Schändung oder Missbrauch?

Hier können Sie Fragen zu Begriffen, Diagnosen und sonstigen Fachworten stellen, die einem gelegentlich im Zusammenhang mit Psychologie und Psychotherapie begegnen oder die Bedeutung von Begriffen diskutieren.
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Lotosritter
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Schändung oder Missbrauch?

Beitrag Mi., 05.08.2015, 11:32

Im Internet, wo ja an jeder Ecke ein Sprachwächter und Gscheithaferl herumlungert, werde ich manchmal gerügt, wenn ich das Wort Schändung für den erlittenen Missbrauch verwende. Heute verdeutlichte sich mir in einem Gespräch, wie richtig dieser Begriff ist.

Der Schänder schändet sein Opfer. Er überzieht es mit Schande, zieht es in die Schande, stürzt es in sie. Die Schande ist die Scham über das erlittene und das Schuldgefühl, das bei sexualisierter Gewalt durch die aufgenötigte Erregtheit fast immer entsteht, und das das Opfer zum Schweigen verdammt. Der Geschändete versteht sich selbst in Schande und nicht seinen Schänder. Die Tat des Schänders war somit eine Schändung.

Diese Schändung relativiert sich auch nicht, sofern der Geschändete seine Schuldgefühle im Laufe eines therapeutischen Prozesses aufzulösen vermag. Vielmehr zeigt der Begriff fortan auf die perfide Absicht des Schänders, sich durch implizierte und durch seine Tat provozierte Schuldgefühle und der hierdurch bedingten Schweigsamkeit dauerhaft verbergen zu können. Somit benennt der Begriff „Schändung“ fortan die Schändlichkeit des Schänders, und benennt gleichzeitig die Grausamkeit der Tat, denn es bleibt der Geschändete, der sich der aufgezwungenen Schande mühsam entzog.

Mit einem Freund, der eine vergleichbare Geschichte wie ich mit sich trägt, analysierte ich vor zwei Wochen verschiedene Begriffe, wie vergeben und verzeihen, oder Missbrauch und Schändung. Zum Missbrauch stellten wir fest: „Missbrauch ist, ein Kind in falscher Weise zu brauchen.“

Es ging dabei um Parentisierung. Der Erwachsene, der ein Kind für die Stabilisierung seines Gemüts braucht, es in eine Rolle drängt, die es überfordert und ihm fremd ist. – Ich weiß, dass man in diesem Sinne den Begriff auch auf sexuellen Missbrauch übertragen und hierdurch den mir seltsamen Begriff begründen kann. Meine aktuelle Therapeutin meinte dazu einmal, dass körperliche Zuneigung, das Streicheln, Schmusen und Herzen eines Kindes, ein normaler, ja notwendiger Vorgang für seine Entwicklung ist. Sobald aus dieser Zuneigung durch den Erwachsenen jedoch ein Brauchen, ein Gebrauchen und Benützen wird, wird es zum Missbrauch. Denn das Kind wird in einer solchen Beziehung zum Objekt. Die Monstrosität der sexuellen Gewalt muss hierzu gar nicht aufscheinen. Es genügt, ein sich wehrendes Kind zu busseln, wie es viele Erwachsene auch heute noch tun. – Eine Behandlung durch die Tanten im Waisenhaus, die mir allzu gut wie schlecht in Erinnerung ist. Sie brauchten das, was ich in dieser aufgezwungen Form keineswegs brauchte.
Ich bin hier, weil es letztlich kein Entkommen vor mir selbst gibt ...
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Bergkristall
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Beitrag Mi., 05.08.2015, 12:05

Der Schänder schändet sein Opfer. Er überzieht es mit Schande, zieht es in die Schande, stürzt es in sie. Die Schande ist die Scham über das erlittene und das Schuldgefühl, das bei sexualisierter Gewalt durch die aufgenötigte Erregtheit fast immer entsteht, und das das Opfer zum Schweigen verdammt. Der Geschändete versteht sich selbst in Schande und nicht seinen Schänder. Die Tat des Schänders war somit eine Schändung.

[/quote]


Vor lauter Empörung habe ich den Danke-Button anstatt den Zitieren-Button geklickt.

ICH WURDE NICHT GESCHÄNDET

ES WURDE KEINE SCHANDE ÜBER MICH GEBRACHT

ICH WURDE NICHT IN SCHANDE GESTÜZRT

MIR WURDE KEINE ERREGTHEIT AUFGENÖTIGT, NUR ANGST, EKEL, ABSCHEU, ANGST, ANGST, EKEL, ABSCHEU

Wenn Du Dich als geschändet empfindest, bleibe bei DIR und verallgemeinere das nicht.

Bergkristall


mio
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Beitrag Mi., 05.08.2015, 12:51

Hallo Lotusritter,

ich denke ich verstehe welcher Gedanke Dich bei der Suche nach dem "richtigen" Wort umtreibt (das Thema - so ich richtig vermute - hat mich lange, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, auch umgetrieben). Gleichwohl verstehe ich die Empörung die dieser "Begriffsklärungsversuch" hervorruft.

Mir fehlt im Moment die Zeit meine Gedanken hierzu genauer auszuformulieren, aber ich würde gerne den Verweis auf etwas hier lassen, das für mich mit dieser "Verschiebung" zu tun hat bzw. für sie ursächlich zu sein scheint:

https://de.wikipedia.org/wiki/Identifik ... _Aggressor

Lieben Gruss,

mio


ballpoint
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Beitrag Mi., 05.08.2015, 12:57

Es ist doch, wenn Ihr mir diesen zerebralen Zwischenruf erlaubt, gerade diese widernatürliche Übertragung der Verantwortung die Vergewaltigung als Verbrechen so einzigartig macht? So zum Explodieren vor Wut? Die Schande sollte ja, wie bei allen Untaten, dem Täter gelten. Man fragt sich warum die Psyche sich das gefallen lässt? Wird ihr nicht genug angetan? Muss sie doppelt büßen??

Woanders im Forum schrieb ich gestern von einer Verwandten die als Mädchen in ein Soldatenbordell verschleppt wurde. Als sie sich umbrachte, schrieb sie in ihrem Abschiedszettel von Scham, und von der Schande die sie der Familie ersparen wollte. Auch 70 Jahre später ist es noch unerträglich das zu lesen.
caute

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candle.
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Beitrag Mi., 05.08.2015, 13:58

Hallo!

Muß man jeden Begriff in seine Bestandteile zerlegen und diese Bestandteile dann noch jeweils unterschiedlich interpretieren? Ich denke nein!

Schändung ist für mich ein historisch sehr alter Begriff für Vergewaltigung bzw. sexuelle Übergriffe. In Historienfilmen fällt der Begriff der Schändung sehr oft.

Hm, mehr kann ich gar nicht dazu sagen, weiß aber auch nicht warum sich hier jemand sehr getroffen fühlt?!

Viele Grüße!
candle
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stern
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Beitrag Mi., 05.08.2015, 15:13

Wenn man die Bezeichnung Schändung individuell treffender findet als Missbrauch, so kann man es ja so nennen.

Ich denke, wenn man von sexuellem Missbrauch spricht, so ist oft die Tat an sich gemeint - also in etwa das, was auch ähnlich im StGB steht und definiert ist. Man bringt damit also nicht unbedingt zum Ausdruck, wie man Missbrauch erlebt hat, sondern es ist nur eine mehr oder weniger als treffend/unglücklich empfundene Bezeichnung für eine Tat.

Und mit der Bezeichnung "Schändung" versucht Lotusritter nun ein Erleben und Gefühle zu beschreiben... und zu verallgemeinern (à la Schändung ist... und passt deswegen....). Nur kann man nicht verallgemeinern, wie jemand (sexuellen) Missbrauch erlebt.

Mir würden noch viele Bezeichnungen einfallen, die man auch verwenden könnte.
Liebe Grüße
stern 🌈💫
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(alte Weisheit)


ballpoint
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Beitrag Mi., 05.08.2015, 16:00

Der Begriff Schändung in sexueller Bedeutung stammt ja aus der Zeit als er unlöslich mit dem Begriff Ehre verbunden war. Die Ehre galt ja als das höchste Gut eines Mädchens und diese war unwiederbringbar dahin wenn sie beschmutzt, geraubt oder sonstwie geschändet wurde. Auf alten Gemälden wird die Ehre als Krug, Schüssel oder Topf vorgestellt, der gut gehütet wird oder gebrochen daliegt, oder als einen Korb mit Eiern den das Mädchen nach Hause trägt. Heikle Aufgabe. Dieses Konzept ist uns heutzutage ja eher fremd. Vielleicht liegt da die Schwierigkeit auf die der TE hinweist: dass geschändet wird ist klar, aber wás wird geschändet? Weniger problematisch verstehen wir Schändung in Zusammensetzungen wie Rechtsschändung und Grabschändung. Der moralische Status eines Grabs ist genauso selbstverständlich wie eh und je. Aber was genau der Täter schändet wenn er misbraucht oder vergewaltigt, dafür haben wir kein Wort mehr. Vielleicht weil es viel schlimmer ist als der Aufkleber Ehre je ausdrücken konnte.
caute


mio
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Beitrag Mi., 05.08.2015, 23:10

Hallo nochmal,

ich versuche noch mal ein wenig zu konkretisieren was mir heute Mittag dazu durch den Kopf ging.

Für mich stellst Du, Lotusritter, mit Deiner "Begriffssuche" auch die Frage danach: Warum fühlt sich das Opfer schuldig/verantwortlich für die Tat? Warum entstehen im Opfer Gefühle wie "Schande", "Scham", "Schuld" wo doch das Opfer mitnichten etwas dafür kann, dass ihm Gewalt angetan wurde?

Keine Ahnung wie lange und wie oft ich darüber nachgedacht habe, aber es war oft und es war lang. Auf den ersten Blick ist es nämlich total unverständlich, dass das so ist.

Ich für mich kam zu folgendem Ergebnis: Jedes menschliche Gefühl hat zwei Komponenten: Es sichert den Erhalt des Individuums. Und es sichert den Erhalt des sozialen Miteinanders ohne dass das Individuum nicht lebensfähig ist. Warum also schämen sich Menschen oder fühlen sich schuldig? Sie schämen sich oder fühlen sich schuldig weil sie den "Erhalt des sozialen Miteinanders" stören könnten, Konflikte auslösen.

Im "normalen" Umgang läuft das dann so: Ich habe XYZ was "getan" (seine Grenzen verletzt) und deshalb ist XYZ jetzt sauer auf mich und will mir oder den meinen Gewalt antun. Ich seh also zu, dass XYZ sich wieder beruhigt, indem ich mich schuldig fühle/schäme was dazu führt, dass ich mich bei XYZ entschuldige um ihm meine "Einsicht" in die "Falschheit" meines Tuns mitzuteilen und ihn damit von seinem Vorhaben abzubringen/zu besänftigen/den Frieden wieder herzustellen (Gewissen).

Im "perversen" Umgang läuft allerdings was anderes: XYZ tut mir Gewalt an, ohne dass ich XYZ was getan habe. Da dies in der menschlichen "Vorstellung" aber nicht so recht "sein darf" suche ich also nach Gründen dafür, WARUM XYZ mir das angetan haben könnte. Das ist die eine Komponente meiner Meinung nach. Die zweite Komponente ist die, dass ich, so ich mir eingestehe, dass XYZ vollkommen willkürlich gehandelt hat, in ein tiefes Gefühl der Unsicherheit fallen werde. Denn wie soll ich mich vor der Willkür meiner Mitmenschen zukünftig schützen??? Geht gefühlt nicht! Liegt allerdings mein eigenes Verhalten zugrunde, dann kann ich mich schützen, denn dieses kann ich "beeinflussen" und damit erhalte ich mir meine Selbstwirksamkeit, die potentiell mögliche Einflussnahme auf Gefahren.

Ich hoffe ich bin jetzt nicht völlig an Deinem Thema vorbei, aber so erkläre ich mir, warum die "Schande" beim Opfer landet, obwohl sie doch eigentlich dem "Schändenden" "gehört".

Lieben Gruss,

mio

PS: In der Schweiz gibt es bis heute einen Strafrechtsparagrafen "Schändung". http://www.castagna-zh.ch/Rechtliches/S ... -StGB.aspx

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Lotosritter
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Beitrag Do., 06.08.2015, 02:30

Vorneweg, man wirft mir vor, ich verallgemeinere. Ich verstehe zum einen nicht, was daran vorwerfbar sein soll. Zum anderen habe ich mit keinem Wort verallgemeinert, sondern eine subjektive Situation geschildert, in der ich unlängst mit einem ebenfalls betroffenen Freund über die Begriffe Schändung und Missbrauch gesprochen habe. - Ich verstehe in diesem Zusammenhang auch nicht die Aggression von Bergkristall, die mich anbrüllt (sofern man auch hier durchgängige Großschreibung als anschreien versteht).

Nun etwas grundsätzliches zu den Begriffen. Über Google Ngram Viewer kann man die Häufigkeit von Begriffen zu verschiedenen Zeiten eruieren. Die Begriffe "sexueller Missbrauch" und "Kindesmissbrauch" sind bis 1980 nicht relevant, steigen dann aber sprunghaft an. (Siehe hier). Nehme ich noch das Wort Kinderschändung hinzu, zeigt sich, dass dieses Wort kontinuierlich seit 1900 gebraucht wird, und erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts von den beiden anderen Begriffen überholt wurde. Es ist demnach also keinesfalls ein antiquierter Begriff. (Siehe hier).

Zu mio: Zu Mio: Ich stelle nicht die Frage nach der Schuld, sondern stelle nur den Umstand fest, dass das Opfer sich schuldig fühlt und beschämt ist. Dass es erst in vielen Therapiesitzungen dazu kommt, die Schuldgefühle aufzulösen. Ob es dauerhaft gelingt, oder ein regressiver Prozess bleibt, der immer wieder neu angestoßen werden muss, ist für mich offen. Ich habe diese Wechselphase von Rückschritt und Regress (im Sinne von Besserung) jedenfalls noch nicht überwunden. Die Therapeutin meint, es könne irgendwann gelingen.

Die introjizierten Schuldgefühle grundsätzlich zu diskutieren, bräuchte meines Erachtens einen Extrathread. Ein Punkt neben der Demütigung (Psyche) und dem Tabu (Gesellschaft) ist die Tatsache, dass der Köper das Opfer betrügt (Erregung). Daneben wirken noch mehrere Punkte der Schuldübertragung und Schuldbewahrung, zum Beispiel ein anhaltendes Schweigen, dass einen partiellen Mutismus bedingt.

In jedem Fall halte ich den Begriff Schändung a posteriori (nach der Auflösung von Schuldgefühlen) für passender, da er zugleich den Täter als Schänder treffend benennt.

Ich weiß auch um die Scheu mancher, von Kinderschändern zu sprechen, weil dieser Begriff von Rechten besetzt ist. Ich halte von dieser Zurückhaltung nichts, und lasse mir darum weder die Sprache noch die Worte nehmen.
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mio
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Beitrag Do., 06.08.2015, 02:42

Hallo Lotusritter,
Lotosritter hat geschrieben:Ich stelle nicht die Frage nach der Schuld, sondern stelle nur den Umstand fest, dass das Opfer sich schuldig fühlt und beschämt ist.
das tue ich auch nicht, im Gegenteil: Ich beschäftige mich mit exakt dieser/Deiner Frage. Lies mal in Ruhe was ich geschrieben habe. Genau das war es zumindest worüber ich reden wollte, abseits von... Sollte es nicht gelungen sein, nun: Gerne ein neuer Versuch, meinerseits.

Lieben Gruss,

mio

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Bergkristall
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Beitrag Do., 06.08.2015, 06:21

Lotosritter, bitte entschuldige, ich habe Dich tatsächlich angebrüllt. Ich war unglaublich empört ob der Unterstellung, ich sei geschändet worden, sprich ich lebte jetzt in Schande, sei beschämt oder fühlte mich schuldig. Das ist alles nicht der Fall.

Es ist für mich eine infame Unterstellung, der Täter lebt in Schande, fühlt sich schuldig und beschämt (hoffe ich).

Bergkristall

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stern
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Beitrag Do., 06.08.2015, 07:11

Lotosritter hat geschrieben:Vorneweg, man wirft mir vor, ich verallgemeinere. Ich verstehe zum einen nicht, was daran vorwerfbar sein soll. Zum anderen habe ich mit keinem Wort verallgemeinert, sondern eine subjektive Situation geschildert, in der ich unlängst mit einem ebenfalls betroffenen Freund über die Begriffe Schändung und Missbrauch gesprochen habe.
Vorwerfen (???) nein, feststellen ja. Denn du führst z.B. aus, wie ich richtig der Begriff für sexuellen Missbrauch (im allgemeinen) ist. Oder meinst du man kann es nur auf einen sexuellen Missbrauch anwenden? (dann wäre es natürlich keine Verallgemeinerung). Oder du spricht von "der Schänder", "das Opfer": Meinst du jeweils nur einen oder nicht doch ein Kollektiv?

Wenn man ein Begriff für eine Vielzahl von Einzelsachverhalten beschreibt bzw. von "dem Opfer", etc. spricht, so ist das natürlich auch eine Verallgemeinerung. Wer's braucht... kann gerne verallgemeinern bzw. die Definition auf sich anwenden. Aber wenn man verallgemeinert, ist doch logisch, dass nicht jeder mitgeht.
Die Begriffe "sexueller Missbrauch" und "Kindesmissbrauch" sind bis 1980 nicht relevant, steigen dann aber sprunghaft an.
Dazu hatte pandas mal an anderer Stelle schon etwas ausgeführt (und ich ebenfalls): Bis Anfang/Mitte der 80iger wurde sexueller Missbrauch noch sehr tabuisiert, etc. Daher der sprunghafte Anstieg. Seit 1974 ist (glaube ich) "sexueller Missbrauch" unter dieser Formulierung im Gesetz. Hätte man einen anderen Begriff verwendet, hätte sich eher dieser durchgesetzt.
Ich weiß auch um die Scheu mancher, von Kinderschändern zu sprechen, weil dieser Begriff von Rechten besetzt ist. Ich halte von dieser Zurückhaltung nichts, und lasse mir darum weder die Sprache noch die Worte nehmen.
Macht niemand, lediglich mit der Verallgemeinerung geht nicht jeder mit.

Es mag manche Parallelen im Erleben geben, die bei einigen Opfern festzustellen sind. Dennoch sehe ich es so, dass man das emotionale Erleben nur individuell betrachten kann. Und das beziehst du in deine Begriffsbeschreibung ja mit ein. Das macht die Formulierung "sexueller Missbrauch" hingegen nicht. Das ist nur eine (mehr oder wenige treffende/unglückliche) Bezeichnung für eine Tat, die nichts über die Folgen aussagt bzw. wie das emotional erlebt wurde.
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kaja
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Beitrag Do., 06.08.2015, 12:52

Schändung empfinde ich als unpassend und veraltet.
Missbrauch impliziert für mich eher das der Täter/die Täterin ihre Position gegenüber dem Opfer missbraucht, z.B. in einem bestehenden Abhängigkeitsverhältnis bei Schutzbefohlenen, körperlicher und/oder geistiger Überlegenheit usw.
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Möbius
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Beitrag Do., 06.08.2015, 23:02

Der Begriff der "Schändung" ist einigermaßen altertümlich, durch die Forderung der Rechten nach "Todesstrafe für Kinderschänder!" neuerdings auch mit einem negativen touch versehen, und gefallen tut er mir als "geschändetes Kind" auch nicht, aber er lässt tief blicken, nämlich in den Kern eines Tabus.

Ein Tabu ist komplexer, als eine normale soziale Norm. Es kann nicht durch einen autoritativen Akt eingesetzt oder wieder aufgehoben werden, auch sonstige gesellschaftliche Prozesse wirken allenfalls sehr langsam auf das Tabu ein. Ganz wesentlich ist aber für das Tabu, daß seine negativen Wirkungen auch denjenigen treffen, der das Tabu ohne Schuld berührt oder verletzt. Bei allen sonstigen Normen gibt es die Möglichkeit der von Sanktionen freisprechenden Rechtfertigung oder Entschuldigung, so ähnlich wie im staatlichen Strafrecht. Wer einen anderen Menschen aus Notwehr tötet, hat zwar das Verbot gebrochen, einen Menschen zu töten, aber er hat "Recht gehandelt". Ein 5-jähriges Kind, daß ein anderes Kind beim Spielen von einem Baum schubst und dadurch tötet, gilt rechtlich als schuldlos, weil es "nicht deliktsfähig" ist - verantwortlich im Rechtssinne sind möglicher die Eltern (oder sonstige Erzieher), das Kind jedoch nicht.

Beim Tabu ist das anders: das Inzesttabu trifft auch den schuldlosen Täter, wie den König Ödipus aus dem bekannten Drama von Sophokles, der garnicht wußte, daß es seine Mutter war, die er "beschlafen" hatte. Und das Tabu der Pädosexualität trifft auch das unschuldige Kind, das Opfer eines pädosexuellen Mißbrauchs geworden ist: in beiden Fällen wird auch derjenige, der das Tabu schuldlos verletzt hat, ja Opfer einer verwerflichen Verletzung des Tabus durch einen voll Verantwortlichen geworden ist, von der Wirkung des Tabus erfasst: auch das Opfer wird "tabu", es trägt ein "Schandmal", wird "aussätzig". Freud hat das in "Totem und Tabu" ausführlich herauspräpariert.

Rational und bewußt lehnen wir das natürlich vehement ab, im Gegenteil: die Gesellschaft bemüht sich im Großen wie im Kleinen um den Schutz des Opfers und Hilfe für das Opfer. Aber dennoch: man gruselt sich nicht nur vor den Tätern, sondern auch vor den Opfern, begegnet ihnen mit einer gewissen Reserve (die man sich oftmals selbst nicht so recht erklären kann), meidet sie sogar, fürchtet sie mitunter sogar. Ich selbst bin von beiden Tabus betroffen: dem Inzesttabu und dem Tabu der Pädosexualität: es war die eigene Mutter gewesen, die mich als Kind sexuell mißbraucht hatte. Diese beiden Tabus verstärken sich gegenseitig, und die Wirkung ist nur allzudeutlich zu merken, wenn es andere Menschen erstmals erfahren, "was mit mir los ist". Am deutlichsten war es bei einem alten Geschäftsfreund zu merken, meinem Steuerberater. Wir haben 15 Jahre lang wunderbar harmonisch zusammengearbeitet, haben in vielen Fällen für andere Auftraggeber zusammengearbeitet, uns die Bälle zugespielt. Er kümmert sich selbstverständlich auch nach meinem Zusammenbruch und meiner Verarmung ohne Honorar um meine verbliebenen Steuerfragen, die noch zu regeln sind - aber meidet eine persönliche Begegnung wie der Teufel das Weihwasser.

Und alldies kommt im Ausdruck vom "geschändeten Kind" ganz plastisch zum Ausdruck.


chaosfee
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Beitrag Fr., 07.08.2015, 11:17

Ich sehe den Begriff "Schändung" eher im Zusammenhang mit einer Sache, weniger mit Menschen. Siehe auch: Grabschändung, Kulturschändung, Kirchenschändung. Wikipedia sagt dazu: Schwere Übergriffe auf besonders schutzwürdige Objekte. Ein Mensch ist ja kein Objekt. Ich vermute mal, der Begriff kommt aus einer Zeit, in der eben nicht das Leid des Kindes, sondern das der "Subjekte" um das "Objekt Kind" herum im Vordergrund standen.

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