Viktimisierung

Hier können Sie Fragen zu Begriffen, Diagnosen und sonstigen Fachworten stellen, die einem gelegentlich im Zusammenhang mit Psychologie und Psychotherapie begegnen oder die Bedeutung von Begriffen diskutieren.

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ziegenkind
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Viktimisierung

Beitrag So., 29.11.2015, 19:01

liebe Leute,

ich lese grad allerhand über Opfererzählungen, mit Blick auf Individuen und Kollektive. Dabei stoße ich auf ein spannendes Nebeneinander von gegensätzlichen Annahmen und Positionen.

- Manch einer sieht es positiv, dass auf kollektiver Ebene, nicht mehr der Held, sondern das Opfer der Protagonist von Erzählungen ist, die Identität stiften sollen.

- Andere geben zu bedenken, die Fokussierung auf die eigene Opfererfahrung macht blind dafür, dass Mitglieder der eigenen Wir-Gruppe zu Tätern wurden.

- Ein dritter Strang der Debatte verweist darauf, dass die Fixierung auf Opfererfahrung in der Vergangenheit zu einer verzerrten Wahrnehmung der Gegenwart führen kann, zu Misstrauen, Belagerungsmentalität, Egoismus, Mangel an Empathie gegenüber dem Leiden anderer.

- In Israel gibt es eine spannende Literatur dazu, dass ein instrumenteller Rekurs auf den Holocaust zu einem wichtigen Mobilisierungsargument im Konflikt mit den Palästinensern wird.

- Ein paar spannende Studien zu Japan argumentieren, dass erst die mit der traditionellen Helden- oder Märtyerererzählung brechende Bereitschaft zur Wahrnehmung der eigenen Opfererfahrung (Hiroshima) in einem langen Prozess die allmähliche Bereitschaft zur Wahrhehmung der Leiden derjenigen geschaffen hat, die Japan okkupiert und kolonisiert hat.

Mir scheint, mit Blick auf individuelle Traumatisierung gibt es ein ähnlich irritierendes Nebeneinander von gegensätzlichen Argumenten. Ich kann stark machen, dass ich erst dann Mitgefühl mit anderen haben kann, wenn ich mir selber mit Mitgefühl begegnen kann. Ich kann aber auch akzentuieren, dass die Erfahrung, einmal hilflos und ausgeliefert gewesen zu sein, einen extrem misstrauischen Blick auf die Welt, eine tiefe Vereinsamung, eine radikale Abkehr vom Anderen, mitunter sogar eine diese Abkehr rechtfertigende Härte gegen Andere hervorbringen kann. (Aus eigenem Erleben und aus dem Lesen hier im Forum weiß ich nur zu gut: beides stimmt)

WIe seht ihr all das? Was habt ihr für Ideen zur Verbindung der verschiedenen Stränge?
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.

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Fundevogel
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Beitrag So., 29.11.2015, 22:44

Hallo ziegenkind,

interessantes Thema! Ein paar ungeordnete Gedanken dazu:

- Alles Geschilderte kann doch zutreffend sein, für das eine oder andere Volk oder das eine oder andere Individuum. Partiell oder sowohl als auch. DAs ist wie mit ptbs Symptomatik beim Individuum: manche haben alles, andere manches.
- Die Perspektiven Individuum und Kollektiv können sich ähneln. Wie im Großen, so im Kleinen. Wie im Mikro- so im Makrokosmos.
- Von Opfern und Tätern zu sprechen bildet komplexe Beziehungs- und Vernetzungsstrukturen in Gegensätzen ab
- Momentaufnahme vs. Entwicklung in einem zeitlichen Kontinuum. Täter waren vielleicht früher selbst Opfer. Opfer können zu Tätern werden.
- Opfer- und Täterbegriff klingen negativ besetzt: Dem passiven Opfer widerfährt Schreckliches, der aktive Täter begeht Schreckliches. Muß das so sein.
- Wie hat in dem Diskurs das freiwillige Opfer Platz; ich denke an die griechische Mythologie zum Beispiel. Was ist mit Sühne, mit sein Leben für andere opfern.
- Und das mit dem Mitgefühl bzw. Misanthropie und Rückzug von der Welt: Wie ist das mit Heilwerden. Wie ist das mit Verarbeiten, mit Entwicklung und Veränderung.
- Und zur Perspektive: Wer sagt, wer ein Opfer ist? Welche Traditionen und Werthaltungen definieren, wer ein Opfer ist, welche Umstände jemanden zum Opfer machen. Oder ist es das subjektive Empfinden, ein Opfer zu sein, sich wie ein Opfer zu fühlen. Und wie ist das mit der Intersubjektivität - möglicherweise liegen komplexe Beziehungsstrukturen und Wertefelder zugrunde.

So weit, so assoziativ

Lieben Gruß und viel Freude mit dem Thema
Fundevogel


pandas
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Beitrag So., 29.11.2015, 23:47

Die Bewusstwerdung und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Opfer.sein erhöht langfristig eher die Empathie für andere.

Nicht wenige Menschen führen für ihren derzeitigen Einsatz in der Flüchtlingsarbeit die eigene Fluchtgeschichte, Vertreibung etc. im/kurz nach dem 2. Weltkrieg an. Wobei hier leider auch die Täterfrage mit hineinfliesst, obwohl definitiv nicht alle Ostflüchtlinge Täter waren, obwohl das desöfteren behauptet wird.

Aber auch die Auseinandersetzung mit Tätersein und Schuld in der Generationenfolge kann Empathie fördern, aber kann sich auch ins Gegenteil verkehren. Da spielen wohl eine Menge Dinge mit hinein, wie sich das jeweils entwickelt.

Man kann wohl auch hier nichts zu sehr pauschalisieren.

Auf jeden Fall scheint es wichtig zu sein, dass ein Täter die Schuld der eigenen Tat begreift, sonst erfolgt keine Abkehr.
Deswegen finde ich es auch nicht so gut, wenn heutzutage manche Gewalt-"Beziehungstaten" eher als "kann halt passieren" berichtet werden und mitunter gleich psychologisiert. Zunächst sollte die Schuld an dem Opfer erstmal in der Tiefe verstanden werden.

Und für die Opfer ist eindeutig die Anerkennung ganz wichtig: Wird das Erlebte nicht in seiner Tragweite anerkannt, wird wohl eher der Groll und damit der Mangel an Empathie für andere entstehen.
"Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit." Kierkegaard


Widow
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 01:08

Liebe Wissenschaftlerin: Ist das hier nun sowas wie "dem Volk aufs Maul geschaut"?

Keine der von Dir angeführten Positionen kann man nachlesen, weil Du auf Literaturangaben verzichtet hast. - Für so einen "Mal eben so ganz voraussetzungslos und überhaupt unverfänglich in die Runde gefragt"-Thread ballerst Du aber ein bissl arg viel "Positionen" hier rein - find ich. (Selbstverständlich ist das nur mein persönlicher Eindruck, der leider zu Deinem Forschungsprojekt nichts beizutragen imstande ist.)

Und ich frag mich: Habt ihr kein Geld mehr für "Feldforschung"? Und wenn ja: Ist das generell nicht mehr da, oder kommen Du und Deine Kollegen langsam ins lame duck-Stadium? Wenn letzteres zutrifft: Nach Auskunft meines Doktorvaters und einiger seiner Kollegen machen diese Erfahrung alle, die mal in institutionellen Strukturen was wissen wollten.


Und da Du auf eine Grußformel verzichtet hast, erspare ich Dir, diese Formulität zur Kenntnis zu nehmen, nun auch.

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ziegenkind
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 08:31

liebe fundevogel,

danke dir für deine Überlegungen. ich find v.a. zwei dinge spannend:

wer sagt, wer ein opfer ist? kaum eine Kategorie ist so sehr auf soziale Anerkennung, auf Anerkennung von anderen, wie die des opfers. das führt auf kollektiver ebene nicht selten zu opferkonkurrenz. gleichzeitig ist das, wie ich finde, auf individueller ebene höchst verständlich. ich brauchte das auch, dass meine Therapeutin mir sagte, das ist wirklich schlimm, was da mit ihnen passierte.

heilwerden, verarbeiten: das scheint mir ganz, ganz zentral zu sein. wer seine traumatische geschichte verarbeitet hat, der (i) muss das Trauma nicht mehr ewig und drei tage reinszenieren und (ii) der kann auch sehen und aushalten zu sehen, wo er selber zum Täter geworden ist.

die richtig schwierige frage, die sich daraus für mich ergibt: wie kommt man da hin? vielleicht durch Paradoxien? braucht man erst einmal die scharfe unerscheidung von ich opfer und du Täter um dann später auf solche Unterscheidungen verzichten zu können?
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.


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ziegenkind
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 08:41

liebe Pandas, das mit den ehemaligen Flüchtlingen, die sich um Flüchtlinge kümmern, das habe ich auch beobachtet. mit meiner mutter passiert da grade was. helfen kann sie nicht. sie ist immer noch in der Reha. aber die bilder von den flüchtlingen haben eigene Erinnerungen in ihr angestoßen. das erste mal konnten wir drüber reden. und das drüber reden führt dazu, dass sie nicht nur weicher gegen sich, sondern auch weicher gegen mich wird.

das mit der Auseinandersetzung mit dem eigenen täter-sein, das finde ich auch wichtig. mein Verhältnis zu meinem vater hat sie auch deshalb geändert, weil er einiges eingeräumt hat. insbesondere ein satz war für mich wichtig, seine Erkenntnis nämlich, dass er mit mir genau so entwertend umgegangen sei, wie sein vater mit ihm. auf kollektiver ebene gibt es auch so eine These: Deutschland könne heute über sein opfergeworden sein etwa im bombenkriege sprechen, gerade weil es seine eigene Täterschaft im Holocaust anerkannt hat. ob das so hinhaut, da bin ich mir viel weniger sicher.
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ziegenkind
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 08:47

liebe widow,

seltsame phantasien hast du.

mir geht es hier eigentlich um etwas ganz einfaches und schönes.

ich möchte gerne mit menschen, die genau wie ich ganz eigene Erfahrungen damit haben, wie es ist opfer gewesen zu sein, ins Gespräch darüber kommen, was man aus dem eigenem erleben für den öffentlichen Diskurs über kollektive phänomene lernen kann.

gleichwohl: ich war mir ziemlich sicher, dass ein abwertender Kommentar von dir kommt. vielleicht können wir es bei dem einen belassen?
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 09:03

ich glaub, das ist das entscheidende, für mich gerade, diese fragen:

sind die guten opferbegriffe diejenigen, die inklusiv sind? die auch das opfer-sein der anderen anerkennen? vielleicht sogar derjenigen, die zum Täter an einem selber wurden? sind inklusive opferbegriffe die einzigen, die einen davor bewahren, vom opfer zum täter zu werden?

und wenn das so ist, was braucht es, um da hin zu kommen? vielleicht nicht doch erst einmal eine saubere Unterscheidung zwischen opfern und tätern?

und wenn auch das so ist, wann ist genug mit dem unterscheiden? wie geschieht der sprung von denk- und fühlbahn 1 in denk- und fühlbahn 2?

auch hier wieder: das geht mich auf vielen ebenen an. auch auf einer ganz persönlichen. das jahrelange Verwünschungen ausstoßen, das klare grenzen ziehen bis hin zu einem sich 7 jahre aus dem weg gehen, war auch dafür gut, dass ich meinen Eltern jetzt verzeihen kann. und verzeihen heißt da gerade auch, zu sehen, dass sie selber opfer waren bevor sie zu tätern wurden. aber nicht einmal bei mir selber habe ich mitbekommen, wie sich die dinge geändert haben.
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Möbius
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 11:54

Ich werfe einfach mal die klassischen juristischen Kathegorien in die Debatte - diese sind sehr einfach:

Opfer ist, wer einen rechtswidrigen Angriff erlitten hat, also einen Angriff auf seine Person oder seine Rechtsgüter, der nicht vom geltenden Recht eine "Rechtfertigung" erhalten hat, wie beispielsweise die Notwehr. Dem Opfer steht ein Anspruch auf "Genugtuung" zu - auf Rache. Diesen Anspruch individuell festzustellen und durchzusetzen ist dem Opfer im Rechtsstaat in aller Regel untersagt - er wird auf makrosoziale Instanzen übertragen: Strafverfolgungsbehörden und Gerichte.
Individuell feststellen und gerichtlich durchsetzen kann - und muß in aller Regel - das Opfer seinen Anspruch auf Ersatz eines eventuell erlitten Schadens. Dieser Schadensersatzanspruch ist auf "Naturalrestitution" gerichtet, dh Wiederherstellung des Zustandes, wie er vor dem Angriff gewesen war. Es entfalten sich nunmehr eine verwirrende Vielfalt von Detailregelungen darüber, wie dieser Anspruch zu bemessen und zu erfüllen ist, da diese "Naturalrestitution" ja nur in relativ seltenen Fällen überhaupt möglich ist. Die hier in Rede stehenden Traumatisierungen sind ein schönes Beispiel: sie können nicht ungeschehen gemacht werden, der Zustand vor der Traumatsierung ist unwiderruflich verloren, und es muß nach anderen Möglichkeiten gesucht werden, den Schaden nach Möglichkeit auszugleichen.

Wesentlich ist aber für mich, daß diese zwei Elemente: (1) die Genugtuung - die Rache - des Opfers am Täter erfolgt ist und (2) sein Schaden wenn nicht behoben, so dann wenigstens "ausgeglichen" worden ist. Diese Elemente aus der Jurisprudenz lassen sich m.E. auf die Psyche und die sozialpsychologischen Sachverhalte übertragen, woraus folgt, daß eine echte Verzeihung, die nicht nur ein Lippenbekenntnis gegenüber einer sozialen Anforderung, ein auf die bewußte Sphäre beschränkter Akt sein soll, sondern auch das Unbewußte des Opfers erreichen und dort wirken soll, Genugtuung und Schadensausgleich voraussetzt. Erst dann ist der "psychosoziale Friede" zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft wieder hergestellt. Ermangelt es an einem dieser insgesamt drei Elemente: Genugtuung, Schadensausgleich, Verzeihung, bleibt eine "schwelende Wunde".

Vielleicht ist es genau diese "schwelende Wunde", die auf seiten des Opfers mit dem Begriff der Viktimisierung umfasst werden soll: die schwelende Wunde ist zu einem konstitutiven Persönlichkeitsmerkmal des Opfers geworden, dessen Opferstatus dadurch perpetuiert worden ist: auf unbestimmte Zeit verlängert. "Viktimisierung" wäre dann nicht nur auf die Person des Opfers beschränkt, sondern ein dynamischer sozialer Prozeß, der auch späteren Beeinflussungen ausgesetzt ist, die nicht mehr in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem ursprünglichen Ereignis - dem "rechtswidrigen Angriff" - stehen. Die "Professionalisierung der Opferrolle" zur Verschaffung persönlicher, häufig ja sogar geldwerter Vorteile ist dafür ein schönes Beispiel: es kommt zur Karnevalisierung, das "professionelle Opfer" wird selbst zum Täter auf einer völlig anderen sozialen Ebene.


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ziegenkind
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 12:50

danke dir für die juristische Perspektive, Möbius.

ich lese die Vorstellung von der Wiederherstellbarkeit des Zustands vor der Traumatisierung auch als Ausdrucks der Einsicht, wie wichtig es ist, den Zustand des Opfer-seins zeitlich zu begrenzen. Das klingt zweifellos ein wenig wirklichkeitsfremd und illusionär, scheint mir aber auch etwas wichtiges zu transportieren: das Wissen darum, dass der ungestillte Rachedurst des Opfers eine enorme Gefahr für den öffentlichen Frieden darstellt. Dem Opfer wird zwar Recht eingeräumt, ein Recht auf Wiedergutmachung etwa. Es soll aber gleichzeitig schnell ausgelöscht werden, aus der Mitte der Gesellschaft heraus geschafft werden. Das Opfer wird implizit als etwas Unheimliches, Bedrohliches konstruiert, als etwas, das man nur für eine bestimmte Zeit erträgt und schnell hinter sich lassen muss.

Die schwelenden Wunden zeigen an, dass das nicht so umstandslos zu haben ist, das Hinter-Sich-Lassen.

und nun kommt mein Problem:

Wir leben in einer Welt, die die Figur des Opfers an die Stelle der Figur des Helden gestellt hat. Wir wollen dem Opfer all die Anerkennung geben, die es braucht (um dann endlich kein Opfer mehr sein zu müssen? Auch hier derselbe Gedanke?). Was dann aber passiert - auf kollektiver wie auf individueller Ebene, ist oft ein brutaler Kampf um die Durchsetzung des eigenen, möglichst exklusiv gedachten Opferstatus. Die Serben, die Polen, die Tutsi, die deutschen Bombenopfer: sie ringen um Anerkennung und manchmal ist man sich dieser Anerkennung nur sicher, wenn man sie jemand anderem absprechen kann.

wer das nicht tut, wer einen inklusiven Opferbegriff beschwört, der fällt vielen Opfern in den Rücken, die jetzt auf einmal ihre Täter auch als Opfer anerkennen sollen. Er hilft vielen Tätern in einer diffusen Gruppe unterzugehen, in der alle irgendwie gelitten haben, Opfer waren. Auf einmal sind alle Katzen grau und wir können uns ebenso einträchtig wie folgenlos versichern, wie schlimm alles mögliche, wie gemein "die" Menschheit ist. Und auch dies: Schuld wird unsichtbar

Gibt es ein Drittes?
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stern
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 13:41

Ich glaube nicht, dass es primär vom Opfersein abhängt/begünstigt, ob man Täter wird, sondern auch von anderen Variablen wie: Gewissen, Empathiefähigkeit, Impulskontrolle, Narzissmus, Sadismus, Dissozialität, Reflexionsfähigkeit, usw. Bestimmt wird es auch Täter geben, die ihre Taten mit einer Art von Opferhaltung legitimieren wie "ich bin halt so [weil ich diese oder jenes erlebt habe... und das ist unveränderlich festgeschrieben]" oder "sorry, ich kann nicht anders [und tue auch nichts dagegen]. Genauso gibt es Menschen, die sagen, was ich erlebt habe, sollen andere nicht auch erleben (und die alles dagegen tun).

Sicherlich gibt es aber Menschen, die Opfer und Täter zugleich sind (werden). Lt. mir bekannter Literatur (damit habe ich mich aber nicht intensiv befasst) werden die wenigsten Opfer zu Tätern (der Täterbegriff ist nichts, was ich auf harmlosere Grenzüberschreitungen anwende)... also muss es auch andere Gründe geben, an denen es liegt. Ich glaube, auch die Gleichung "jeder Täter war selbst ein Opfer" geht nicht auf. Von der inklusiven Sichtweise halte ich also nicht so viel. Jeder halt selbst Sorge zu tragen, nicht Täter zu werden (notfalls muss man sich helfen lassen)... ansonsten hat man dafür Verantwortung zu tragen. Das kann man nicht mit dem Opfersein aufrechnen. Höchstens ermöglicht das leichte eine Perspektive von Empathie, wenn man berücksichtigt, dass jemand seinerseits Opfer war.
Liebe Grüße
stern 🌈💫
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(alte Weisheit)


pandas
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 13:58

Vielleicht können auch Opfer und Held nicht getrennt gedacht werden - denn so sind sie es manchmal, und zwar gar nicht so selten.
Mancher Held wird zum Opfer, weil er/sie sich nicht 100% als Held bewährt. Bleibt er/sie dann aber nicht auch Held?
Wenn Widerstand in der Erinnerung betont wird, so wird das besonders deutlich.
Möglicherweise wäre es eine Hilfe, wenn dieser Aspekt mehr hervortritt, wenn über Opfer gesprochen wird. Wobei meiner Meinung nach Opfer.sein per se nie negativ besetzt werden sollte, auch wenn das Opfer nicht heldenhaften Widerstand gezeigt hat.
Ein wenig ist die Negativisierung von Opfern wohl überwunden, habe ich den Eindruck; als sie aber noch ziemlich en vogue war, nahm sie sehr grobe Züge an, wie z.b. die ernsthaft gestellte Frage, ob Juden im Holocaust "zu wenig Widerstand" geleistet hätten.

Oder eben dass vergewaltige Frauen meistens durch "sexy Kleidung" provozieren (was mittlerweile widerlegt ist).

Ich hätte durchaus die Hoffnung, dass wenn Opfer.sein gesellschaftlich offen gezeigt und wahrgenommen wird, dass langfristig die Empathiefähigkeit zunimmt und vielleicht humanitäre Werte über kapitale Werte die Priorität gewinnen.

Möglicherweise zeigt sich dies dann aber zunächst nicht so deutlich im offiziellen politischen Diskurs, sondern mehr in einzelnen Zusammenhängen.

Z.b., wenn ich irgendwo Leuten begegne, die über sie selbst betreffende Opferschädigungen im/nach dem 2. Weltkrieg sprechen möchten, so ist dies des öfteren nicht gleichzeitig mit einer Abwertung der Opfer des Holocausts verbunden (leider nicht immer). Im Gegenteil, wenn hier nicht drüber hinweg gegangen wird, so scheint es eher möglich, die Opfer der "anderen Seite" wirklich zu betrauern und anzuerkennen als auch offizielle Entschädigungsleistungen zu akzeptieren.
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 14:14

ja Stern, stimmt natürlich. nicht alle Opfer werden Täter, aber ganz viele Täter - individuell und kollektiv - waren Opfer oder haben sich zumindest als Opfer konstruiert, bevor sie Täter wurden. Gerade auf kollektiver Ebene kann die Konstruktion der eigenen Geschichte als Opfergeschichte zur Rechtfertigung von Gewalt genutzt werden. Passiert dauernd.

Vielleicht mal ein Beispiel zur Diskussion. In Srebrenica gibt es eine Gedenkstätte für den Massenmord an Bosniaken. Einmal hat eine Organisation von bosnischen WItwen niederländischen UN-Soldaten den Zutritt verweigert, die mit ihrem Besuch auch ihrer Scham darüber Ausdruck verleihen wollten, dass sie damals nicht eingegriffen haben.

Wie beurteilt ihr das?
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 14:21

Pandas, ich glaube auf kollektiver Ebene ist genau das, was Du forderst, die Würdigung des Opfers unabhängig davon, ob es Widerstand geleistet hat, mit dem passiert, was man die Kosmopolitanisierung der Erinnerung an den Holocaust nennt.

Ja, ich glaube auch, dass das mittlerweile in Deutschland mitunter möglich ist - die Überwindung der halbierten Erinnerung, wie Sofsky das nennt: ein Sprechen über die Traumatisierung vieler Deutscher, die den Holocaust weder ausblendet noch relativiert und auch die Erkenntnis aushält, dass etwa der Bombenkrieg eine Reaktion auf den Vernichtungskrieg der Deutschen war. Die spannende Frage ist, wann ist das möglich? Warum ist das möglich? Was braucht es, um dahin zu kommen? Und was ist mit denen, die das nicht schaffen?Ich kann z.B. die Frauen von Srebrenica verstehen. Ich weiß aber auch, dass sie von ziemlich unangenehmen politischen Kräften benutzt werden.
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Möbius
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Beitrag Mo., 30.11.2015, 14:25

Ich muß der Aussage widersprechen, daß Opfer in der Regel nicht zu Tätern würden. Das trifft, soweit ich weiß, in dieser Unbedingtheit nicht zu. Im Gegenteil ist dies für sexuelle Gewalt insbesondere gegenüber Kindern sogar eine gewisse Regel. Die Ursache für diesen speziellen Fall sehe ich darin, daß Kinder die Erfahrung sexueller Gewalt regelmässig verdrängen - eine Verarbeitung, eine Integration gelingt nur relativ selten, weil Kinder auch davon schon rein intellektuell überfordert sind. Ist eine Erfahrung erst einmal im Unbewußten angekommen, vom Zugang des Bewußtseins abgeschlossen, dann führt sie im Unbewußten ein Eigenleben unter der Herrschaft des Wiederholungszwanges - welcher zumindest theoretisch eine Nachholung der Integration ermöglichen kann - und vor allem: der Verkehrung ins Gegenteil, der Umkehrung. Das Opfer will die Situation der Gewalt ihm gegenüber wiederholen, so wie sich sein unbewußt "bearbeitetes", aber eben nicht: verarbeitetes Erleben darstellt - aber mit umgekehrter Rollenverteilung. Das ist zumindest die Sichtweise der Psychoanalyse - und der Kriminalstatistik.

Man liest es ja auch sehr häufig bei Berichten über Vergewaltigungsprozesse und Serienmörder, daß der Täter zumindest angibt, als Kind sexuell mißbraucht worden zu sein. Es war eben auch bei mir selbst "kurz vor zwölf" gewesen, ich habe schon unter entsprechenden Gewaltphantasien gelitten, die sich gegen konkrete Personen richteten und sich in einem Fall zu schon einem regelrechten Tatplan ausgewachsen hatten.

Aber von diesem Spezialfall abgesehen, meine ich, daß auch allgemein in Opfern ein erhöhtes Aggressionspotential vorhanden ist, wenn eine entsprechende Verarbeitung: "Genugtuung, Schadensausgleich, Verzeihung" gleich aus welchen Gründen nicht vollständig erfolgen konnte. Dieses Aggressionspotential muß sich allerdings nicht notwendigerweise in einer "Tat", insbesondere nicht in einer Straftat im Sinne des Gesetzes niederschlagen - es kann sich beispielsweise auch in politischen Aktivitäten niederschlagen, die sich gegen einzelne Gruppen der Gesellschaft richten, die vom Opfer bewußt oder unbewußt mit seinem oder seinen Tätern identifiziert werden; die Aggression wird dabei wohl häufig "rationalisiert" (was auch ein Abwehrmechanismus ist) und als etwas ganz anderes dargestellt - eine Propaganda, die von ihren Propagandisten selbst geglaubt wird. Ich vermute, daß hinter einem Großteil solcher "narzistischer Aggressionen" derartige "Victimisierungen" stehen können: narzistische Kränkungen (die keineswegs stets den Charakter einer Straftat zu haben brauchen!), die nicht entsprechend verarbeitet werden konnten.

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