Diagnosen

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.

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leberblümchen
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Diagnosen

Beitrag Mo., 05.10.2015, 11:16

Aus einem eigentlich immer gegebenen Anlass (also nicht explizit auf jemanden persönlich bezogen): Wozu braucht der Psychotherapie-Patient eine Diagnose? Welche Macht haben Diagnosen (richtige ebenso wie falsche)? Warum haben sie diese Macht und wer gibt sie ihnen? Und warum pochen dennoch so viele Patienten auf ihr Recht (ich würde es am liebsten in Anführungszeichen setzen), die Diagnose zu kennen?

Wir wollen alle individuell gesehen und behandelt werden - als "ganze Menschen". Und dennoch sind wir es (praktischerweise beziehe ich mich mal ein, obwohl ich das eigentlich nicht möchte), die den Arzt anflehen, uns in eine Schublade zu stecken und uns einen Stempel zu verpassen. Wir wissen genau, dass meist nicht mal die Fachleute (Mediziner wie Psychologen) einig darin sind, WAS genau unter Diagnose XY zu verstehen ist. Hinzu kommt das Nicht-Einigsein darin, ob Patient XY unter Diagnose YZ einzuordnen ist. Wir wissen es, und dennoch ist da sie Sehnsucht nach dem Urteil des Fachmannes. Obwohl wir nicht uninformiert sind und teilweise besser diese Fachleute wissen, was los ist. Fehldiagnosen gehören zum Alltag in der Medizin. So wie Fehleinschätzungen generell zum Alltag in zwischenmenschlichen Beziehungen gehören.

Wir wissen es und liefern uns dennoch dem Urteil dieses Fachmannes aus. Gleichzeitig wüten wir dagegen, weil wir - wenn die Diagnose sich nicht "gut" anfühlt - uns ausgeliefert fühlen, machtlos. Schei.ße, wir haben die Kontrolle verloren. Der Zauberlehrling lässt grüßen.

Ich bezweifle, dass für einen Psychotherapeuten oder Arzt die Diagnose denselben Stellenwert hat wie für den Patienten. Es muss halt alles irgendwie in einen möglichst winzigen Text gepackt werden, in dem kein Platz ist für Sympathie, Hoffnung, Mutmaßungen oder gute Wünsche. All das ist in der Therapie natürlich zweifellos viel wichtiger als der Code, der krankenkassentechnisch kurz und knackig darstellen soll, worum es geht.

Auch das wissen wir natürlich. Und trotzdem...

Es ist wohl eine (tabusierte) Norm unter Patienten, dass es gute und schlechte Diagnosen gibt - was übrigens auch eine Kategorie ist, die einem seriösen Psychotherapeuten am Ar.sch vorbeigehen dürfte... Gute Diagnosen sind die, in denen irgendwie ein Begriff aus der Wortfamilie "Trauma" enthalten ist. Wer dieses Urteil bekommt, kann sich mehr oder weniger entspannt zurücklehnen, was das Urteil von außen betrifft. Schlechte Diagnosen sind die, in deren Beschreibung sich eher ungangenehme Eigenschaften finden. In dieser Hinsicht scheinen (!) sich gute und schlechte Diagnosen dann auch auszuschließen. Der gute Patient hat keine negativen Eigenschaften! Der gute Patient leidet und nervt nicht!

Ich weiß gar nicht, ob ich darüber diskutieren will oder nicht; ich habe also keine "Frage".

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Unfrei
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 11:27

Moin Leberblümchen!

Ich frage mich auch schon seit längerem, welche Diagnosen mir wohl von meinen Theras (Ex und Aktuell) gegeben wurden/werden würden (klingt komisch...Kopf ist grad nicht frei für Grammatik ).

Grundsätzlich glaube ich, es würde nicht soooo viel mit mir machen, es zu wissen. Es würde mir eher was über die Theras sagen. Unterschiedliche Menschen nehmen einen ja vielleicht unterschiedlich wahr, denke ich.
Aber ganz unspannend ist es doch nicht. Es ist halt interessant, wie andere einen sehen....und man sieht ja immer nur einen kleinen Teil. Und mein Thera sieht sicher andere Dinge als mein Mann oder meine Arbeitskollegen oder meine Familie.

Lg,
Unfrei


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leberblümchen
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 11:34

Stimmt. Faszinierend finde ich es auch (muss ich ja zugeben...). Aber gleichermaßen erschreckend finde ich das, was die Diagnosen mit uns machen. Körperlich ist das ja ähnlich. Solange z.B. der Arzt sagt: "Sie sollten mal mit dem Trinken aufhören" (betrifft mich jetzt nicht), nimmt man das nicht ernst. Sagt er aber: "Die Werte sind jetzt ernsthaft erhöht", bricht die Panik aus - "Muss ich jetzt sterben?" - das Internet ist ja voll von derartigen "guten Fragen"... - dabei sind viele Krankheiten eigentlich ein Kontinuum: Es gibt relativ wenige "ganz Gesunde", die dem Todkranken gegenüberstehen; das meiste spielt sich irgendwo dazwischen ab und kann durchaus relativiert oder behandelt werden. Trotzdem schwanken die Menschen zwischen "alles in Ordnung" und "alles aus".

Die Frage: "Wie sieht der mich?" ist wirklich extrem spannend. Es kommt ja auch oft vor, dass man positiv eingeschätzt wird, obwohl man selbst genau meint zu wissen, dass auch das falsch ist. Das fühlt sich auch nicht gerade gut an.

Ich glaube, dass aber die Diagnose(n) selbst nicht das Entscheidende sind, sondern dass es die Tatsache ist, dass wir in diesen Momenten anerkennen wollen oder müssen, dass jemand Macht über uns hat oder zu haben scheint. Und die Frage ist, ob das so sein muss.

(Was macht die Erkältung?)

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saffiatou
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 11:39

Hallo Leberblümchen,

spannender Thread.

Von meiner Psychiaterin kenne ich einen Teil der Diagnosen, weil sie die auf Briefen, die ich für Anträge benötigt habe, notiert hat. Von meinem jetzigen Thera kenne ich sie nicht und traue mich auch nicht zu fragen, eben aus den Gründen, die Du auch beschrieben hast, es gibt gute und schlechte Diagnosen und manche können schmerzen. Was der Thera, bei dem ich kürzklich probatorische Sitzungen hatte mir angedichtet hat, möchte ich glaube ich auch lieber nicht wissen.

Sicher bin ich, daß psychiatrische Diganosen anders bewertet werden, als eine somatische Erkrankung, das psychische geht näher an die Person ist fast persönlich, manchmal habe ich das Gefühl, daß ich persönlich für meine Erkrankung haftbar gemacht werde, das ist bei einem Beinbruch nicht der Fall.

Wie unnterschiedlich da kassifiziert wird erkennt man doch schon an der Diagnose Depression vs. Bunr Out. Burn out sind die Guten, die arbeiten bis zum Umfallen....

Grüße, Saffia
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ziegenkind
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 11:42

ich wollte meine diagnose wissen, weil ich wissen wollte, wie meine therapeutin mit anderen nach außen über mich kommuniziert. gleichzeitig hatte auch ich die vorstellung, die diagnose würde mir etwas über ihren blick auf mich verraten, das ich noch nicht wusste. und zu guterletzt wollte ich wissen, wie sie mit dem von außen auf sie zukommenden zwang umgeht, diagnosen zu formulieren.

das letzte erweis sich als das interessanteste. sie hat eine diagnose produziert, die zwei zeilen lang ist. sie meinte, dass sei eigentlich üblich, wenn man seriös arbeitet. und so war es auch nicht die eine schublade, in der ich mich unwohl fühlte. es war wie alles begriffliche verkürzend und zurichtend, aber es war auch ganz schön nah dran an vielem.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.

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Entknoten
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 11:49

Tja. Gute Frage.
Ich kann da für mich sprechen:

Für mich bedeutete die "Diagnose" vor allem dass ich nun weiß dass ich "nicht normal" bin.
Einigen wir uns bitte an dieser Stelle auf MEINE Definition von "normal":

Meine Diagnose, oder viel mehr meine Probleme, waren für mich "normal", und ich habe unter allen Umständen AUCH Verständnis für mich erwartet. Mir war also klar dass ich bestimmte Verhaltensweisen HABE, und dass ich doch bitte so (und nicht anders!) akzeptiert werden möchte.
Mit der Diagnose bekam ich aber die Möglichkeit mich ganz anders mit meinen Verhaltensweisen zu beschäftigen. Konnte erkennen dass ich mich ändern KANN, und auch dass nicht alle Verhaltensweisen "zu mir gehören", sondern den Umständen geschuldet sind - und somit war ich eben nicht "normal".

Dennoch ist es eine Gratwanderung, nämlich die, dass man trotz aller "Individualität" Gleichgesinnte, Gleichbetroffene sucht. Und sich dann gegenseitig darin unterstützt dass man eben oft "nichts machen kann", denn man ist ja der Diagnose (hilflos) unterlegen.
Das schafft natürlich dann wieder Sicherheit, und das Gefühl irgendwie "normal zu sein".
Es ist nämlich die Frage ob wir nicht alle DOCH individuell sind, und ob es eben - entgegen aller Prognosen - nicht doch möglich ist sich selber zu helfen.

Denn nur weil es eine "allgemeingültige Diagnose gibt", heißt es ja nicht dass nicht jeder einzelne für sich "das Beste daraus machen kann" - und eben nicht schulbuchmäßig den "Erwartungen der Diagnostiker" entspricht.
Dum spiro spero. Dum spero amo. Dum amo vivo.
Cicero


Unfrei
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 11:50

leberblümchen hat geschrieben:
Ich glaube, dass aber die Diagnose(n) selbst nicht das Entscheidende sind, sondern dass es die Tatsache ist, dass wir in diesen Momenten anerkennen wollen oder müssen, dass jemand Macht über uns hat oder zu haben scheint. Und die Frage ist, ob das so sein muss.

(Was macht die Erkältung?)
Diagnosen von Psychotherapeuten hätten aus meiner Sicht nichts mit Macht zu tun. Erstmal bräuchte ich dann auch die Erklärungen dazu, WIE man auf solche oder solche Diagnosen kommt...
Vielleicht sehe ich es genauso, vielleicht anders. Letztenendes würde ich immer behaupten, ich kenne mich besser als der Therapeut.

Wenn mir ein Arzt Krebs diagnostizieren würde, dann wäre das was anderes. Einschneidend. Im Zweifel hat dann aber nicht die Diagnose oder der Arzt, der sie stellt, Macht über mich, sondern der Krebs selbst.

(Fieseste Erkältung, die ich je erlebt hab. Wenn mich mal die ECHTE Grippe erwischt, sterb ich direkt.)


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leberblümchen
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 11:51

saffiatou, ich frage mich aber (ich weiß es so ganz genau natürlich auch nicht), ob die Fachleute wirklich "gut" und "böse" im Kopf haben, wenn sie mit dem Patienten arbeiten. Oder ob das nicht etwas ist, was die Patienten mitbringen, so von wegen: "Bitte erlöse mich mit einer guten Diagnose und bitte bestrafe mich nicht mit einer schlechten". Da aber der Patient nun mal Defizite mitbringt in die Therapie, dürfen die doch auch so benannt werden, oder?

Ich glaube, wir sind Menschen und auch "Fälle", im Sinne von "Herausforderungen", aber mit dem Begriff "Diagnose" kann ich mich nicht anfreunden, weil das so extrem beladen ist. Wenn ich also den Therapeuten frage: "Wo sehen Sie die Herausforderung in unserer Arbeit?", fühlt sich das irgendwie sinnvoller an - solange es nicht auch zu einer Floskel wird wie der berühmte "Entwicklungsbedarf".

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stern
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 11:56

Ich musste noch NIE auf ein Recht pochen, die Diagnose zu erfahren. AUSNAHMSLOS JEDER Therapeut (amb. wie stationär) hat sie mitgeteilt, i.d.R. von sich aus... ich fand das immer recht transparent (Aufklärung über die Störung ist auch ein Teil der Therapie. Den Fachbegriff weiß ich gerade nicht). Aus gegebenem Anlass war auch mein Arzt transparent und hat die gestellte Diagnose nochmals bestätigt und (das aber auch Nachfrage) beantwortet, ob er eine Verdachtsdiagnose gestellt hat. Diese Überlegung hat er aber auch schon früher mal -von sich aus- mitgeteilt (war mir also nicht neu)... und er meinte (seriöserweise), das kann er nicht beurteilen. Das würde eine intensivere "Betreuung" (also ein PT) erfordern, um das bestätigen zu können (oder um es zu widerlegen und entsprechend einordnen zu können). Und auch daher befürwortet er eine Therapie und gute=intensive Abklärung (sinngem.) Und das finde ich sehr seriös. Es gibt nämlich auch Ärzte, die glauben, in 15 Min. eine Diagnose hinklatschen zu können (ohne sorgfältig geprüft zu haben). Für die PT muss ich Rahmen eines Vertrages sogar unterschreiben, dass ich über die Diagnose aufgeklärt worden bin... das habe nicht ich mir ausgedacht, sondern so wird das gehandhabt.

Eine "gute" Diagnose ist für mich die, die am ehesten eine Eindruck vermittelt, welche Defizite ich habe (dass ich nicht als Person abgebildet werde, weiß ich)... aber auch beim Arzt möchte ich nicht, dass anstelle von Kopfschmerzen ein Hirntumor diagnostiziert ist, wenn sich das nicht hinreichend belegen lässt, wie man darauf kommt.
Hinzu kommt das Nicht-Einigsein darin, ob Patient XY unter Diagnose YZ einzuordnen ist.
Und das macht dann die Sorgfalt aus, dass man nicht beliebig eine wählt, sondern sauber (auch) differentialdiagnostisch schaut, was alles in Frage kommt... ich nehme an, das ist sogar oft automatisiert (sowohl bei Körper- als auch Psychoärzten), dass ein Programm dann verschiedenes ausspuckt, was in Erwägung zu ziehen und zu überprüfen ist - nicht zuletzt, dass nichts übersehen wird. Und dann muss man halt schauen, z.B. sind Konzentrationsstörungen ein organisches Problem... liegt das an Schlafstörungen, die jemand hat... oder ist jemand depressiv... oder hat jemand Zwangsgedanken, weswegen man nicht bei der Sache bleiben. Je nach dem ist das nicht unerheblich, um das ursächlich zu beheben. Und hier machen es oft die Feinheiten aus. Denn z.B. Kopfschmerzen kann es bekanntlich bei vielen Störungen geben. Ein Arzt, der das nächstbeste Kästchen nimmt ist fragwürdig und braucht eine gute Haftpflicht.

Auch bei einem Arzt fände ich es nicht zufriedenstellend, wenn ich hören würde: Sie sind krank. Sondern als Patient möchte ich dann auch wissen, ob meinetwegen ein akutes Verletzungstrauma vorliegt, eine schleichende Arthrose oder eine Stoffwechselstörung. Auch hieraus würden sich andere Behandlungsimplikationen ergeben, so dass ich möchte, dass jemand sorgfältig schaut, was meine Defizite sind.

Was es auch gibt: jemandem über eine Diagnose etwas zu stecken... die Phrase "du bist ja krank" bringt zum Ausdruck, was ich meine. Ist im privaten Kontext wohl üblicher als im Behandlungskontext. Aber auch dort kommt es manchmal vor, dass einem Patienten eine Diagnose an den Kopf geknallt wird (z.B. wenn die Behandlung schleppend ist... als subtile Beschuldigung).
Zuletzt geändert von stern am Mo., 05.10.2015, 12:15, insgesamt 4-mal geändert.
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 12:01

Hallo Leberblümchen,

erstmal sind Diagnosen dazuda daß die Krankenkassen die Behandlung bezahlen.

Eigentlich sollten die Diagnosen für die Therapeuten und Ärzte nur dazu dienen die richtige Behandlung für den jeweiligen Patienten zu finden (Zwänge werden anders behandelt als eine Psychose...). Aber trotzdem denke ich, daß auch das Fachpersonal da klassifiziert und unterscheidet: "OH nein, Borderline behandel ich nicht, lieber so eine nette kleine Depression oder Burn Out."

Daher bin ich schon sicher, daß es bei manchem! der Ärzte und Therapeuten gute und schlechte Diangosen gibt.

Als ich in der Reha mich beschwerte, bekam ich sofort eine entsprechende Diagnose, die vorher nie Thema war.

Grüße, Saffia
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 12:11

stern hat geschrieben:Für die PT muss ich Rahmen eines Vertrages sogar unterschreiben, dass ich über die Diagnose aufgeklärt worden bin... das habe nicht ich mir ausgedacht, sondern so wird das gehandhabt.
Aber wie schnell wird denn so eine Diagnose gestellt? Mein jetziger Therapeut sagte jedenfalls mal: "Eine Borderline-Diagnose braucht sehr viel Zeit". Sicher sollten, wie sie so schön heißen, die "zentralen Konflikte" rasch erkannt werden, aber ob man der Psychodynamik des Patienten gerecht wird, wenn man sie nach wenigen Stunden zu Papier bringen und dann auch noch dem Patienten kommunizieren soll?

Beide Therapeuten äußer(te)n sich eher so, dass ein Kennen- und Verstehenlernen eigentlich den gesamten Prozess begleitet und dass man manches, was unheimlich wichtig ist, erst später erkennt und man dann wiederum andere Diagnosen verwirft.


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Beitrag Mo., 05.10.2015, 12:44

man kann ja diagnosen aus verschiedenen phasen vergleichen und darüber reden. fand ich interessant.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.

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Entknoten
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 12:47

leberblümchen hat geschrieben: Beide Therapeuten äußer(te)n sich eher so, dass ein Kennen- und Verstehenlernen eigentlich den gesamten Prozess begleitet und dass man manches, was unheimlich wichtig ist, erst später erkennt und man dann wiederum andere Diagnosen verwirft.
Aber das ist doch richtig so, oder?
Es bedeutet doch nicht dass man lebenslang "abgestempelt" ist.
Es sind eben immer Grenzbereiche in denen sich sowohl Patient als auch Therapeut bewegen.

Grundsätzlich liefert die "Diagnose" doch erste Anhaltspunkte.
Es obliegt dann aber beiden Parteien für sich herauszufinden wo denn eben die individuellen Schwerpunkte liegen.

Ich sehe die "Gefahr" tatsächlich eher auf Seiten des Patienten. Hat er die Diagnose, dann kann das unter Umständen eben auch der "Darf-Schein" sein. Dann kann der Patient nämlich auch für sich "erkennen und daran festhalten" dass er sowieso nichts machen kann, denn er hat ja nun einmal die entsprechende Diagnose.

Für den Therapeuten also durchaus wichtig seinen Klienten einordnen zu können - für den Betroffenen manchmal fraglich ob das Wissen um die eigene Diagnose nicht doch auch kontraproduktiv sein kann.
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leberblümchen
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 12:55

Ziegenkind: Aber das setzt dann voraus, dass der Patient vielleicht auch einen "anderen" Blick auf Diagnosen hat und dass er sie nicht "braucht", um sich dadurch bewertet (bestätigt oder zurückgewiesen) zu fühlen. Also, eine gewisse Offenheit für das eigene Grauen. Und das, so denke ich mir, setzt wiederum großes Vertrauen in den Therapeuten voraus.

Manchmal, wenn ich meinen Therapeuten so reden höre, frage ich mich, ob er diesen interessiert-teilnehmenden und dabei betont nicht-wertenden Tonfall wirklich so empfindet oder ob das etwas ist, was man halt so rüberbringen muss als Therapeut. Und da fängt das Misstrauen schon an... Wobei ich eher annehme, dass der das auch so meint. Aber sicher bin ich eben nicht. Wie könnte ich auch.

Entknoten, eben. Das meine ich ja auch. Der Patient schnappt irgendwo die Diagnose auf und hält sie für ein unauslöschbares Abstempeln, während der Therapeut womöglich immer nur eine momentane Einschätzung äußert, äußern MUSS, während er immer auch offen bleibt für neue Eindrücke und Entwicklungen. Von dieser Offenheit bemerkt der Patient womöglich gar nichts, weil das Stigma der Diagnose so heftig wirkt.

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stern
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Beitrag Mo., 05.10.2015, 13:12

leberblümchen hat geschrieben:Mein jetziger Therapeut sagte jedenfalls mal: "Eine Borderline-Diagnose braucht sehr viel Zeit". Sicher sollten, wie sie so schön heißen, die "zentralen Konflikte" rasch erkannt werden, aber ob man der Psychodynamik des Patienten gerecht wird, wenn man sie nach wenigen Stunden zu Papier bringen und dann auch noch dem Patienten kommunizieren soll?
Ich denke, das gilt für viele Diagnosen. Sagte mein Arzt ja auch, dass er eine Überlegung nicht beurteilen kann ohne mich intensiver zu kennen. Er würde sich aber freuen, wenn ich ihn auf dem laufenden halte. Er sei zwar oft der "überweisende" Arzt, bekommt dann aber oft nicht mehr viel mit. Haha, er hat sogar einen Bericht... ich wette: nie gelesen (ist auch o.k., aber dann bitte nicht routinemäßig nach Befunden fragen).

Wie sie diese Handhabe findet, weiß ich nicht... ob gut... oder ob sie es halt so macht, weil es so vorgesehen ist, aber in Wirklichkeit nicht begeistert ist... oder ob sie das zu ihrer eigenen Sicherheit macht... oder ob ich Dinge unterschreibe, die dann doch nicht kommuniziert werden. In jeden Fall ist es ihre Entscheidung, das so zu handhaben, mit der ich NICHTS zu tun habe (es bräuchte keine schriftlichen Verträge). Aber es wirkte auf mich sehr vertrauenserweckend, dass sie äußerte, dass es Patientenschutzrechte gibt. Und sie hat einen Vertrag. Und das kann ich mir in Ruhe durchlesen... und ich könne dann auch noch Fragen dazu stellen, usw.

In der ersten Therapie hieß es auch,ich könne lesen, was über mich geschrieben ist => interessierte mich nicht. Sicherlich hätte ich nichts anderes gelesen als kommunizierte wurde. Witzig fand ich, später auch mal die (neue) HP anzusehen... entsprach genau dem Therapiestil, wie ich ihn erlebte.

Ich habe auch noch Berichte daheim, die ich nie gelesen habe. Das was ich kurz angelesen habe, war auch nichts neu.

Mir ist selbst lieb, wenn eine Behandler sich Zeit lässt... und dann (ggf. später), das diagnostiziert, was sie sicherer sagen kann. Ich denke ganz am Anfang spielt auch Intuition eine Rolle... aber darauf kann man keine Diagnosen gründen... vielleicht außer jemand hat eine Spinnenphobie, die deutlich in Erscheinung tritt.

Bei einem, der sofort eine Diagnose hat, wäre ich skeptisch... das gibt es aber auch. Deswegen war ich so brüskiert, warum ich so eine Diagnose haben soll, die nie und nimmer auf professionellem Weg zustande gekommen sein konnte... und wo Schwierigkeiten beschrieben sind, die ich nicht habe... und wo ich erst nachlesen musste, was gemeint sein könnte. Na ja, hat sich ja geklärt. Menschlicher Fehler... gut dass ich es angesprochen habe.
Liebe Grüße
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