Interview mit dem Chefarzt einer psychiatrischen Klinik

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hope_81
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 23:05

Was gefällt Ihnen nicht an Ihrem Beruf?

Für Menschen, die gegen ihren Willen eingeliefert werden, bin ich im ersten Moment das pure Böse. Das kann einem nicht gefallen. Leute im religiösen Wahn zum Beispiel – dieser ist oft mit Grössenwahn kombiniert – sind anfangs extrem schwierig zu behandeln. Sie waren ja plötzlich nicht mehr irgendwer, sondern beispielsweise Jesus. Sie fühlen sich grossartig, haben plötzlich eine immense Bedeutung, und ich bin derjenige, der dann sagt: «Es tut mir leid, ich kann Sie nicht gehen lassen.» Wir hatten mal einen Patienten, der auf offener Strasse zu missionieren begann. Er betete laut, sprach Passanten an. Das war noch halbwegs vertretbar. Dann schlug er sich zwei Zimmermannsnägel durch die Füsse. Einmal hatte ich gleichzeitig auf zwei Abteilungen je einen Jesus. Und ein Dritter hielt mich für Gott. Bei solchen Wahnvorstellungen funktioniert eine Therapie nicht ohne Medikamente. Auch dagegen wehren sich diese Patienten anfangs zumeist. Wenn jemand zu mir käme und sagen würde: «Beni, nimm die Tablette, dann verschwindet das Gefühl, dass du Chefarzt bist», dann würde ich diese Tablette auch nicht wollen.

Bringt man einen solchen Wahn wieder weg?

Das hängt von den Ursachen ab. Sicher ist aber: Je eher man be­handelt, desto besser stehen die Chancen, dass man die Krankheit ganz wegbringt. Doch wenn der Wahn über Jahre zur Realität wird, bringen Sie das nicht mehr weg. Interessant ist, dass sich die Kultur im Wahn widerspiegelt: In der Schizophrenie zum Beispiel gibt es das Gefühl, fremdbeeinflusst zu sein. Früher hatten die Patienten das Gefühl, es passiere durch Röntgenstrahlen, dann durch Satelliten, heute ist es das Internet. Es gibt auch kulturelle Unterschiede: In Japan glauben viele Menschen, vom Kaiser abzustammen.

Wo endet die Normalität?

Die Frage ist: Wo beginnt das Leid? Das ist entscheidend. Wenn Sie ein Schachgenie sind, sind Sie zwar ziemlich abnormal, aber kein Fall für den Psychiater. Es geht nicht darum, die Menschen einzumitten. Mein Job ist es, Leid zu mindern. Natürlich gibt es dabei eine subjektive Komponente: Es gibt Menschen, die es sich mit ihren Zwängen gut eingerichtet haben: Sie haben einen toleranten Chef, den es nicht stört, dass sie immer vor der Digitaluhr stehen müssen, wenn die Uhr dieselben Zahlen anzeigt: 15 : 15, 16 : 16, 17 : 17 … Oder sie wohnen noch bei der Mutter, die es nicht stört, dass das ganze Haus mit Gerümpel vollgestellt ist. Von aussen könnte man meinen, diese Menschen leiden extrem, aber eigentlich geht es ihnen gut, sie stören weder sich noch andere. Die Frage ist: Was passiert, wenn der Chef plötzlich die Zwänge nicht mehr akzeptiert oder die Mutter stirbt?

Was erzählen Sie eigentlich Ihren Kindern, was Sie den ganzen Tag so machen?

Die beiden sind noch sehr klein, ihnen einen Wahn erklären zu wollen – das wäre zu schwierig. Im Kindergarten erzählen sie, ihr Vater sei ein Kopfdoktor. Meine Frau sagt den beiden, ich tröste Menschen, die traurig sind. Das gefällt mir eigentlich ganz gut. Kürzlich war meine Tochter krank. Sie übergab sich mehrmals, also tastete ich ihren Bauch ab. Da sagte sie: «Papa, lass gut sein. Du bist bloss ein Kopfdoktor, was ich brauche, ist ein richtiger Arzt.»
Das Beste, was du für einen Menschen tun kannst, ist nicht nur deinen Reichtum mit ihm zu teilen, sondern ihm seinen eigenen zu zeigen.
Benjamin Disraeli

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Beitrag Mo., 11.11.2013, 23:07

Das Fach geniesst keinen sonderlich guten Ruf, und die Ausbildung dauert ewig: Warum wollten Sie Psychiater werden?

Ich hatte an der Kantonsschule gute Lehrer. Mein Philosophielehrer war Analytiker am Freud-Institut, und bei meinem Lateinlehrer lasen wir den Philosophen und Psychotherapeuten Paul Watzlawick. Die Menschen, so Watzlawick, passen den Ideen die Realität an und nicht die Ideen der Realität. Das fand ich interessant. Aber es war jetzt nicht so, dass Psychiater mein Kindheitswunsch war. Als Knirps wollte ich Polizist werden mit der Begründung, dass man auf Polizisten nicht schiessen darf. Dann war ich achtzehn und musste ja irgendwas studieren. Ich entschied mich für Medizin, ohne genau zu wissen, warum eigentlich. Da kristallisierte sich dann sehr schnell heraus, dass es die Psychiatrie ist, die mich am meisten interessiert.

Als Chirurg würden Sie dreimal so viel verdienen.

Ich verdiene genug. Ich will mich wirklich nicht beklagen. Wenn es ums Geld gegangen wäre, hätte ich Wirtschaft studiert. Und zum Chirurgen hätte es nie gereicht. Glauben Sie mir, von mir wollen Sie nicht operiert werden. Ich habe zwei linke Hände: Im Werkunterricht zeigte der Lehrer den nächsten Schritt immer an meinem Modell, weil es dort noch am meisten zu tun gab. Als Kind musste ich sogar in eine Therapie, weil ich feinmotorisch gestört war. Während des Studiums aber zeigte es sich, dass ich für die Psychiatrie ein Talent habe. Für meine Patientengespräche erhielt ich viel Lob. Und ich merkte, dass ich mich nicht mit einem Knie oder einer Leber beschäftigen wollte, sondern mit Menschen. Also packte ich nach sechs Jahren Medizinstudium und dem Staatsexamen noch einmal sechs Jahre drauf. Für die Selbsterfahrung legte ich mich während vier Jahren viermal pro Woche auf die Couch einer Psychoanalytikerin. Ausser in den Schulferien. Eine Session kostete 140 Franken.

Fiel Ihnen da nach einer Weile überhaupt noch was ein?

Es war extrem intensiv. Man spricht ja über alles, Vergangenes, das Jetzt. Manchmal haben wir uns auch einfach angeschwiegen.

Für 140 Franken pro Stunde?

Man schweigt ja nicht die ganze Stunde. Das wäre Widerstand gegen den therapeutischen Prozess. Ich lernte, dass es eine hohe Kunst ist, mit einem Patienten ein Schweigen auszuhalten. Es kann vorkommen, dass einer nicht reden mag. Oder weint. Und dann kann es manchmal hilfreicher sein, diese Momente auszuhalten, statt umgehend eine Lösung anzubieten: «Halb so schlimm.» Oder: «Na, dann erhöhen wir mal die Dosis um zwanzig Milligramm.»

Haben Sie in den vier Jahren rausgefunden, wer Sie sind?

Das ist eine seltsame Frage, und ich möchte sie auch nicht so direkt beantworten. Ein Mensch hat verschiedene Rollen: Ich bin Psychiater, Vater, Ehemann, Sohn, bester Freund. Früher war ich sicherlich sprunghafter. Einmal pro Jahr wollte ich mein Studium abbrechen, um Maler zu werden oder Schriftsteller. Das hat sich glücklicherweise gelegt. Als meine Ausbildung fertig war und ich Oberarzt wurde, empfand ich es als ein Ankommen. Die Frage, wer ich sonst noch sein könnte, wurde durch die Kinder noch weiter zurückgedrängt. Vor der Selbsterfahrung hatte ich zudem Mühe mit Beziehungen, kaum war die Analyse vorbei, lernte ich meine Frau kennen.
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Benjamin Disraeli

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Beitrag Mo., 11.11.2013, 23:08

Wie steht es in der Schweiz um den Psychiaternachwuchs?

Die Situation ist dramatisch. Der Arztberuf hat grundsätzlich an Attraktivität verloren. Aber die Psychiatrie ist davon speziell betroffen. Vor ein paar Jahren wollten in Zürich noch zwölf Prozent der Absolventen nach dem medizinischen Staatsexamen in die Psychiatrie gehen. Dann fiel die Zahl runter auf drei Prozent. Letztes Jahr war es in Zürich von mehr als hundert Medizinern noch einer. Ich erinnere mich: Als ich mich nach meinem Staatsexamen im Burghölzli bewarb, erhielt ich eine knapp gefasste Absage. Ich wurde noch nicht einmal zu einem Gespräch eingeladen. Heute bewerben sich die Kliniken bei den Assistenten.

Der aktuelle Mangel an lokalen Psychiatern wird mit Psychologen aufgefüllt – und mit Ärzten aus Deutschland und dem Ostblock. Die Sprache, sagten Sie, sei in der Therapie zentral. Ist es nicht problematisch, wenn ein Patient mit starkem Appenzeller Dialekt in der Klinik auf einen Arzt aus dem Osten trifft, der nur gebrochen Hochdeutsch spricht?

Als ich als Assistenzarzt in der Gerontopsychiatrischen Klinik Hegibach auf der Depressionsabteilung arbeitete, war ich der einzige Schweizer im Ärzteteam, die anderen – die Chefin, der Oberarzt, die zweite Assistentin – kamen aus Deutschland. Bei einer Chefarztvisite sagte ein Patient: «Früener nachem Schaffe hends amigs gseit: Jetzt gömer no eis go gügele.» Die drei schauten mich an: «Herr Dubno, eins go gügelen, was heisst das?» Ich arbeitete regelmässig als Übersetzer. Eine erste psychiatrische Zuweisung ist mit Sprachdifferenzen problemlos machbar, eine Psychotherapie dagegen ist unmöglich. In unserer Klinik haben wir glücklicherweise nach wie vor einen relativ hohen Anteil an Schweizer Ärzten. Aber es ist auch klar, dass es ohne Psychiater aus Deutschland und Österreich nicht funktionieren würde. Diese sprachlichen und kulturellen Differenzen jedoch sind überwindbar. Es gibt ja auch eine andere Seite: Wir haben viele ausländische Patienten. Psychiater, die Albanisch, Kroatisch, Serbisch, Italienisch oder Türkisch sprechen, sind für uns sehr wertvoll.

Wie erklären Sie sich, dass die Psychiatrie derart unbeliebt ist?

Denken Sie nur an das Beispiel Russland, wo heute wieder vermehrt Regimekritiker für psychisch krank erklärt werden. Der schlechte Ruf der Psychiatrie ist auch historisch bedingt: Diese noch immer junge Wissenschaft hat in manchen Aspekten eine dunkle Geschichte. Heute tragen wir das «integriert» im Namen, sind eng verflochten mit den Gemeinden, und jede Zwangseinweisung ist heute umgehend juristisch anfechtbar. Vor vierzig Jahren aber konnte es noch passieren, dass einer ohne Rekursmöglichkeiten in einer Klinik verschwand. Das Bild, das Ken Kesey in «Einer flog über das Kuckucksnest» von der Psychiatrie gezeichnet hat, war zwar in Teilen überspitzt, aber es war nicht völlig falsch. Sie brauchen bloss eine Karte von Zürich um 1900 zu betrachten: Das Burghölzli war abseits der Stadt gebaut, die Klinik von hohen Mauern umgeben und mit «Irrenheilanstalt» beschriftet, und die Pfleger hiessen Wärter. Aber das ist heute ja nun wirklich völlig anders. Dass der Psychiatrie nach wie vor abwehrend begegnet wird, hat meines Erachtens heute andere Gründe.
Das Beste, was du für einen Menschen tun kannst, ist nicht nur deinen Reichtum mit ihm zu teilen, sondern ihm seinen eigenen zu zeigen.
Benjamin Disraeli

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Beitrag Mo., 11.11.2013, 23:12

Und die wären?

Es ist nicht mehr so sehr die Psychiatrie, die stigmatisiert wird, sondern die Krankheit. Wenn ich etwas dämonisiere, dann hat es mit mir nichts zu tun. Das ist ein beruhigender Gedanke. Und eine psychische Störung empfindet man normalerweise als etwas sehr Bedrohliches: Es ist ein extremer Kontrollverlust. Das Gefühl der möglichen Stigmatisierung ist ein zusätzliches Problem: «Ich bin ein Psycho, alle zeigen mit dem Finger auf mich!» Nicht wenige, die irgendwann von einer psychischen Krankheit betroffen sind, zählten vorher ebenfalls zu jenen, die stigmatisierten: Psychisch krank, das sind die anderen, die Komischen. Und plötzlich ist man selbst krank und stigmatisiert sich dafür selbst, was den Verlauf mit Sicherheit verschlimmert. Kürzlich kam ein Mann wegen einer schweren Depression zu uns. Als er eingewiesen wurde, hatte er drei Promille im Blut und miserable Leberwerte. Wir erklärten ihm, die Ursache für seine Depression sei schwerer Alkoholismus. Er war empört: Er sei ja wohl kein Alkoholiker, er arbeite! Alkoholiker, das seien die anderen, jene, die den ganzen Tag im Park sitzen und trinken.

Wie wollen Sie das Bild ändern?

Manchmal gibt es Kampagnen für Toleranz. Ich bin skeptisch, ob sie viel bewirken. Menschen, die sich vor einer psychischen Krankheit fürchten, wollen garantiert nicht hören, dass es jeden treffen kann. Mehr Verständnis für die Psychiatrie geweckt hat beispielsweise das Burn-out der SVP-Nationalrätin Natalie Rickli. Für sie war es mit Sicherheit tragisch. Ich gönne das wirklich niemandem. Gleichzeitig wirkte die öffentliche Thematisierung ihrer Krankheit extrem entstigmatisierend. Ihre Krankheit verdeutlichte, was viele nicht hören wollen: dass es jeden treffen kann. Aber der Fall zeigte auch, dass viele aus einer Krankheit heraus den Weg zurückfinden in den Alltag.
Das Beste, was du für einen Menschen tun kannst, ist nicht nur deinen Reichtum mit ihm zu teilen, sondern ihm seinen eigenen zu zeigen.
Benjamin Disraeli

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