Vater mit Demenz im Pflegeheim

Hier können Sie sich über Belastungen durch eigene oder fremde schwere Erkrankungen, aber auch den Umgang mit Tod und Trauer austauschen.
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ziegenkind
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Vater mit Demenz im Pflegeheim

Beitrag Do., 16.11.2023, 09:09

Ich glaube, ich brauche etwas Zuspruch.

Ich habe vorgestern meinen an Demenz erkrankten Vater, zu dem ich lange Jahre kein gutes Verhältnis hatte und zu dem ich zwei Mal für mehrere Jahre den Kontakt abgebrochen hatte, in ein Pflegeheim gebracht.

Das war der schwerste Tag meines Lebens.

Er ist 91 Jahre alt. Meine Mutter ist vor 6 Jahren gestorben. Er hat in der Seniorenresidenz, in der er vorher gelebt hat, eine neue Freundin gefunden, die jetzt auch nicht mehr konnte. Mein Vater sagt manchmal alle 5 Minuten dasselbe, er hat manchmal die Toilette in seiner Wohnung nicht mehr gefunden, lebt immer mehr in der Vergangenheit und glaubt z.B. seine Eltern kämen gleich.

Vorher hat er 600 Km von mir entfernt gewohnt. Das Pflegeheim ist jetzt 5 Minuten zu Fuß von unserer Wohnung entfernt. Im Moment laufe ich 2 Mal am Tag hin. Es ist ein gutes Heim. Er hat ein großes Zimmer mit schönem Parkettboden. Das gefällt ihm auch. Aber während er jeden Tag noch mit Jacket rumläuft, hüpfen da andere alte Männer schon mal ohne Hose durch die Gegend.

Ich bin grad richtig fertig. Schlafe kaum, habe Durchfall und lenke mich mit Arbeit ab.

Es ist einfach richtig fürchterlich.

Ich wäre sehr dankbar für einen Gedankenaustausch. Mein Vater merkt jetzt langsam, dass er alles vergisst und macht sich dann große Vorwürfe. Wie reagiert man darauf? Sage ich ihm, dass er krank ist?
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.

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Candykills
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Beitrag Do., 16.11.2023, 09:47

Hi Ziegenkind,
es ist halt sogesehen ein großer Alptraum, wenn die eigenen Eltern dement werden. Ich habe mal ein Jahr neben dem Studium auf einer Dementenstation gejobbt und halt rundum Pflege gemacht.
Jeder Demente ist halt unterschiedlich und ich glaube schon, dass man ehrlich sagen kann "hör mal, du wirst vergesslicher, wirst halt auch nicht jünger". Ob man jetzt wirklich noch das Wort Demenz nutzen muss, weiß ich nicht.
Meine Erfahrung ist a) dass Demenz sehr schnell voranschreitet, wenn ein Infekt hinzukommt und dann alles ganz schnell gehen kann b) es Demente gibt, die relativ zufrieden und glücklich in ihrer Welt sind und es die Dementen gibt, die schwer depressiv werden.
Diese Depressivität muss aber nicht mit dem Wissen um die Diagnose zu tun haben, sondern kann Teil der Erkrankung sein.
Es gibt auch solche, die sehr viele Schimpfworte verwenden oder andere weniger gute Dinge tun.
Warum sich das bei dem einen so ausprägt, beim anderen so. Ich glaube nicht, dass man das weiß, weil das oft vom Grundcharakter abweicht und Kinder ihre Eltern nicht mehr wiedererkennen.

Vielleicht weißt du das auch alles, ich will dich da nicht zulabern.
Ich sag das nur, weil ich glaube man muss jemandem nicht unbedingt die Diagnose hinschmettern, wenn er vielleicht von der Stimmung her auch relativ stabil noch ist. Ab einem gewissen Grad weiß der Demente auch nicht mehr so wirklich, dass er dement ist. Und dann kommt hinzu, dass er sehr alt ist mit 91.

Ich würde dir wünschen, dass du die Verantwortung ganz im Pflegeheim lassen kannst und du selbst vielleicht noch etwas Gutes aus der Zeit mit ihm ziehen kannst. Also dir nicht so viele Gedanken um das machst, um das sich die Pfleger kümmern sollten.
Ich bin wie einer, der blindlings sucht, nicht wissend wonach noch wo er es finden könnte. (Pessoa)


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ziegenkind
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Beitrag Do., 16.11.2023, 10:01

Danke Dir, Candy. Und nein: Du laberst mich nicht zu. Ich bin auf einmal ganz fürchterlich unsicher.

Meine Beziehung zu ihm ist in den letzten Tagen tatsächlich auch innig und schön geworden. Ich halte seine Hände, wir trinken ein Glas Wein zusammen, er erzählt irre Geschichten aus seinem Leben, die alle nicht stimmen, aber mitunter ziemlich komisch sind oder in einer verqueren Form seine psychischen Grundkonflikte zum Ausdruck bringen.

Was schwierig ist: Gestern hat er gemerkt, dass er sich nicht an meinen Besuch vom Vortag erinnert hat, sich selber ins Gesicht geschlagen und immer wieder gesagt, "ich habe ja doch einen Dachschaden." Ich habe ihm gesagt, "Papa, das macht doch nichts, Du kannst da nichts dafür, das ist die Krankheit."

Aber das hat nicht geholfen. Er war sehr verzweifelt.

Über weite Strecken geht es ihm aber ganz okay. Er sitzt viel im Sessel und schläft, erzählt mir dann aber, das er bei der Verwaltung der Anlage helfe.
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Candykills
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Beitrag Do., 16.11.2023, 10:23

Vielleicht würde es helfen zu sagen "aber Papa, ich vergesse auch oft Sachen, das kommt mit dem Alter", denn er hat ja auch kein Alzheimer, sondern normale Altersdemenz, wenn ich dich richtig verstanden habe. Es ist also eine Alterserscheinung in erster Linie und weniger eine Erkrankung. Jeden erwischt sie irgendwann, außer man stirbt vorher.
Vielleicht ist Alterserscheinung als Argument für ihn leichter erträglich als das Wort Krankheit?

Und ansonsten finde ich das sehr schön was du beschreibst mit dem Glas Wein und ihn einfach sprechen lassen. Und wie du sagst, es ist egal, ob Märchen oder Wahrheit. Es wird vielleicht irgendwas dazwischen sein. Manchmal kommen da auch nochmal Fähigkeit wie Fremdsprachen zu Tage.
Das ist krass, was Demente manchmal so aus dem Hut zaubern noch.
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ziegenkind
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Beitrag Do., 16.11.2023, 10:30

Das ist eine gute Idee, Candy, das einfach auf das Alter zu schieben.

Ich hab in den letzten Tagen so auf der Krankheit rumgeritten, weil das das entscheidende Argument 3war, um ihn überhaupt is Heim zu bringen. Das war ungeheuer schwer. Am Anfang hat er gesagt, er würde mich totschlagen, wenn ich ihn wegbringe. Dann ging es auf einmal. Wir haben ihm - wie von allen empfohlen - gesagt, er würde erst einmal drei Wochen Urlaub machen, weil auch seine Freundin bei ihren Enkeln sei. Jetzt sagt er oft, er fährt bald nach Hause.

Ich glaube aber auch, dass ICH das Rumreiten auf der Krankheit brauche, um mir zu versichern, das ich das Richtige getan habe und meine Schuldgefühle in Schach zu halten.
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Candykills
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Beitrag Do., 16.11.2023, 10:44

Genau, dir kann ja der Begriff Krankheit hilfreich sein, für ihn ist vielleicht Urlaub und Alterserscheinung die bessere Beschreibung.
Objektiv gesehen ist natürlich auch Altersdemenz ein Argument das nicht leisten zu können und ihn in Obhut zu geben. Wer damit gearbeitet hat, würde auch nie etwas anderes behaupten, weil das ist wirklich ein 24 h Job. Im Grunde kann man kaum eine Minute unaufmerksam sein, solang der Patient noch selbst mobil ist.

Du solltest halt auf dich achten und die Kämpfe dem Personal überlassen. Das Gute ist ja, dass er auch vergessen kann, dass du eben gehst, wenn der Besuch schwierig wird. Und dann können Pfleger übernehmen und mit ihm kämpfen, wenn er aggressiv ist oder sehr orientierungslos.

Und wenn du es nicht zwei Mal am Tag schaffst, dann ist das auch in Ordnung. Selbst wenn es nur alle paar Tage ist, weil es dir damit besser geht, dann ist das in Ordnung und immer noch schön.
Ich kann dir sagen, dass 80 Prozent der Leute, die ich gepflegt habe, überhaupt keinen Besuch bekamen. Gar nicht.
Er hat also großes Glück!
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Philosophia
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Beitrag Do., 16.11.2023, 11:31

Mein erster Gedanke: Ich finde es groß, dass du dich nach all dem, was war, ihm überhaupt zuwenden kannst... damit gibst du ihm so schon viel. Du hast ihm somit nicht nur irgendwie verziehen, sondern du kümmerst dich sogar um ihn.
Mal davon abgesehen - ich habe mehrfach von außen miterlebt, wie Menschen, die sich um einen an Demenz erkrankten Menschen zu Hause gekümmert haben, reihen weise sehr krank geworden sind, so dass einige von ihnen sogar selbst ins Krankenhaus mussten, und spätestens dann das Heim unumgänglich war.
Und was die Besuche angeht - letztens wurde einer Freundin, die ihren demenzkranken Mann täglich im Heim besucht hat, von den Pflegekräften gesagt, sie soll weniger kommen - und zwar wegen ihrer eigenen Gesundheit.
Ich finde auch, dass er großes Glück hat - und sogar doppelt großes nach eurer Geschichte!
"Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen." - Albert Schweitzer

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lisbeth
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Beitrag Do., 16.11.2023, 14:23

ziegenkind, das liest sich schwierig und belastend. Ich glaub dir sofort, dass dir die Entscheidung fürs Pflegeheim schwergefallen ist. Aber ich glaube auch, dass es da nicht DIE eine richtige Entschiedung gibt. Da fließen so viele Perspektiven mit ein, und deine eigene ist da eben auch wichtig: Du musst ja in dieser Situation auch auf dich selbst und deine Bedürfnisse und deine Gesundheit achten. Und auf deine Grenzen. Du weißt ja auch nicht, wie lange diese Situation so andauern wird. So wie du schreibst, ist dein Vater ja körperlich noch verhältnismäßig fit. Und auch da ist es wichtig und völlig in Ordnung, auch die eigenen Grenze im Auge zu behalten, da überhaupt nicht klar ist, ob das ein Sprint wird oder ein Marathon.

Mein Vater ist altersdement, seit mehreren Jahren schon, aktuell funktioniert das noch ganz gut, dass sich hauptsächlich meine Mutter um ihn kümmert, mit Unterstützung von meinen Geschwistern und mir, weil er Vieles (Essen, Körperpflege usw) noch alleine hinbekommt, aber an jeden Schritt oder Teilschritt erinnert werden muss. Außerdem kann er schlecht alleine sein, er braucht eigentlich ständig jemanden in seiner Nähe, weil er sich sonst in seinen Ängsten verliert. Aber dieser Status Quo kann und wird sich auch ändern, und ganz ehrlich: Mir graut auch davor, wenn dieser Moment dann da sein wird.

Was du beschreibst, diese Veränderung in der Beziehung, dass da auf einmal etwas Weiches, Zartes auftaucht, das erlebe ich mit meinem Vater auch. Er ist viel unmittelbarer, emotionaler und das ist eine Seite, die ich so an ihm nie kannte. Und das ist wirklich eine Art Geschenk. Er ist für mich dadurch zugänglicher geworden. Und: ich lerne im Zusammensein mit ihm immer wieder neu, was es heißt, im Moment zu bleiben. Anfangs fand ich es absurd, dass ich seiner Demenz dann doch auch schöne Momente abgewinnen kann. Inzwischen merke ich, wie wichtig diese Momente sind, und ich versuche auch, sie bewusst wahrzunehmen und für mich abzuspeichern.

Im Umgang mit meinem Vater war bisher die Phase am Schwierigsten, wo ihm noch klar war, dass er Vieles nicht mehr weiß und nicht mehr kann. Und es gab auch Phasen, da wurde er ganz ängstlich deswegen und auch verzweifelt. Und das war auch deshalb schwierig, weil kognitiv erklären nichts bringt, weil es zum einen deprimierend ist und zum anderen auch im nächsten Moment wieder vergessen. Vielleicht wird dein Vater auch in 6 Monaten noch sagen, dass er "bald" nach Hause fährt. Aber ich glaube, das ist für ihn weniger schlimm als für dich, da du da mit deinem Zeitempfinden drangehst, seins ist inzwischen anders. Ich bin da bei Candy, überlasse die "Kämpfe", wenn es da Diskussionen gibt, dem Personal, für Angehörige sind diese Dinge auch grade wegen des emotionalen Ballasts nochmal extra kompliziert und Menschen die da nicht so verstrickt sind, können da oft ruhiger agieren. Ein "Vorteil" der Demenz ist auch, dass Ablenkung und Themenwechsel ganz gut möglich sind. ;-)

Ich hab gemerkt, dass emotionale Regulierung über das Haptische immer wichtiger wurde und du scheinst da ja auch schon intuitiv ein paar Dinge für dich entdeckt zu haben. Bei meinem Vater sind das zB: Seine Hände nehmen, mit ihm in den Garten gehen (er ist leidenschaftlicher Gärtner gewesen), bei motorischer Unruhe: Knete oder anderes für die Hände, mit ihm spazieren gehen. Musik: ganz ganz wichtig. Zusammen Musik hören, oder sogar mitsingen. Vermutlich wird "seine" Musik nicht deine Musik sein, aber mir macht es oft dann trotzdem Spaß, wenn ich sehe, wieviel Freude er daran hat. Emotional ist für ihn auch wichtig, dass er sich einbezogen fühlt, wo möglich. Er redet/erzählt inzwischen nicht mehr viel, aber es ist ihm wichtig, dabei zu sein, wenn sich andere unterhalten.

Es verschiebt sich ganz ganz viel weg vom Kognitiven hin zum Unmittelbar-Emotionalen. Für mich war das ganz wichtig, das zu verstehen weil es mir auch andere Möglichkeiten gibt, auf ihn einzugehen.

Und: Auch wenn das nicht immer möglich ist: versuche zu akzeptieren, dass die Dinge so sind wie sie gerade sind. Wenn ich frustriert war, weil dieses oder jenes nicht mehr geht, oder genervt, weil er zum 100. x dieselbe Frage im Minutentakt wiederholt, dann hat sich das oft ziemlich unmittelbar auch auf meinen Vater übertragen. Und er war dann auch frustriert. Ich hab außerdem auf die harte Tour gelernt, dass es nichts bringt, ihn zu besuchen, wenn ich selbst nicht gut drauf bin. Dann kann es schnell kompliziert bis katastrophal werden. Also auch hier: es ist wichtig, dass du auf dich selbst und dein Gleichgewicht achtest. Je mehr du selbst im Gleichgewicht bist, wenn du bei ihm bist, umso mehr wird sich das auch auf deinen Vater übertragen.
When hope is not pinned wriggling onto a shiny image or expectation, it sometimes floats forth and opens.
― Anne Lamott


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ziegenkind
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Beitrag Do., 16.11.2023, 14:57

Danke Euch, Candy, Philosophia und Lisbeth.

Im Moment ist es - glaube ich - für mich schlimmer als für ihn. Sein Zeitempfinden ist wirklich ganz anders. Schon nach zwei Tagen verwechselt er sein Zuhause mit dem Heim.

EIn Segen ist, dass er gut allein sein kann und dann in Phantasien lebt, die er mitunter als solche erkennt. Heute Mittag hat er mit ganz genau geschildert, was für ein Haus er noch bauen will, mit allen Details. Dann hat er sich lachend selbst unterbrochen und gesagt, das sei eine Illusion, aber ohne Illusionen sei auch nicht gut.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.


Kirchenmaus
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Beitrag Do., 16.11.2023, 20:53

Hallo ziegenkind,

etwas wirklich handfest Hilfreiches kann ich wohl nicht beitragen, weil ich die Situation in der Form nicht erlebt habe. Dennoch möchte ich dir mein Mitgefühl aussprechen, denn solche Umbrüche sind wirklich schwer zu verdauen.

Mein Vater war 71, ich 41, als er mit Krebs im Endstadium auf die Palliativstation musste. Wir hatten zuvor auch lange keinen Kontakt. Die drei Wochen, die er vor seinem Tod dort war, waren für mich die schönste Zeit, die ich jemals mit meinem Vater hatte. Wir hatten zum ersten Mal Zeit miteinander. Er war auf dem Weg in eine neue Realität, und es war eine sehr berührende Erfahrung, ihn dorthin zu begleiten.
Immer wieder sprach er davon, wieder nach Hause zurückzukehren. Er schmiedete auch neue Pläne. Vielleicht hat ihm das Zuversicht gegeben auf seinem letzten Weg? Ich weiß es nicht, möchte es aber gern glauben.

Aus meiner Sicht ist es vernünftig und für alle Beteiligten das Beste, dass dein Vater nun gut und sicher untergebracht ist. Natürlich wünscht er sich wahrscheinlich, dass vieles anders wäre, aber es liegt nun leider nicht in unserer Macht, das zu verändern. Vielleicht helfen auch ihm Illusionen, damit die Wirklichkeit nicht so hart auf ihn kracht und ihn unter sich begräbt? Vielleicht würde es ihm auch helfen, wenn du nicht erwähnst, dass du am Vortag bei ihm warst, wenn er sich nicht daran erinnern kann? Weiß nicht, nur so eine Idee.

Es ist unglaublich kraftraubend und traurig, was du nun durchmachen musst, liebes ziegenkind. Bitte versuche, gut zu essen und genug zu trinken und nach Möglichkeit zu schlafen. Ich sende dir ein Licht durch die Nacht.

Herzlich
Kirchenmaus
Es ist in Ordnung, mich zu akzeptieren.

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Lady Nightmare
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Beitrag Fr., 17.11.2023, 02:00

Hallo Ziegenkind,

das ist auch eine sehr schwierige Situation, die eigenen Angehörigen aus ihrer vertrauten Umgebung zu reißen und in ein Pflegeheim zu bringen. Ich bin mir selbst vorgekommen wie ein Ungeheuer, als ich meinen Vater, nachdem ich in die Situation gekommen war, ihn eine Woche in seiner Wohnung selbst zu pflegen, sozusagen im Pflegeheim abgegeben habe. Ich bin da auch auf dramatischen Widerstand seinerseits gestoßen, die erste Zeit war gelinde gesagt nicht einfach. Es war aber die vernünftigste Entscheidung. Und das ist es in deinem Fall auch. Im Rahmen einer dementiellen Erkrankung kommt auch bei viel gutem Willen irgendwann meist der Punkt, an dem es zu Hause nicht mehr geht.

Du hast bestmöglich für ihn gesorgt. Obwohl du ein schwieriges Verhältnis zu ihm hattest, hast du ihm einen Pflegeplatz in deiner Nähe organisiert. Du schreibst, es ist ein gutes Heim. Es wird jetzt eine Phase kommen, in der er sich im Heim mit und mit weiter "einlebt", wobei das auch eine Frage der jeweiligen Persönlichkeit ist. Vergiss deine eigene Bedürfnislage nicht. Wenn du dich übernimmst, hat er auch nichts davon.

Ich würde eher beruhigend reagieren, wenn er sich Vorwürfe wegen seines Gedächtnisses macht. Ich fürchte, ich kann bei dieser Frage nicht so viel beisteuern, weil mein Vater dazu neigt, sein Defizit selbst ganz gerne zu verdrängen und dann ist es auch schon wieder vergessen.

Viel Kraft und denk an dich!


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ziegenkind
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Beitrag Fr., 17.11.2023, 08:26

Kirchenmaus und Lady Nightmare, auch Euch danke ich. Das tut im Moment ganz gut, zu hören, dass das richtig ist, was man macht.

Im Moment ist es erstaunlich einfach mit meinem Vater. Er sagt mir, das Heim, das er allerdings für ein Hotel hält, sei gut, das Essen schmecke ihm und jedes Mal, wenn er mich sieht freut er sich. Wir reden und lachen miteinander in einer Weise, wie wir das noch nie vorher gemacht haben.

Zwischendrin gibt es kurze traurige Momente. Gestern hat er mal darum gebeten, dass ich ihn dort nicht alleine zurücklasse, wenn ich gehe. Das habe ich ihm natürlich zugesichert und ihm versprochen, dass ich ihn regelmäßig besuchen werde. Er versteht überhaupt nicht, dass ich hier wohne.

Gestern habe ich übrigens Candy's Vorschlag umgesetzt und es auf sein Alter geschoben, dass er sich an Manches nicht erinnert. Das hat gut funktioniert.

Trotzdem fragt er jeden Tag, wann er wieder nach Hause fährt. Ich sage immer, in drei Wochen, wenn seine Freundin von ihren Enkeln zurückkommt. Das wird irgendwann noch schwer werden.

Gleichzeitig merke ich aber, wie es ihn entspannt, dass niemand mehr mit ihm meckert, wenn mal etwas schief geht. Seine Freundin wollte immer, dass er wie aus dem EI gepellt aussieht und hat dauernd an ihm rumgezerrt. Jetzt knöpft er sich das Hemd auch mal falsch zu und das macht gar nichts. Die Pfleger*innen lassen ihn Vieles alleine machen, weil er darauf besteht.

Heute Nacht habe ich endlich mal halbwegs okay geschlafen.
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Beitrag Fr., 17.11.2023, 08:29

Lady Nightmare, darf ich mal fragen, wie lange Dein Vater schon in dem Heim ist?

Mein Vater vergisst seine eigene Vergesslichkeit übrigens auch ganz schnell wieder ...
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Lady Nightmare
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Beitrag Fr., 17.11.2023, 10:50

Mein Vater ist jetzt fast drei Jahre im Heim. Dass ich erste Anzeichen von Veränderungen bei ihm festgestellt habe, ist nun annähernd 8 Jahre her. Den Widerstand gegen die Heimunterbringung habe ich auch bei anderen Bewohnern beobachtet, wobei das individuell ist, wie stark der ausfällt. Es ist ein Prozess ...


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ziegenkind
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Beitrag Fr., 17.11.2023, 13:32

Und ist es jetzt halbwegs okay für Deinen Vater, Lady Nightmare? Wie oft gehst Du ihn besuchen? Erkennt er Dich noch?

Meiner - der früher bei der Bundeswehr war - wollte sich heute persönlich beim Kommandeur beschweren. Ich hab ihm gesagt, das sei eine gute Idee, man müsse für seine Interessen einstehen .... Und dann haben ganz gut geplaudert. Ich habe das Gefühl, das jetzt alle Zeiten bei ihm durcheinandergehen. Er glaubt schon, dass das seine Möbel sein in seinem Zimmer, fragt aber, wann er ins Elternhaus zurückkehren könne. Ich hab ihm gesagt, das habe er doch selber verkauft; da sei auch keiner mehr von der Familie. Er war kurz traurig, Aber dann war das vergessen.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.

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