Gratwanderung: nicht binden, Präsenz bei Bedarf

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Meereszauber
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Gratwanderung: nicht binden, Präsenz bei Bedarf

Beitrag Mi., 12.11.2008, 14:42

Hallo zusammen,

mich bewegt in meiner Eigenschaft als ehrenamtliche Flüchtlingsunterstützerin etwas und ich bitte Euch mal, mir Eure Gedanken mitzuteilen.

Seit einem Jahr begleite ich ja ehrenamtlich einen Flüchtling, nennen wir ihn mal Yusuf. Yusuf ist kriegstraumatisiert und hat eine Sprachbehinderung.
Der Hauptamtliche (Soz.Päd., den Titel werde ich zur leichteren Differenzierung nachfolgend verwenden) und ich haben mit Yusuf dran gearbeitet, dass er hier eigenständiger werden kann. Er ist Anfang 20, könnte vom Alter fast mein Sohn sein, aber ich sehe mich in keinster Weise als Ersatzmutter (bin auch optisch nicht so der "mütterliche Typ"), sondern eben als Unterstützerin, die gerne auf Augenhöhe unterstützt.

Es gab eine Phase, in der sich Yusuf drauf verlassen hat, dass der Soz.Päd. und ich alles "für ihn regeln".
Der Soz.Päd. und ich haben ihm "hart aber herzlich" klar gemacht, dass er diese Vorstellung begraben kann - unser Ziel war es, ihn so auf die Beine zu bringen, dass er zum Selbstläufer wird und dazu musste Yusuf natürlich auch hart mitarbeiten.

Einen Meilenstein hatte Yusuf erreicht, als er soweit einsichtig wurde, dass er im Hinblick auf seine Kriegstraumatisierung den Willen signalisierte, sich therapeutisch helfen zu lassen.
Der Soz.Päd. kannte eine Expertenstelle, die genau auf diese Traumatisierung spezialisiert ist.

In dem Zeitraum (noch vor Therapieantritt) machte Yusuf einen schier unglaubilchen und hoch erfreulichen Entwicklungsschub:
er "brauchte" mich nur noch einmal für einen Gang zu einer Behörde (da ich viel Umgang mit Behörden habe und weiss, welchen Ton man wo am besten anschlägt, war das damals u.a. auch meine Intention, Flüchtlinge zu unterstützen) und schaffte dann alles weitere alleine.
Beim letzten Treffen mit Yusuf hatte der junge Mann eine Körperhaltung und einen Glanz in den Augen, der mir signalisiert hat: "Erfolg! Du kannst loslassen...prima, super, klasse!!!"

Der Soz.Päd. und ich sind vor Freude (und Stolz) fast geplatzt. Wir haben dann untereinander besprochen:
"Den Yusuf können wir jetzt laufen lassen, er weiss ja wo wir zu erreichen sind."

Jetzt habe ich vor ein paar Tagen eine SMS des Therapiezentrums, in dem er aufgenommen wurde, auf mein Handy bekommen, ob er denn mittlerweile schon alle Unterlagen hat - er soll sich mal melden.
Das war inzwischen die zweite SMS mit einer "nachhakenden" Frage.

Bevor Yusuf dort selbst vorstellig wurde, haben wir uns damals von der Flüchtlingsbegleitung und mit seinem Einverständnis dort wegen der Organisation in Verbindung gesetzt und ich hatte wohl für Rückfragen meine Handynummer hinterlassen.
Ich bin aber davon ausgegangen, dass Yusuf das selbst nachkorrigiert, ich möchte mich schon schrittweise herausziehen, da er ja jetzt fundiert therapeutisch begleitet wird.

Die SMS habe ich an seine potenzielle Schwiegermutter weitergeleitet, die ich auch privat kenne. Die hat sie wiederum an Yusuf gegeben.

Ich fühle mich gerade extrem im Zwiespalt:
gehe ich von selbst auf Yusuf zu und frage ihn, ob er nochmal organisatorische Unterstützung braucht oder warte ich mal ab, bis er von selbst kommt.
Seine potenzielle Schwiegermutter bemüht sich sehr, ihn "nicht zu bemuttern", so dass er weiterhin selbständig werden kann.

Wie ich anfangs schon geschrieben habe, sehe ich "Bemutterung" ganz und gar nicht als meine Aufgabe - ich habe selbst zwei Kinder, die mich fordern .... aber ich fühle mich gerade unsicher, ob ich das als "Signal" deuten soll, doch mal nachzufragen, ob organisatorisch soweit alles ok ist?

Da ich ab Mitte des Monats einen neuen Arbeitsvertrag habe und beruflich noch viel geforderter sein werde, als ich es bisher war, wird meine Zeit für Behördengänge auch knapper und ich werde in meinen Ehrenämtern noch deutlich mehr zurückschrauben müssen.

Mich würde mal interessieren, wie es Euch erginge. Sowohl von meiner Position aus als auch von Yusuf's Position aus.
Was ich auf keinen Fall will ist, dass seine wirklich tolle und hart erarbeitete Eigenständigkeit wieder "zurückgeht", wenn ich von selbst Unterstützung anbiete oder frage, ob es ein Problem gibt.

Ich grübel' seit gestern......und der Soz.Päd ist im Urlaub (der ist bei sowas eigentlich Anlaufstelle, wenn ich als Ehrenamtliche unschlüssig bin. Um nicht zu vergessen: ich habe weder sozialpädagogische, noch eine psychologische Hintergründe - geschult bin ich schon, aber eben als Laie!)
Herzliche Grüße
Meereszauber





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Gegenwart ist der Moment in dem die Vergangenheit in die Zukunft fließt.


Augustinus

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[nicht mehr wegzudenken]
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Beitrag Mi., 12.11.2008, 15:15

Hi!

Ich gehe mal von mir selbst aus, und glaube, dass es vielen so geht:

Wenn ich irgendwo Hilfe bekam, dann alleine zurecht kam, fällt es sehr schwer - auch schon wegen dem eigenem Selbstwert - wieder eigenständig dort wo man Hilfe bekommen hatte vorzusprechen. Man hat es ja auch im Kopf/Geiste für sich selbst abgeschlossen. Man ist ja auch stolz: "Ich schaff das jetzt alleine." Und diesen ja eigentlich sehr guten Glaubensatz müßte man dann ja erst mal für sich selbst aushebeln.

Die Psyche denkt da ja leider sehr schwarz weiß, und selten in Nuancen.

Ich würde daher sagen: Brücken schlagen. Möglichkeiten einräumen. Wie wäre es z.B. mit einer ganz unverbindlichen SMS/Mail/Anruf bei ihm wie es ihm gehe? Ob er klar kommt? Und die Nachfrage der Klinik (?) gar nicht erwähnen. Ganz "unverbindlich".

Das nimmt dem ersten Schritt zurück zu etwas, von dem man stolz ist, es nicht mehr zu brauchen, etwas die Schwere.

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Meereszauber
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Beitrag Do., 13.11.2008, 07:08

Hallo Gothika,

danke Dir für Deine Antwort!
Mir ist gestern noch im Bett (!) eingefallen, dass Yusuf noch eine DVD von mir hat, die er sich mal ausgeliehen hat.
Bei unserem letzten Zusammentreffen sagte er, dass er mir die wieder zurückgeben möchte. Da habe ich einen guten Grund mal anzurufen und nach der DVD zu fragen und dann einfach mal, wie es in der Therapie so geht (ambulantes Zentrum).
Herzliche Grüße
Meereszauber





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kamikatze
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Beitrag Di., 18.11.2008, 21:18

Liebe Meereszauber,
gratuliere zu deinem neuen Job, den du bald anfangen wirst und zu deinem erfolgreichen einleben deines schützlings!

so wie ich das erkenne, scheint er sich gut zu entwickeln und auch ein stabiles netz an leuten existiert; privat sowie professionell gesehen. da wären einerseits die schwiegerfamilie in spe, die sozpäd, therapie, ...

deine aufgabe in dem ganzen war ja eigentlich eine zusätzliche. ich glaube, das ist die krux mit der ehrenamtlichkeit, dass es am ende einbisschen undankbar ist. weil du hast ja herzblut mitgegeben, andererseits ist dein auftrag ja eigentlich beendet.
wäre ich dich würde ich mich freuen über den erfolg! es gibt sicherlich genügend gegenteilige geschichten, die weniger erfreulich enden. und mich nun an meine neue aufgabe machen.
es ihm überlassen, ob er sich bei mir melden will?

wie geht es dir bei der idee, ihn loszulassen?
vielleicht kommt er eines tages ja von selbst wieder auf dich zu? wäre das nicht das schönste zeichen?

lg, kkk
Ich rotiere höchstens,
wenn ich Opfer des Rotationsprinzips werde...

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Meereszauber
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Beitrag Di., 03.02.2009, 11:32

Hallo Kamikatze,

die Antwort kommt jetzt drei Monate später :
wie geht es dir bei der idee, ihn loszulassen?
Gut. Ich bin ein Mensch, der gut loslassen kann (klar, wenn sich mein Ehemann morgen mit einer anderen Frau von mir verabschieden würde, könnte ich mit Sicherheit nicht sagen: "Okay, gut - passt. Thema beendet.... ) - aber bei diesen Arten von Beziehungen sehe ich das ganz nüchtern.
Ich sehe mich in der Arbeit als ehrenamtliche Weichenstellerin und das passt vom Gefühl auch so.

Verunsichert hat mich (es war ja mein "erster Fall") damals die SMS der Therapieeinrichtung auf meinem Handy.
Ich habe seitdem auch nichts mehr gehört und das werte ich als "alles im grünen Bereich".


Blöderweise kommt auf mich jetzt aber eine ganz andere "Loslass"-Frage. Keine personenbezogene, sondern ehrenamtsbezogene.
Ich habe ja ein noch viel "grösseres" Ehrenamt in einer Art lokalpolitischen Vereinigung und das nimmt mich immer mehr in Anspruch.
D.h. ich weiss im Moment nicht, ob ich die Asylbegleitung noch lange gewährleisten kann *seufz*.
Dabei bin ich eher von meinem Naturell der Typ Mensch, der lieber "im Dreck steht" (im übertragenen Sinn!!!), als am weissen Tisch sitzt mit edlem Mineralwasser vor sich.

Dazu kommen ja noch Kinder und Job (da arbeite ich immer saisonalbedingt - jetzt erst wieder ab Mai -> Tourismusbranche).

Ich weiss im Prinzip ziemlich genau, dass ich die Asylarbeit "kanten" werde um mich in dem anderen Bereich weiter zu etablieren.

Mein Herzblut steckt weniger in den Personen, die da kommen und gehen, als in der Tätigkeit selbst.
Was das "lokalpolitische" Ehrenamt betrifft werde ich über einen langen Zeitraum immer mit denselben Personen zu tun haben - würde das nicht auch "mein" Thema "Adoption/Pflege" mit beinhalten, bei dem ich schon einiges bewirken konnte und noch viele "Baustellen" sehe, würde ich möglicherweise anders entscheiden.
Herzliche Grüße
Meereszauber





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