen Eindruck, nur: es ist eigentlich noch schlimmer als gedacht. Und: einer Erklärung für diesen "Terror des Schweigens" (so Moser) bin ich nicht näher gekommen. Wenn die Kinder der schlimmsten Kriegsverbrecher frei von der Leber Bücher schreiben können um ihre Jugend aufzuarbeiten, warum bleibt dann dieses Tabu in der Masse so tadellos intakt?
Staunend liest's der anbetroffne Chef......

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SamuelZ.
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Beitrag So., 28.02.2010, 20:22

Wenn die Kinder der schlimmsten Kriegsverbrecher frei von der Leber Bücher schreiben können
Wen meinst du damit?
warum bleibt dann dieses Tabu in der Masse so tadellos intakt?
Gute Frage. Ist es denn so?
Ich kann nur Vermutungen anstellen:
Vielleicht ist es einfach die Unwissenheit darüber, dass ein Trauma über Generationen hinweg weitergegeben werden kann?
Vielleicht die Angst, den Schmerz und die Wut zu spüren?

Siehst du "die Masse" als Täter oder Opfer?

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gompert
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Beitrag So., 28.02.2010, 20:32

SandyP. hat geschrieben:Wen meinst du damit?
Die Tochter von Himmler, der Sohn von Karl Frank, der Sohn von Von Schirach usw.
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gompert
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Beitrag So., 28.02.2010, 20:36

SandyP. hat geschrieben:Siehst du "die Masse" als Täter oder Opfer?
Täter gibt es ja kaum noch. Die Masse besteht für mich in dieser Hinsicht aus lauter Opfern. Aber vielleicht liegt da ein Unterschied: ich denke nicht in diesen Kategorien. Die haben mit Schuld und Unschuld zu tun. Ich habe eher Mitleid mit den vielen zugeknöpften Seelen, mit der unnötigen Scham. Das Instandhalten solcher Tabus kostet so verdammt viel Energie.
Zuletzt geändert von gompert am So., 28.02.2010, 22:31, insgesamt 1-mal geändert.
Staunend liest's der anbetroffne Chef......

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SamuelZ.
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Beitrag So., 28.02.2010, 20:56

Ein Trauma, das ich in meiner Familie mütterlicherseits vermute, ist das was ich für mich als "Heimatfront-Trauma" bezeichne:

Während der Mann als Soldat an der Front kämpft, muss die Frau zuhause alles alleine hinbekommen. Sie kämpft quasi als Soldatin für Heim und Herd an der Heimatfront. Sie darf sich nicht beschweren und keine Hilfe in Anspruch nehmen. 1. Weil sie denkt, dass es keine Hilfe gäbe, 2. Weil ein Soldat stoisch kämpfen und nicht um Hilfe betteln soll, wenn er den Sieg nicht gefährden will.
Das Heim wird auf "Kriegsversorgung" umgestellt. Die Bedürfnisse aller Beteiligten bleiben für das Ziel "Vaterlandsliebe" und "Unterstützung der Soldaten an der Front" auf der Strecke. Es ist nicht das Ziel, glückliche Kinder zu haben, sondern "zu überleben" bis der Mann wieder zurückkommt.

Frauen und Mütter müssen es in einer solchen Situation halt alleine schaffen, wenn sie echte, deutsche Frauen sind. Sie sind Versagerinnen, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen.

Derlei Traumen vermute ich viele in meiner Familie.

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candle
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Beitrag So., 28.02.2010, 21:02

Was wäre das denn für eine Hilfe gewesen für Frauen im 2. Weltkrieg?

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SamuelZ.
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Beitrag So., 28.02.2010, 21:08

Ja, die Hilf-Losigkeit war das Trauma der Großmütterngeneration. Die Mütter haben diese Empfindungen und Erfahrungen an ihre Töchter weitergegeben, obwohl es heutzutage und schon in den 70ern genug Unterstützung gegeben hätte und man sich nicht dafür schämen muss, diese anzunehmen. Es ist eine "Versager-Angst" es nicht alleine hinzubekommen.

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Moni.
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Beitrag So., 28.02.2010, 21:28

SandyP. hat geschrieben: Vielleicht ist es einfach die Unwissenheit darüber, dass ein Trauma über Generationen hinweg weitergegeben werden kann?
Ja, und diese Unwissenheit gibt es noch. Diese "Transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen" lassen sich schwer fassen.

Das entscheidende Kriterium ist, dass diese Traumatisierungen unverarbeitet weitergegeben wurden - stumm und existenziell.

So tragen die Betroffenen das „Wissen“ der Vorgeneration und gleichzeitig die Folgen für das eigene Leben.


Gruß
Moni

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candle
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Beitrag So., 28.02.2010, 21:39

Ah ja Moni, ich denke das hattest Du bei mir geschrieben.

Meine Eltern hatten wohl auch ihre Schicksalschläge, die auch mehr oder weniger ungefiltert an uns weitergingen.

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gompert
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Beitrag So., 28.02.2010, 22:13

SandyP. hat geschrieben:Frauen und Mütter müssen es in einer solchen Situation halt alleine schaffen, wenn sie echte, deutsche Frauen sind. Sie sind Versagerinnen, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen.
Das kommt mir sehr plausibel vor. Wenn der verbissene Wille nicht zu versagen frustriert wird, tritt oft ein zähes Schweigen ein. Ja, Heimatfront-trauma. Man setzte sich ein bis zum geht nicht mehr und was bekam man zurück: Bomben und Hungersnot. Die Väter kamen nicht heim, die Söhne nicht. Und es galt Klagverbot. Und eigentlich noch.
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Quercus
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Beitrag So., 28.02.2010, 22:38

Hallo gompert,

es ist tatsächlich so, dass die Kriegstraumata der Deutschen erst in den letzten Jahren thematisiert werden, jetzt wo die Generation der Täter fast ausgestorben ist.

Es ist ja nicht zu leugnen, dass wir Deutschen durch diese schreckliche Geschichte uns an den anderen Ländern schuldig gemacht haben. Die Kriegstraumata der Deutschen sind immer auch Antworten von Greultaten, die wir selber verursacht haben. Dadurch wird es psychisch sehr kompliziert.

Ich selbst bin in meiner Psychotherapie damit auch konfrontiert worden, obwohl meine beiden Eltern damals noch Kinder waren. Ich bin sehr stolz auf meinen Großvater väterlicherseits, dem es gelungen ist in kleinen privaten Rahmen seine Antipatie gegen Hitler zu äußern und z.B. auch heimlich bei Juden eingekauft hat.

Während meiner Therapie ist mir erst klar geworden, dass viele meiner Ängste von meinem Vater auf mich übertragen wurde. Er hatte seine ganze Kindheit Angst, dass sein Vater von der Gestapo abegeholt wird, was nicht passierte. Außerdem fühlte er sich immer als Außenseiter und wurde gehänselt, weil er in der Hitlerjugend, in die man zwangsweise musste, von seinem Vater nicht die begeehrte Uniform bekam.

Nun ist das ja im Vergleich keine sehr traumatische Geschichte, aber für mich mit großen Folgen. Wie soll wir denn innerhalb einer Generation solche Ding wie Ausschwitz, Morden an russischer,polnischer oder französicher Zivilbevölkerung, Flucht, Bombadierung und Massenvergewaltigungen aufarbeiten. Es ist einfach für uns Täter-und Opfervolk in einem zu schwierig und dauert dann vielleicht etwas länger, als z.B. in Holland.

LG Quercus

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gompert
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Beitrag So., 28.02.2010, 23:59

Hallo Quercus!

Danke für diesen persönlichen Beitrag. Solche inneren Widersprüche müssen verheerend sein. Ich verstehe jetzt wie der Krieg auch bei euch in die Therapie hineinkommen kann und muss.

Die unträgliche Angst deines Vater kann ich als handfeste Ursache eines Traumas gut nachvollziehen. Ich frage mich aber ob das heutige Wissen um Greueltaten auch psychisches Leiden auslöst. Das käme mir so zerebral vor. Übrigens fällt bei uns langsam der Groschen: in keinem anderen Land haben die nazis so leicht regieren können, so leicht die Juden erfassen können usw. wie in Holland.

gompy.
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