Interview mit dem Chefarzt einer psychiatrischen Klinik

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Red Mosquito
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Interview mit dem Chefarzt einer psychiatrischen Klinik

Beitrag So., 10.11.2013, 12:27

... über Suizid, Verliebtheit in der Therapie, Psychopharmaka, den Beruf, die Ausbildung, und, und, und

http://blog.dasmagazin.ch/2013/09/27/lu ... ?goslide=0

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haluro
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Beitrag So., 10.11.2013, 19:03

Danke. Ein lesenswertes Gespräch.

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Solage
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 19:04

@Red Mosquito

Vielen Dank.
Dieses Interview finde ich echt interessant. Da ist wirklich alles dabei. Machtgefälle in Therapien, erotische Anziehung zwischen Therapeut und Patienten, Suizid, den Tod usw.

Hat mir sehr gut gefallen.

Viele Grüße
Solage

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Chinchi
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 20:11

Also egal wie ich versuche diesen Link oder überhaupt diesen Blog zu öffnen, es klappt nicht. Mein Internet explorer funktioniert sonst völlig normal.
Gibt es das Interview vielleicht noch woanders? Ich würde es gerne lesen, aber ich finde es sonst nirgends.

Liebe Grüße
Chinchi

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Solage
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 20:17

@Chinchi

Googel mal: "Das Magazin Lust auf ein Psychogespräch" Da steht es gleich am Anfang.

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Chinchi
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 20:35

Danke Solage! Leider kommt dann trotzdem immer wieder das Fenster "explorer funktioniert nicht" obwohl sonst alles in Ordnung ist. Seltsam... so ein Mist. :(

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Pinguin Pit
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 20:42

Hallo Chinchi,

tröste Dich, Du bist nicht allein, ich kann die Seite auch nicht aufrufen. Registerkare wird geschlossen, wieder geöffnet, wieder geschlossen, bis der IE (Windows XP, IE V8) abk***t.
Vielleicht liebt es am Browser oder der IE-Version.

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Chinchi
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 20:49

Hey Pinguin Pit,

du hast mich auf die Idee gebracht!! Habe es jetzt mit einem anderen Browser versucht und es hat geklappt. Mit mozilla firefox gehts.

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Solage
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 20:54

Schön, dass es jetzt geklappt hat. Wollte Euch gerade den Text reinkopieren. Ist aber sehr lang und ich weiß auch nicht, ob ich das darf.

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Red Mosquito
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 22:33

Hey Leute

Hier gibt es ja keine Danke-Buttons. Deshalb so: Danke für Eure Rückmeldungen.

Gute Nacht allerseits!
Mosquito

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hope_81
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 22:51

Mhh, ich bin mal so frei und kopiere Euch das Interwiev einfach hier herein :

Gespräch  Daniel Ryser
Das Magazin — Die Pharmaindustrie hat heute für jedes körperliche Leid ein Mittel parat. Und auch Psychopharmaka boomen. Wozu braucht es da die klassische Psychotherapie überhaupt noch?

Benjamin Dubno — Weil die Psychotherapie sehr wirksam ist. Medikamente sind zwar oft notwendig, sie können aber die Psychotherapie nicht ersetzen.

Aber wenn man die explodierenden Psychopharmaka-Umsätze betrachtet, könnte man zum Schluss kommen: Ein Psychiater beschränkt sich heute auf das Verschreiben von Pillen.

Die Entwicklung, dass man ausschliesslich medikamentös behandelt, trifft für die Schweiz in dieser Dramatik nicht zu. Es ist aber so, dass in vielen Ländern die Dichte an Psychiatern sehr gering ist: Wenige Psychiater sind für viele Patienten verantwortlich. Nicht selten ist dieser Psychiatermangel Ergebnis eines falschen Anreizsystems. Es ist prinzipiell so, dass bei einem Arzt physische Untersuchungen oder Eingriffe besser vergütet sind als Patientengespräche. In gewissen Ländern ist dieser Unterschied besonders gross, in Japan etwa. Wie ich aus Gesprächen mit einem japanischen Berufskollegen weiss, sind dort psychische Krankheiten und somit auch die Psychotherapie extrem stigmatisiert. Dieses negative Zusammenspiel führt dazu, dass Psychiater im Schnellverfahren Pillen verschreiben. Ein Psychiater behandelt in Japan heute täglich hundertzwanzig Patienten. Da bleibt pro Gespräch eine halbe Minute. Depressive schliessen sich in ihrer Wohnung ein, isoliert und in dreifach höherer Dosis medikamentiert als etwa in der Schweiz. Das ist Irrsinn.

Doch auch bei uns ist der Absatz von Pillen markant ge­stiegen.

Mein Schwerpunkt in der Therapie ist das Gespräch mit dem Patienten. Wenn es nicht anders geht, verschreibe ich Medikamente, damit Gespräche überhaupt möglich sind. Bei einer schweren Psychose, wenn jemand Stimmen hört, sich verfolgt fühlt, erzielen Sie ohne Medikamente keine Fortschritte. Dagegen werden Sie zum Beispiel in einer Paartherapie mit Medikamenten nichts erreichen. Die Frau sagt zum Mann: «Führ dich nicht so kindisch auf.» Der Mann antwortet: «Solange du mich wie ein Kind behandelst, verhalte ich mich wie ein Kind.» Sie sagt: «Solange du dich wie ein Kind aufführst, behandle ich dich wie eins.» Es ist ein endloser Zyklus, der immer schlimmer wird. Das löst man nur über eine Gesprächstherapie.

Sie stehen als Chefarzt auch mehreren Akutstationen vor. Wer sind Ihre Patienten?

In der Erwachsenenpsychiatrie sind Frauen und Männer ungefähr gleich vertreten. Menschen mit Psychosen, Depressionen, Suizidabsichten, Ängsten. Dann gibt es Krankheiten, bei denen ein Geschlecht dominiert, etwa bei Depressionen, die bei Frauen häufiger sind. Bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen sind die Frauen in der Klinik ebenfalls häufiger vertreten als Männer: Menschen mit diesem Störungsbild haben Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Menschen. Sie reagieren im­pulsiv und aggressiv, sie sind schnell gekränkt oder emotional äusserst instabil. Männer richten diese instabilen Emotionen häufig gegen andere, Frauen richten sie gegen sich selbst. So landen viele Männer im Gefängnis, Frauen hingegen in einer psychiatrischen Klinik. Eine weitere spezielle Klientengruppe sind Asylbewerber und Personen mit illegalem Aufenthaltsstatus: Sie sind deutlich überrepräsentiert.

Warum?

Weil Asyl ein riesiger Stress ist. Migration ist selbst ein Risikofaktor bei Psychosen: Lange dachte man, Schizophrenie sei eine überall auf der Welt gleich häufig auftretende Krankheit. Dann stellte man fest, dass Migranten häufiger an Schizophrenie leiden als die Landsleute im Heimatland. Asylbewerber oder Illegale stehen vor einer völlig ungewissen Zukunft. Oft unter widrigen Umständen geflohen und traumatisiert, sind sie in schwierigen Verhältnissen untergebracht und müssen auf engstem Raum mit Menschen zusammenleben, die selber psychisch sehr angeschlagen sind. Wenn Sie zwischen nichts und nichts stehen, wird es Ihnen nicht gelingen, abends abzuschalten. Hoffnungslosigkeit ist für die Psyche extrem belastend – das wissen wir aus der experimentellen Psychologie genau. Und diesen Menschen fehlt hierzulande ein soziales Netz, das bei einer ambulanten Therapie sehr hilfreich wäre. Wenn Sie Freunde und einen guten Hausarzt haben, brauchen Sie womöglich keinen Psychiater.
Das Beste, was du für einen Menschen tun kannst, ist nicht nur deinen Reichtum mit ihm zu teilen, sondern ihm seinen eigenen zu zeigen.
Benjamin Disraeli

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hope_81
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 22:57

Als Patient kann ich die Klinik verlassen, wann immer ich will?

Unsere Akutabteilungen sind teiloffen. Zwei Drittel der Patienten kommen freiwillig zur Therapie, ein Drittel werden gegen ihren Willen eingewiesen. Erstere können die Klinik jederzeit verlassen, wenn sie das verlangen. Bei Letzteren kommt es auf den Zustand an. Im Schnitt bleibt ein Patient zwanzig Tage. In ganz extremen Fällen, wenn jemand eine unmittelbare Gefahr für sich oder andere darstellt, kommt die Person vorübergehend in ein Isolierzimmer. Im Normalfall kann sich eine stark gefährdete Person auf einer Abteilung frei bewegen, die Abteilung aber ist dann geschlossen. Man kommt dann nur mit einem Badge rein und raus. Es ist aber auch klar: Wer therapeutisch arbeitet, macht automatisch Abstriche bei der Sicherheit. Wir haben ja keine Schleusen wie im Gefängnis. Wenn jemand wirklich von hier verschwinden will, schafft er das auch. Einmal wurden wir verklagt, weil ein Patient sich mit einer Gabel den Arm aufgekratzt hatte. Aber wenn wir alles von den Patienten fernhalten wollten, bliebe die Gummizelle.

Sind Sie häufig mit dem Tod konfrontiert?

Ich bin seit 2005 hier. Seither weiss ich von acht Menschen, die wir intensiv betreut hatten, die sich das Leben genommen haben. Bei einigen lag die Behandlung lange zurück. Zwei nahmen sich während der Hospitalisation das Leben.

Wie gehen Sie dann mit den Angehörigen um?

Bei schweren Krankheitsverläufen ist man schon lange mit den Angehörigen in Kontakt. Und es ist zwingend, dass man mit den Angehörigen im Rahmen der Behandlung auch darüber redet, dass der Patient sich irgendwann das Leben nehmen könnte. Wir sind zwar eine psychiatrische Klinik, aber wir haben ja auch keinen Schlüssel, den wir drehen, und dann ist alles gut. Wenn die Extremsituation eintritt, drücken wir unser Mitgefühl aus und laden zum Gespräch. Meine Bürotür steht Angehörigen offen. Auch nach Jahren. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Eltern Jahre nach dem Tod eines Kindes plötzlich Gesprächsbedarf spüren. Die Reaktionen sind so unterschiedlich wie die Fälle: Einmal bedankten sich die Eltern einer verstorbenen Patientin für die ambulante Behandlung. Es war ein langer, schwerer Krankheitsverlauf gewesen. Aber wie will man solch einen Dank annehmen? Andere Eltern haben uns angezeigt.

Was haben Ihnen die Eltern vorgeworfen?

Ein junger Mann war mit Suizidgedanken zu uns überstellt worden. In der Klinik beruhigte er sich rasch. Wir führten Gespräche mit ihm und den Angehörigen: Was war passiert? Wie kann man in Zukunft reagieren? Wie geht es weiter? Er distanzierte sich von Suizid, das Krankheitsbild besserte sich, und die Sicherheitsstufe wurde gelockert.

Was heisst das?

Als teiloffene Klinik regeln wir den Ausgang unserer Patienten individuell: Manche dürfen nicht raus, manche dürfen sich den ganzen Tag auf dem Gelände frei bewegen, manche nur für eine Stunde, manche dürfen die Klinik verlassen und müssen bloss für die Nacht zurückkommen. Manche dürfen die Klinik am Wochenende verlassen, andere täglich eine Stunde, aber nur in Begleitung von Angehörigen. Im Rahmen eines von mir verordneten Ausgangs hat sich der junge Mann das Leben genommen.

Was hatten Sie übersehen?

Wir fanden bei der Rekonstruktion des Falls nichts, das wir übersehen hatten. Die Klinik ist im besten Fall eine Oase, aber die Wüste bleibt dieselbe. Wenn der Patient sich doch etwas antut, obwohl er vorher glaubhaft versicherte, es nicht zu tun, und sich das Krankheitsbild auch gebessert hatte, dann ist dies nicht der Fehler der Ärzte. Bei aller Tragik. Ansonsten könnten wir Patienten nach einer Krise nie mehr entlassen. Wir können nicht die Verantwortung für das gesamte Leben eines Patienten übernehmen. Die Angehörigen aber waren überzeugt, dass wir etwas übersehen hatten. Die Staatsanwaltschaft, die bei einem Tod während der Hospitalisation automatisch eingeschaltet wird, sah das anders. So dann auch das Obergericht und eine externe Expertise: Das ganze Behandlungsteam und ich als verantwortlicher Oberarzt hatten die Sorgfaltspflicht nicht verletzt. Aber die Sache zog sich über ein Jahr hin und hat mich extrem mitgenommen. Man kann unsere Klinik mit einer Intensivstation vergleichen: Wir haben mit Menschen zu tun, die gefährdet sind. Wenn jemand an Krebs stirbt, kommen die Angehörigen selten auf die Idee, den Onkologen zu beschuldigen. In der Psychiatrie dagegen passiert es schnell, dass die Leute das Gefühl haben, dass etwas falsch gelaufen sei.
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Benjamin Disraeli

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Beitrag Mo., 11.11.2013, 22:58

Hat man niemals Selbstzweifel, wenn sich ein Patient das Leben nimmt?

Natürlich hat man die. Als Psychiater dokumentiert man jeden Schritt einer Therapie, das sichert einen juristisch ab, aber das ist ja nur die eine Seite. Die menschliche Seite ist eine andere: Wenn ein Patient stirbt, ist man erschüttert. Und natürlich fragt man sich: Hätte ich anders handeln können? Habe ich etwas übersehen? Oder man fragt sich: Bringt das überhaupt irgendwas, was ich hier tue? Die entscheidende Frage in der Rückschauanalyse lautet: Würde ich trotz der Tragödie wieder gleich handeln?

Und Sie konnten diese Frage immer mit Ja beantworten?

Ja, das konnte ich.

Wie gehen Sie mit dem Tod um?

Meine allererste Patientin – es war während des Studiums auf der Neurochirurgie – war eine junge Mutter mit einem Gehirntumor. Es war klar, dass sie bald sterben würde. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, dass ich hier Menschen mit tödlichen Diagnosen begegnen würde. Bei den Chirurgen war der Umgang mit dem Tod kein Thema. Das hat mich schockiert. Meinen neuen Assistenten sage ich immer: «Wenn Sie in der Psychiatrie arbeiten, ist es nicht die Frage, ob, sondern wann Sie mit dem Suizid eines Patienten konfrontiert werden. Wenn das passiert, dann steht mein Büro jederzeit offen.»

Wie schaffen Sie es bei langwierigen Therapien, als Psychiater Distanz zu den Patienten zu halten?

In meiner Assistenzzeit fragte ein Professor während eines Vortrags: «Wer im Raum hatte schon erotische Fantasien mit einem Patienten?» Mehr als die Hälfte streckte die Hand hoch.

Sie auch?

Nein. Aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt auch erst ein Jahr auf der Alterspsychiatrie gearbeitet. Das Ergebnis der Umfrage war an sich nicht erstaunlich: Er fragte ja nur nach Fantasien. Ich kann eine Patientin attraktiv finden und trotzdem problemlos professionell bleiben. Dazu muss ich mich aber selbst gut spüren und merken, dass ich mich zu jemandem hingezogen fühle. Sonst fang ich plötzlich an, die Person bevorzugt zu behandeln: ein neues Medikament da, eine frühzeitige Entlassung dort. Es ist ein klassischer Anfängerfehler: Assistenzärzte stehen an ihrem freien Tag in der Klinik, weil sie glauben, dieser eine bestimmte Patient brauche sie dringend. Es gibt den einfachen Trick, sich zu fragen: Behandle ich alle Patienten gleich, oder stehe ich nur für einen bestimmten am freien Tag auf der Matte? Wenn Letzteres der Fall ist, ist es Zeit für die Supervision.

Dass man die Distanz verliert, passiert offenbar selbst Profis: In der HBO-TV-Serie «In Treatment» verliebt sich ein erfahrener Psychiater in eine Patientin.

Zum Abschalten schaue ich häufig Serien: Dieses Wochenende – die Kinder sind aus dem Haus – absolvieren meine Frau und ich einen «House of Cards»-Marathon, eine Politserie voller fieser Intrigen und mit einem Psychopathen in der Hauptrolle. Und als Psychiater kenne ich natürlich «In Treatment». Dort wird die klassische Psychotherapie praktiziert. Ich finde die Serie wirklich gut, wenn sie auch manchmal zu sehr auf Klischees fokussiert ist. Dass sich ein erfahrener Psychotherapeut auf eine Affäre mit einer Patientin einlässt, das halte ich für ein Klischee.
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 23:01

Das ist doch perfekter Stoff für eine Liebesgeschichte: Man sitzt einer hübschen Patientin gegenüber, die von ihren Sorgen erzählt, man steht ihr in einer aufgewühlten Zeit verständnisvoll bei, kann ihr vielleicht ein wenig helfen, und schon landet man zusammen im Bett.

Ich habe nicht gesagt, dass es nicht möglich ist, dass Emotionen ins Spiel kommen. Oder dass man jemanden attraktiv findet. Ich würde sogar behaupten, das ist normal. Dass man deshalb aber die Distanz verliert, halte ich für höchst unprofessionell. Ich kenne im Übrigen einen Psychiater, der sich mal in eine Patientin verliebt hat.

Daraufhin hat er seinen Job aufgegeben?

Nein, weil er richtig reagiert und sich nicht auf eine Affäre eingelassen hat. Als er merkte, dass er mit der gegenseitigen Anziehung nicht umgehen konnte, brach er die Therapie ab und verwies die Patientin weiter. Heute ist er mit ihr liiert, dazwischen aber lag eine lange, von einer Supervision begleitete Kontaktsperre. Dieses Vorgehen entspricht den Standesregeln der Psychotherapie. Fehler passieren. Entscheidend ist, wie man damit umgeht. Die therapeutische Beziehung verläuft immer asymmetrisch: Sie er­zählen mir alles, ich erzähle Ihnen nichts. Dadurch werde ich als Psychiater zum Teil idealisiert. Ich wirke immer wahnsinnig ausgeglichen, weil ich ja nichts vom Puff in meinem Leben erzähle. Dieses Machtgefälle muss mir bewusst sein. Bei gewissen Patienten mit Persönlichkeitsstörungen gehört es sogar zum Krankheitsbild, dass sie versuchen, das Gegenüber zu verführen. Wer sich darauf einlässt, ist im falschen Job. Denn es ist schlecht für die Therapie und somit schlecht für den Patienten. Die Patienten aber kommen zu uns, weil sie Hilfe brauchen. Dieses Vertrauen zu missbrauchen ist unverzeihlich.

Sie hatten nie Probleme mit der Distanz?

In irgendeiner Form passiert das fast jedem Anfänger mal. In meinem Fall war es ein charismatischer Drogensüchtiger, der mich irgendwie faszinierte. Ich war ein junger Assistenzarzt und überzeugt, dass er es schaffen werde, vom Heroin loszukommen. Eines Abends ging er auf Kurve. Er verschwand aus der Klinik, um an der Langstrasse Stoff zu kaufen. Ich war so verletzt und enttäuscht, dass ich mich auf meine Vespa setzte und die Langstrasse rauf- und runterfuhr, um ihn zu suchen.
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Beitrag Mo., 11.11.2013, 23:03

Und haben Sie ihn gefunden?

Natürlich nicht. Es war ja auch wahnsinnig naiv und anmassend zu meinen, ich könne in ein paar Tagen ein Leben reparieren, das womöglich seit zwanzig Jahren falsch gelaufen war. Manche Patienten behandle ich seit zehn Jahren, und der Fortschritt besteht darin, dass sich ihre Situation nicht verschlechtert. Man muss sich bewusst sein, dass man keine Wunder bewirken kann, sondern häufig nur kleine Erfolge erzielt. Das ist der Schlüssel, um ein guter Psychiater zu werden und sich nicht frustrieren zu lassen. Ich habe ein Sprachbild entworfen, das ich hin und wieder an Vorträgen verwende. Ich meine, es beschreibt meine Arbeit ziemlich treffend: Wir stehen als Akutpsychiater am Rand einer steilen Strasse, die Patienten rasen mit hoher Geschwindigkeit hinunter. Wir können nicht auf die Strasse springen und das Auto stoppen, aber wir können ihnen zurufen, sie sollen bremsen. Wenn sie uns kennen und uns vertrauen, dann tun sie das vielleicht auch.

Das Verhältnis zwischen Psychiater und Patient ist immer auch durch Macht geprägt. Gefällt Ihnen diese Macht?

Ich wäre nicht Chefarzt, wenn ich Probleme mit Macht hätte. Aber ich bin nicht machtgeil, wenn Sie das meinen. Ich übernehme gern Verantwortung. Ich bilde auch sehr gern Assistenten aus. In der direkten therapeutischen Beziehung mit Patienten empfinde ich mich aber nicht als jemanden, der Macht ausübt. Ich empfinde mich eher als eine Art Berater. Ich erkläre den Patienten, warum ich der Meinung bin, dass sie dieses oder jenes Medikament nehmen sollten – den Entscheid aber überlasse ich ihnen. Ich will auch nicht, dass die Leute zu mir kommen und jegliche Eigenverantwortung abgeben. Wenn einer sechzig Zigaretten pro Tag raucht, befremdet es mich ein wenig, wenn er ernsthaft über Halsschmerzen klagt.

Was mögen Sie an Ihrem Beruf?

Mir gefällt es, wenn ein Patient merkt, dass ihm die Therapie gut tut. Gerade Menschen mit Schizophrenien werden beim ersten Mal häufig gegen ihren Willen eingewiesen. Diese Zwangseinweisung kann für die Patienten sehr schlimm und sogar traumatisierend sein. Wenn wir es dann schaffen, dass der Patient bei den ersten Anzeichen eines Rückfalls freiwillig zu uns kommt, haben wir einen guten Job gemacht. Das bedeutet, er vertraut uns und hat mit der Zeit gemerkt, dass wir ihm helfen und nicht schaden wollen. Diese Freiwilligkeit und Partnerschaftlichkeit ist für den Patienten in vieler Hinsicht gut: Je früher einer kommt, desto besser verläuft in den meisten Fällen die Therapie.
Was mögen Sie sonst noch?

Wenn Sie Menschen lange therapeutisch begleiten, erleben Sie diese auch in guten Momenten. In akuten Krisen erzielt man zudem häufig Fortschritte, das kann befriedigend sein – wenn Sie zum Beispiel jemanden aus einer akuten Depression herausholen und er zurück ins Leben findet. Den meisten geht es ja besser, wenn sie die Klinik verlassen. Mir gefällt die langfristige Therapie, die kein Muster kennt, und nicht das schnelle Pillenverschreiben: Man baut eine Beziehung auf, findet Anknüpfungspunkte, aber jede Therapie ist wie das Malen eines Bildes oder das Verfassen eines Romans: Man hat anfangs vielleicht eine Vorstellung, aber am Ende kommt womöglich alles ganz anders. Am meisten gefällt mir dabei, dass die Sprache eine wichtige Rolle spielt: Was wird gesagt? Wie wird es gesagt? Was wird genau nicht gesagt? Der vielleicht eindrücklichste Moment meiner Karriere war der Fall eines jungen Patienten, der aus einer anderen Klinik zu uns floh.

Warum das denn?

Er war bereits wegen Schizophrenie bei uns in Behandlung gewesen. Beim ersten Mal hatte man ihn gegen seinen Willen gebracht, beim zweiten Mal kam er freiwillig. Bei einem erneuten Schub musste er wieder eingeliefert werden. Aber weil wir voll waren, wurde er an eine andere Klinik überstellt. Und von dort flüchtete er zu uns. Er war nicht vor der Psychiatrie geflüchtet, sondern vor fremden Menschen.

Was fasziniert Sie an psychischen Krankheiten?

Mich fasziniert, wie sich jeder Mensch seine eigene Realität schafft. Und wie sehr diese Realität von Gefühlen abhängig ist.
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Benjamin Disraeli

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