Wahrnehmung der Gesellschaft

Was Sie in Bezug auf Ihre eigene Zukunft, oder auch die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaft beschäftigt oder nachdenklich macht.
Antworten

Thread-EröffnerIn
LynnCard
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
weiblich/female, 47
Beiträge: 529

Wahrnehmung der Gesellschaft

Beitrag Di., 20.01.2015, 22:26

Hallo ihr!

Ich habe festgestellt, dass ich die Gesellschaft vor allem dann negativ wahrnehme, wenn ich irgendwie angeschlagen bin, es also direkt mit meinen eigenen Stimmungen zusammenhängt. Wenn es mir besonders gut geht, verschwende ich keinen einzigen oder relativ wenige Gedanken daran, ob ich mich in der heutigen Gesellschaft wohlfühle. Die Kritikpunkte an der Gesellschaft wirken dann auf einmal unwichtig, weil ich mehr in meiner eigenen Welt lebe. Die Distanz und der Weltschmerz kommt bei mir nur dann auf, wenn ich grüble und sonst ein Verlust vorhanden ist in mir. In solchen Phasen erinnere ich mich daran, wie sehr das vom inneren Befinden abhängt, zumindest bei mir. Sehe ich aber auch bei anderen.

In den weniger guten Phasen fällt mir das dann immer ein und ich beginne, meine Wahrnehmung sehr stark zu hinterfragen in der Annahme, dass meine Wahrnehmung der Gesellschaft eben wirklich sehr deutlich subjektiv gefärbt wird durch meine melancholische Stimmung. Da frage ich mich jedes Mal, ob es vielleicht doch ganz anders ist und was wäre, wenn ich nicht gerade dies und jenes Negative erlebt hätte. Deshalb versuche ich, meine dann eher negative Wahrnehmung aufzulösen und zu relativieren, obwohl es rein objektiv gesehen natürlich schon viel Leid auf der Welt gibt. Nur warum fällt mir das vermehrt in meinen miesen Phasen auf? Tja. Man könnte sich natürlich auch fragen, ob dann evtl. auch die guten Phasen relativiert werden müssen, es eben gar nicht so toll ist ...

... aber jeder will doch einfach nur glücklich sein, davon gehe ich aus. Dafür muss doch sehr viel Negatives ausgeblendet werden. Wer sich mit dem Negativen identifiziert, weil er gerade eher auf dem Negativ-Trip ist, hat ja nicht Unrecht, nur ist wohl eher die Frage, ob damit etwas geändert wird.

Ich hab auch schon von Helfern gehört, dass sie inmitten größten Leids recht locker und fröhlich an die Arbeit gehen. Sie identifizieren sich nicht zu sehr damit, sondern machen einfach ihre Arbeit. Geht wohl nicht anders. Die Wahrnehmung der Gesellschaft und des Leids allein verändert noch nichts, sondern eher die Einstellung und die aktive Handlung darauf.

Was fällt euch dazu ein? Wie erlebt ihr das? Konntet ihr gewisse Erkenntnisse für euch aus solchen subjektiven Stimmungslagen ableiten?
LG Lynn

Werbung

Benutzeravatar

Rezna
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 40
Beiträge: 1722

Beitrag Mi., 21.01.2015, 10:24

An mir kann ich die veränderte Wahrnehmung am Deutlichsten am Monatszyklus beobachten. Mein Blick auf die Welt (und mich selbst) kann sich da binnen Stunden völlig ins Gegenteil verkehren. Ja, ich muss davon ausgehen, dass keine der Wahrnehmungen absolut ist. Weder ist die Welt ein liebenswerter noch ein hassenswerter Ort, weder ist alles gut, noch alles schlecht.

Sowohl die eine als auch die andere Sicht erzeugt (persönliche) Probleme. Ich habe mal gelesen, dass Depressive eher bessere (nachhaltigere) Entscheidungen treffen, als Menschen die euphorisch sind. An mir selbst kann ich derartiges ebenfalls feststellen. Bin ich gut drauf, zählt viel mehr der Augenblick und dann lasse ich mich durchaus eher zu Dingen hinreissen, wie spontane Entscheidungen zu Ausgaben, oder irgendwo mitzumachen. Der Blick für die langfristigen Konsequenzen oder sich daraus eventuell ergebende Entbehrungen ist vernebelt. Bin ich dagegen deprimiert, neige ich dazu, jeden Handgriff zu zergrübeln und was ich heute tu, muss auch noch in fünf Jahren eine sinnvolle Sache sein. Ich schätze dann auch besser ein, wie meine Kräfte und meine Zeit sind.
Ist aber sicher bei jedem so. Nicht umsonst fragt man Leute eher um einen Gefallen, wenn sie gut drauf sind. Sie sagen eher ja. Ich löffle regelmäßig Dinge aus, die ich mir in einer "Ich könnte die Welt aus den Angeln geben"-Stimmung eingebrockt habe. Ich vergesse, dass ich diese Energie nicht immer habe, sie eigentlich stets nur wenige Stunden anhält, und Zeit begrenzt ist. Dann erdrücken mich in den depressiven Phasen die Versprechen und Forderungen und ziehen mich weiter runter.

Das mit den Helfern: Ich denke, das liegt vielleicht auch daran, dass sie etwas tun, also aktiv etwas am Leid verändern. Hinzu kommt natürlich auch eine gewisse Abspaltung. Würde man das Leid zu nah an sich ranlassen, würde man an dem Job kaputtgehen (was eh viel zu vielen passiert.) Kenne das selbst, dass ich in Phasen des Untergangs zu einem Ackergaul werden kann, der zuversichtlich und mit Optimismus den Karren aus dem Dreck zieht. Oft verwundert mich selbst die Energie und das geradezu unbeschwerte Gefühl während der Sache. Allerdings hält das nur so lange an, wie ich aktiv etwas tun kann. Sind mir die Hände gebunden, trägt das Treiben keine Früchte oder liegt zurück und ich muss das verarbeiten, dann kommt die Keule der Depression.

Erkenntnis: Ich sage mir zumindest in den düsteren Zeiten, dass das nur meine Wahrnemung ist, wenn die Welt gar zu schlecht erscheint. Die positiven Zeiten genieße ich zu sehr, da will ich einfach nur das beste rausholen, sie ausdehnen und sie keinesfalls relativieren.
»Nimm niemals Böswilligkeit an, wenn Dummheit hinreichend ist.« [Hanlon's Razor]
»Wir sind lieber die Bösen als die Dummen.« [Richard David Precht]


Thread-EröffnerIn
LynnCard
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
weiblich/female, 47
Beiträge: 529

Beitrag Mi., 21.01.2015, 13:45

Liebe Rezna

Bei mir sind die Unterschiede zwischen guten und eher melancholischen Phasen nicht getrennt wechselnd, sondern gehen fortwährend ineinander über. Ich würde mich eher als melancholischen Optimisten bezeichnen. Das Euphorische bleibt mir immer erhalten, aber das Melancholische legt sich darüber, sodass ein Gemisch an Eindrücken und Empfindungen entsteht, wo ich dann eben merke, dass ich in weniger guten Stimmungen eher eine kritische Haltung zur Gesellschaft einnehme, während in besonders guten Phasen dies nachlässt und ich dann einfach mein Ding mache, ohne großartig zu hinterfragen. In diesen guten Momenten übernehme ich mich aber, wie Du das beschreibst, ich suche Selbstwirksamkeit in der Aufgabe, die jemand an mich herangetragen hat, während ich in der Überforderung dann merke, dass ich mir zu viel aufgebürdet habe. Deshalb baue ich diesbezüglich nun immer mehr Verantwortungsbereiche ab, weil ich diese Überforderungssignale schon auch ernst nehme, auch wenn sie vielleicht aus einem trüben Moment heraus entstehen. Trotzdem ist es ein Signal, auf sich aufzupassen, würde ich sagen.

Bei mir ist es auch so, dass ich in ernsten Phasen alles bewusster wahrnehme, hinterfrage und nach dem Sinn frage. Das sind die Zeiten, wo ich auch einiges beende und nach Entlastung suche, um frei zu werden für Neues, das mir sinnvoller erscheint, eben auch langfristig. Für meine Ziele, die mir wie das Licht im Tunnel vorschweben, kann ich dann auch wieder Kräfte generieren, aber wenn ich gerade platt bin durch viele noch anstehende Aufgaben, geht das nicht schon schnell, wie ich möchte. Oder wenn ja, bleibt anderes liegen, was eben auch wichtig gewesen wäre. Rein vom Gefühl her würde ich da wohl die falschen Prioritäten setzen. Die unliebsamen Aufgaben fallen mir auch in euphorischen Phasen schwer, weil sie "im Wege stehen" und ich eben lieber das "tolle Projekt" machen will.
LG Lynn

Benutzeravatar

Schneerose
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 44
Beiträge: 1134

Beitrag Do., 22.01.2015, 07:40

Hallo LynnCard,

ganz unrichtig ist deine Erkenntnis sicher nicht - es hat mit dem eignen Befinden zu tun.
Ich glaube aber auch, dass es viel mehr im Leben gibt, was wir garnicht durchleuten können, warum, was, wann, wie ist.
Nur muss ich von mir sagen,
schrumpft mein eh eher angekratzter Optimismus, wenn ich Nachrichten höre, sehe oder lese...
dann ergreift mich der Wahnsinn der Welt,
vom Tierleid, bis Terror, Massenmord, Kriege, Hunger, ...
unendlich viel Leid.

Ich muss dazu aber sagen,
es gibt für mich Unterschiede was mich wirklich "zerfressen" könnte...
z.B. der Tsunami, Erdebeben - eben Naturkatastrophen sind unfassbar tragisch,
aber das ist die Welt, das Leben, das Schicksal, wie auch immer,
nur das von Menschhand gemachte Leid,
das macht mich krank...dieser unfassbare Hass, dieses über andere bestimmen, diese uglaublichen Verletzungen der Menschenrechte,
das Verhungern in den armen Ländern während bei uns massenweise Lebensmittel vernichtet werden,
das Leiden der Tiere um die unermüdliche Fresssucht von den Menschen zu nähren...
das ist so ...

mir persönlich geht es so,
ICH MUSS DAVOR DIE AUGEN VERSCHLIESSEN
mich wegdrehen, nicht hinsehen,
damit ich MEIN GUTES LEBEN leben kann...
denn sobald ich das sehe und höre, frage ich mich, ob ich ein Recht darauf habe,
MEIN GUTES LEBEN auf dem Leid anderer aufzubauen.
"Der Einzige, der sich wirklich vernünftig benimmt ist mein Schneider, er nimmt jedesmal neu Maß, wenn er mich sieht" :->

Werbung


Thread-EröffnerIn
LynnCard
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
weiblich/female, 47
Beiträge: 529

Beitrag Mo., 26.01.2015, 03:26

Liebe Schneerose

Ja, so geht´s mir eigentlich auch. Wir leben schon in einer sehr "schizophrenen" Gesellschaft. Verdrängung scheint lebensnotwendig zu sein. Auch ein gewisser Egoismus. Ich sah mir einmal eine Doku an, wo ein kleines Affenbaby aus Kummer über den Verlust der Mutter selbst krank wurde, sich zurückzog, nicht mehr fraß, obwohl genug Futter da war, es auch eigenständig lebensfähig gewesen wäre. Es hat so offen getrauert und den Tod der Mutter nicht verdrängt, wurde nicht abgelenkt, es fand einfach nicht zurück in die Gemeinschaft der Affengruppe. Da dachte ich mir auch, dass dieses Affenbaby irgendetwas gebraucht hätte, das es vom Kummer abgelenkt hätte, damit es überlebensfähig würde. Und so ist es doch bei uns allen: Wir könnten keine einzige Sekunde glücklich sein, wenn wir uns das Leid der Welt wirklich vollumfänglich und die ganze Zeit so extrem zu Herzen nehmen würden, ohne es in irgendeiner Form zu sublimieren. Es gibt einfach zu vieles zu verkraften, allein schon die Sterblichkeit des Menschen an sich.

Und doch kann es fruchtbar sein, sich nicht ganz zu verschließen, nur braucht es offenbar eine persönliche Definition, wie damit umgegangen wird im eigenen Erleben, ein Zuordnung, um es verarbeiten und "damit leben zu können".
LG Lynn


Thread-EröffnerIn
LynnCard
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
weiblich/female, 47
Beiträge: 529

Beitrag Di., 10.03.2015, 01:15

Die Wahrnehmung der Gesellschaft ist wirklich sehr subjektiv und auch davon abhängig, womit man sich gerade beschäftigt und wie weit man sich für Neues öffnet. Ich komme immer wieder an Wendepunkte, wo ich spüre, dass ich meinen Blickwinkel verändern muss und es dann auch bewusst tue. Das bringt mir sehr viel, solche bewussten Veränderungen des Standorts. Damit eröffnen sich mir immer wieder neue Sichtweisen und Wissensbereiche, womit ich mich vorher nur am Rande beschäftigte. Und auf einmal ist es so, als würde sich ein breites Bergpanorama eröffnen, diesmal in ein Nebental, das ich erst aus dieser neuen Perspektive entdecke, das erst jetzt vor mir auftaucht, wo ich höher hinaufsteige gen Spitze. Das ist ein tolles Gipfelstürmergefühl, wobei das wahrscheinlich noch öfter passieren wird. Das Leben ist spannend, Wissenschaft ist spannend.
LG Lynn

Werbung

Antworten
  • Vergleichbare Themen
    Antworten
    Zugriffe
    Letzter Beitrag