Resilienz

Hier können Sie Fragen zu Begriffen, Diagnosen und sonstigen Fachworten stellen, die einem gelegentlich im Zusammenhang mit Psychologie und Psychotherapie begegnen oder die Bedeutung von Begriffen diskutieren.

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No Twist
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Resilienz

Beitrag Do., 02.09.2021, 12:18

Ich beschäftige mich gerade etwas mit Resilienz und ich ärgere mich irgendwie... Ich bin psychisch krank, also bin ich wohl eher nicht resilient. Aber das kann man ja angeblich lernen! Das heißt im Umkehrschluss für mich, dass ich quasi zu blöd, zu faul, nicht stark genug bin - meine Erkrankung ist also doch meine Schuld! Und ich sitze da und denke mir: Ein neuer Kampfbegriff; eine neue Mode, die letztlich Menschen mit einer Erkrankung ziemlich in die Verantwortung nimmt. Die müssten die ja nicht haben. Andere haben ja auch ein achso katastrophales Leben gehabt, eine furchtbare Kindheit und denen hat das nichts ausgemacht.

Ich finde das ganz furchtbar, weil meine Mutter mir immer damit kommt - schon früher. Meine Kindheit war nicht optimal, aber wer hat schon eine optimale Kindheit. Ich bin selbst schuld. Und diese blöde Diskussion um Resilienz gibt ihr jetzt noch tolle Beispiele an die Hand. Und ich heule kaum über meine Kindheit, hatte lange Zeit verinnerlicht, dass keiner eine wirklich tolle Kindheit hat - unter jedem Dach ein Ach. Aber ich denke mir bei der Resilienzdiskussion dann doch, dass Birnen mit Äpfeln verglichen werden. Mag ja sein, dass manche Menschen es besser packen, nicht jeder entwickelt bei ein und demselben Erlebnis eine psychische Reaktion (PTBS, Depression etc.) - das weiß man schon lange. Aber Resilienz, also die Diskussion darum, macht dann wieder klar, dass die Probleme im einzelnen liegen und das völlig undifferenziert - weil man einfach keine Kindheit oder keine wirklich erlebte Situation im Erwachsenenleben vergleichen kann. Der Eine hält etwas aus, was ein anderer nicht ausgehalten hat - ja, aber vielleicht konnte a sofort mit einem Freund drüber reden, während b alleine mit der Situation war? Mag ja sein, dass a grundsätzlich besser aufgestellt ist, weil er sich ein funktionierendes Umfeld schaffen konnte als b. Aber ich ärger mich halt trotzdem.

So, dass ist jetzt keine wirkliche Frage nach einer Bedeutung eines Begriffs, aber der Anstoß einer Begriffsdiskussion könnte es sein - falls jemand auch seine Meinung zu der ganzen Resilienzdiskussion kundtun möchte. ;-) Vielleicht sieht es ja jemand ganz konträr zu mir und hat gute Argumente - ich finds ärgerlich, dass so das Individuum wieder so enorm mit Schuld und Verantwortung beladen wird. Ich finde psychische Erkrankungen werden auf die Art wieder stärker zu einer Geschichte für die man sich gefälligst schämen muss. :evil:
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Takli
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Beitrag Do., 02.09.2021, 13:21

Für mich bedeutet mangelnde Resilienz, daß man mit einem fragilen Nervensystem geboren ist und entsprechend empfindlich auf negative Reize reagiert. Genauso, wie durch eine traumatische Erfahrung das Nervensystem schädigt werden kann, kann durch positive Einflüsse die Resilienz gestärkt werden. Den Begriff Schuld finde ich in diesem Zusammenhang destruktiv.


Waldschratin
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Beitrag Do., 02.09.2021, 13:35

Ich verbinde fehlende Resilienz auch nicht mit "Selber schuld! Stell dich nicht so an!", sondern mir hat das viel Hoffnung und Motivation gegeben, dass ich nicht so völlig kaputt bleiben muss, wie ich es damals war. Sogar dann nicht, wenn ich keine entsprechende Unterstützung hätte bekommen können. (Für sowas "Kaputtes" wie mich damals war es ja auch da schon herzlich schwer, überhaupt einen Therapieplatz zu bekommen und dann noch einen passenden. :roll: )

Dass diese "Erklärungen" aus der Fachwelt dazu reichlich kurz gegriffen und sehr einseitig beschrieben waren, hat mich auch schon immer gestört - aber nicht aufgehalten.


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Beitrag Do., 02.09.2021, 13:38

Naja, ich finde schon, dass diese Selbsthilfebücher, die dir sagen, wie resiliente Menschen agieren, wie du deine Resilienz selbst stärken kannst, implizit sagen: Selbst schuld!

Resilienz, wie du das beschreibst Taktli, wird ja nicht so verhandelt. Natürlich, wenn du eine - sagen wir - adäquate Kindheit hattest, wirst du besser mit gewissen Widrigkeiten deines Lebens klar kommen. Das sind ja die positiven Einflüsse letztlich. Aber in der Debatte wird ja immer auf Menschen rumgeritten, die super erfolgreich geworden sind, obwohl sie es nie einfach hatten in der Kindheit. So zumindest verstehe ich das. Und da denke ich mir immer, dass das Ausnahmen sind, die eine Regel nur bestätigen. Solls ja geben. Aber es wird so verkauft, dass genau solche Menschen eben resilient sind und das die Norm wäre. Und die sind eben für mich eine Ausnahme und das ist schön, toll für diese Menschen - sollte aber nicht dazu führen, dass andere Leute, die zum Beispiel ihr Kindheit nicht so prächtig überstanden haben, als von der Norm abweichend dargestellt werden. Als nicht resilient also, was immer als das gelbe vom Ei gilt. Klar, es wäre schön, wenn alle und jeder resilient wären, aber es ist eben nicht so und wird immer so verkauft, als müsste man daran nur selbst arbeiten und dabei entwickelt sich das, wie du schreibst, über positive Erfahrungen und man wird dadurch robuster.
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Beitrag Do., 02.09.2021, 13:40

Waldschratin: Du arbeitest also wirklich an deiner Resilienz? Darf ich fragen, wie du das machst? Also selbstständig? Ich denke nämlich wirklich, dass man da an sich arbeiten kann, wie man will - es bringt nichts. Was aus meiner Sicht robust macht, wirklich stärkt, sind positive Erfahrungen. Aber vielleicht irre ich mich da gewaltig!
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Waldschratin
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Beitrag Do., 02.09.2021, 14:05

No Twist, ich denke, wenn ich dich hier so lese, dass du selber da ganz viel reininterpretierst, weil das so gegen dich benutzt wird. Als Vorwurf und gleich noch als Anklage, dass ja DU schuld bist - und nicht deine Mutter.
Also dass das sehr verknüpft ist bei dir mit der Dauererfahrung, dass deine Mutter dich hernimmt, um sich selber zu entlasten. Und dir somit was aufbürdet, was du schon als "ungerechtfertigt" wahrnehmen kannst. Nur halt nicht konkret zuordnen, weil du dieses systematische Vorgehen deiner Mutter noch mit "guten Argumenten" aus Fachwelt etc. entkräften möchtest.

Das versteh ich auch nur zu gut, ging mir in Sachen Depressionen sehr lange ganz ähnlich. :ja:

Nur hatte es auch da bei mir nichts mit meiner Resilienzfähigkeit zu tun.
Und das vergleich ich mal ein bissl zur Verdeutlichung mit dem IQ-Wert. Da hat auch jeder so ein bestimmtes Maß "mitbekommen", aber das bedeutet nicht, dass er sich nicht weiterentwickeln kann nach seinen Wünschen und ein gutes Leben nach seinen eigenen Vorstellungen gebastelt bekommt.

Und ja, ich arbeite schon ein paar gute Jahre an meiner Resilienz. Sehr viel davon selbstständig, weil ich zu meinen Anfängen mit Therapie lauter Erfahrungen gemacht hab, dass ich "zu viel" sei, "zu schlimm dran", "zu" "zu" "zu" irgendwas war ich immer. Man fühlte sich eigentlich einer nach dem Anderen "überfordert" mit dem, was ich mitbrachte.

Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als da selber was für mich auszuprobieren. Mir "zusammenzusuchen", was mir dienlich ist.

Du hast natürlich recht : Mit am besten helfen gute, korrigierende Erfahrungen.

Wenn ich jetzt bei mir schau : So kaputt wie ich damals war, hab ich die aber gar nicht machen können...
Wohl sehr viele davon, die es tatsächlich da auch gegeben haben muss nach meiner Erinnerung, hab ich als solche gar nicht wahrgenommen. Weil mein traumabesetztes Hirn alles, aber wirklich alles erstmal als Angriff und Lebensbedrohung gewertet hat.
Aus Triggern raus hab ich vieles "uminterpretiert", weil ich aus den Gefühlen und dem Erleben des Damals raus weitererlebt hab und das Jetzt noch gar keine Chance hatte bei mir.

Geht übrigens vielen so, die Bindungstrauma haben, "frühgestört" sind, kPTBS haben o.ä. und wie man das alles nennen mag.

Meine größten Ressourcen waren (und sind...) v.a. mein Trotz und ein gewisser Fatalismus, sehr viel Zorn und sowas wie "Das wollen wir doch erstmal sehen!" als Impulsgeber grade bei Dingen, wo jemand (aus der Fachwelt meist) zu mir sagte, es mache keinen Sinn, ich werde "immer" blabla etc. sein und bleiben...

Und einen reellen Fuß in die Tür hab ich bekommen, als ich anfing, zuerst Panikmanagement mir beizubringen.
Gleichzeitig mit dem Versuch, dass das innere Team (Ich war multipel) sich zu sowas wie "Waffenstillstand" zusammenraufen lernte.

Dann war und ist eine meiner Stärken Imagination, und den Umgang bzgl. Flashbacks, Wiedererleben etc. hat mir mein Traumathera dann beigebracht (Hauptsächlich mittels PITT nach Reddemann). Jedenfalls die Grundstrukturen.

Und ich hätte damals nie! geglaubt, dass es mir jemals so gut gehen können wird, wie es mir inzwischen geht!
Dass es mir tatsächlich möglich sein könnte, aus diesem inneren Höllenerleben mal dermaßen rauszufinden.
Aber das schließ ich zurück auf eben dieses "Gefangensein" in einem traumabefangenen Hirn, was mir ja schon die guten Erfahrungen zu Anfang nicht zugänglich werden ließ.

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Takli
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Beitrag Do., 02.09.2021, 14:13

Hm, ok, da haben wir ein unterschiedliches Verständnis der Entstehung von Resilienz. Ich habe es immer so verstanden, daß es Menschen angeboren ist, wie sie auf negative Einflüsse reagieren. Zum einen die mit fragilem Nervensystem, die durch negative Erfahrungen wenig Resilienz entwickeln und zum anderen robuste Menschen, die negative Erfahrungen schon in der Kindheit positiv verarbeiten können. Wobei da natürlich unterstützende und hemmende Umstände auch noch eine Rolle spielen können. Aber vielleicht habe ich das auch falsch verstanden. 🤔

Verbessern läßt sich Resillienz, denke ich, durch eine streßfreie Lebensgestaltung.


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Beitrag Do., 02.09.2021, 14:19

Liebe Waldschratin, vielen Dank für deine Ausführungen! Ich muss sie etwas auf mich wirken lassen, weil du sehr ausführlich geschrieben hast und wie ich nach dem ersten Lesen denke, auch sehr viel, was ich gelten lassen kann und was mich weiterbringt. Aber etwas möchte ich jetzt schon dazu schreiben:

Ich argumentiere gerne so, dass psychische Erkrankungen nicht unbedingt zeigen, dass man keine sogenannte Resilienz hat - und das lese ich ganz stark bei dir. Resilienz für mich bedeutet nämlich eher, sich der Sache zu stellen und Wege zu suchen, mit der Erkrankung umzugehen oder sie gar loszuwerden. Sich nicht einreden zu lassen, man wäre halt schwerstbeschädigt und das ließe sich nicht ändern... Aber in der gängigen Debatte lese ich das so, dass man, wäre man halt einfach resilient, besser mit den Situationen umgegangen wäre, die einen aus den Latschen kippen ließen. Das kann ich eben wirklich so nicht gelten lassen. Das klingt so nach Schwäche. Und natürlich hast du recht; ich werde immer damit konfrontiert, eingepackt in diese Debatte, dass es an mir liegt, dass ich die Erkrankung habe... aber ich denke tatsächlich, dass man das aus diversen Ratgebern auch so herausholen kann.
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candle.
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Beitrag Do., 02.09.2021, 14:19

No Twist ich kann das so gut nachvollziehen, meine Gedanken sind da identisch. Auch habe ich den Eindruck, dass das helfende Personal auch irgendwie abstumpft und ihre Platte abspielen.

LG candle
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Waldschratin
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Beitrag Do., 02.09.2021, 14:53

No Twist hat geschrieben: Aber in der gängigen Debatte lese ich das so, dass man, wäre man halt einfach resilient, besser mit den Situationen umgegangen wäre, die einen aus den Latschen kippen ließen. Das kann ich eben wirklich so nicht gelten lassen. Das klingt so nach Schwäche. Und natürlich hast du recht; ich werde immer damit konfrontiert, eingepackt in diese Debatte, dass es an mir liegt, dass ich die Erkrankung habe... aber ich denke tatsächlich, dass man das aus diversen Ratgebern auch so herausholen kann.
Ja, da gebe ich dir recht! :ja:

Geht mir aber mit allerhand anderen Psycho-(Mode)-Themen ähnlich.
Als ich anfing, mich mit dem Multipelsein auseinanderzusetzen, hieß das noch MPS. :-> Kam grade von Amerika rübergeschwappt, ich arbeitete ausgerechnet auch noch auf Psych zu dieser Zeit und hab also bei den täglichen Teambesprechungen hautnah mitbekommen, was die lieben Fachfuzzies dazu meinten. Ziemlich eindeutig, dass das nur "auf die Spitze getriebenes Borderline" sei, sich Betroffene also in hysterischer Weise nur wichtigtun wollten etc.

Heute noch gibt es "Gläubige" in diese Richtung... Und frage nicht, wie mich das innerlich fertiggemacht hat...

Borderlinern selber gehts auch schon lange so, dass da ruminterpretiert wird und man "überzeugt" ist von etc., und viele verkannt werden, fehldiagnostiziert, fehlbehandelt etc.
Und so kann man das wohl auf recht vieles v.a. aus dem Psychosektor übertragen.

Für mich war aber der Punkt, was es mir ausmacht(e) und in mir auslöst(e), was irgend so ein Fachmensch da meinte und meint.
Der mag Fachmensch sein, aber "allwissend" ist da auch keiner.

Bringt mich aber was auf die Palme davon, hat es in erster Linie mit mir zu tun und ist ein "Anknüpfpunkt" für mich, den ich nutzen kann.

Klar schimpf ich dann auch auf "die", weil die so doof daherschwatzen etc.
Aber Punkt ist, lass ich mich davon "schlucken" oder nicht?
Und wenn es mich "schluckt" : Warum kann es das dann?

Das hilft mir dann wieder raus aus der Verzweiflung , rausgeschubst worden zu sein aus der Gemeinschaft von diesen Fachfuzzies, mich wertlos-hoffnungslos-unfähig fühlen und was da noch alles abgeht in einem.


Jenny Doe
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Beitrag Fr., 03.09.2021, 03:39

Hallo No Twist
Aber in der gängigen Debatte lese ich das so, dass man, wäre man halt einfach resilient, besser mit den Situationen umgegangen wäre
Es gibt ja nicht nur eine Steigerung nach oben "noch besser mit der Situation umgehen können", sondern auch eine Steigerung nach unten. Du lebst noch, hast Dich nicht umgebracht, was zeigt, dass Du in der Lage warst eigene Wege zu finden, um mit der Situation umzugehen. Das ist Stärke und nicht Schwäche.

Man kann natürlich z.B. sagen "Wenn Du (noch) resilienter wärst, dann müsstest Du nicht verdrängen". Doch solche Aussagen verkennen, dass auch Reaktionen wie "Verdrängung" eine Form der Resilienz sind. Es ist eine Stärke der Psyche Dinge verdrängen zu können,... so dass es nicht zu einer Steigerung nach unten kommt.

Was das Handwerk "Resilienz" angeht, ... Sie ist für mich nichts anderes als "Ich lerne Brötchen backen". Solange ich dieses Handwerk nicht gelernt habe, solange werden auch meine Brötchen nur ungenießbares Gematsche.
Da hat jemand, der in einer Bäckerfamilie aufgewachsen ist mir gegenüber gewiss Vorteile. Er hat das Handwerk bereits in der Kindheit / Familie gelernt. Ich muss es noch lernen.
Mit Schwäche hat das nichts zu tun, dass ich keine Brötchen backen kann. Ich habe dieses Handwerk einfach nur noch nicht gelernt. Wenn ich es irgendwann mal gelernt habe, dann kann auch ich Brötchen backen. Der eine lernt es früher, der andere später.

Und es gibt "Fähigkeiten mit einer Situation umzugehen", die man vielleicht niemals lernen muss, weil man nicht mit der entsprechenden Situation konfrontiert wird. Solange ich kein Auto habe, solange brauche ich auch nicht zu lernen, wie man Reifen wechselt.
Analog: Da ich keine Kinder habe, werde ich auch nie vor der Lebensaufgabe "Wie gehe ich damit um, dass mein Kind vor mir stirbt?" stehen.

In Psychobüchern werden Stärken der Psyche leider gerne als "psychotherapiebedürftige Schwäche" ausgelegt. Leider, denn ich finde es bemerkenswert, welche Fähigkeiten die Psyche hat, sich selbst zu helfen.

Ich persönlich fand - und finde es bis heute - für mich wichtig nicht nur zu lernen, wie man Brötchen backt. Mir persönlich hilft es auch sehr mir immer wieder bewusst zu machen, was meine Psyche alles geschafft hat, obwohl ihr die Fähigkeit "Mit der Situation umgehen" fehlte.

Hinter dem, was in Psychobüchern gerne als "Krank" oder "Schwach" beschrieben wird, kann eine verkannte eigene Stärke stecken.
Diese zu entdecken kann das Gefühl von Stärke verleihen, obwohl man die Fähigkeit "Mit der Situation besser umgehen" nicht gelernt hat.
Lerne aus der Vergangenheit, aber mache sie nicht zu deinem Leben. Wut festhalten ist wie Gift trinken und darauf warten, dass der Andere stirbt. Das Gegenstück zum äußeren Lärm ist der innere Lärm des Denkens.

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Sadako
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Beitrag Fr., 03.09.2021, 05:49

Ich bin da ganz bei Jenny.

Ich finde es schon ein Zeichen von Resilienz, dass ich lebe. Trotz allem, was geschehen ist.
Ich habe mich mit vielen kreativen Wegen so angepasst, dass ich Situationen durchgestanden habe, die eigentlich unaushaltbar sind.
Manche von diesen Anpassungsstrategien machen mir seitdem das Leben mühsam.
Die versuche ich mit Unterstützung zu verändern. Auch das ist ein Zeichen von Resilienz, dass ich mich weiter entwickele und neue Wege finde mit belastenden Situationen umzugehen, die besser in meine Gegenwart passen.

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Fairness
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Beitrag Fr., 03.09.2021, 07:53

Hallo No Twist,

für mich bedeutet Resilienz, die meiste Zeit durchs Leben zu gehen, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Ich halte mich inzwischen für einen resilienten Menschen, doch es war mal auch etwas anders, als jetzt. Ich finde, es ist eine stetige Bewegung in die Richtung der Realität und um sie. Und in diese gehören sowie die Stärken, als auch Schwächen dazu, meine und auch die meines Gegenübers, sofern diese mitgeteilt werden und ich sie sehen kann - und alles, was diese im Leben ermöglichen oder limitieren. Diese brauchen verstanden werden, und bis es soweit ist, vorerst radikale Akzeptanz der intuitiv erlebten Vorteile und Frustrationen... Und dann aus dieser Summe, sinnvolle Entscheidungen zu treffen und dort erwartungsfrei zu sein, loslassen, wo mir die Erfahrung und Vernunft sagen, dass es nichts zu ändern gibt. Und je weiter weg sich eine Denkweise von der äußeren Realität auf irgendeine Art und Weise entfernt, desto größere Diskrepanz, desto mehr Ungleichgewicht, weil die äußere Realität doch spürbar bleibt.

Zu dem Anderen: ich würde jedem wünschen, dass Familie eher weniger der Ort ist, an welchem Resilienz stets auf die Probe gestellt wird. Und ich finde auch, deine Mutter irrt sich, falls sie meint, dass du nur resilienter sein müsstest.

Ich finde, in einer Familie könnten sich die Verwandten gemeinsam an den Lösungen der familiären Belastungen beteiligen. Wenn das schwer ist, dann auch mittels Familientherapie... um einander besser zu verstehen, um einander nah zu sein und entgegen kommen zu können. Und das dann auch weiter fortsetzen. Öfters ist es aber so, dass Menschen von einander bei bestimmten Themen innerlich auf Abstand gehen. Wenn das viele Themen sind, ist auch in Familie der Abstand größer.

Mit Problemen resilient umzugehen, bedeutet, der Mensch stand sonst unter Belastung. Das kommt immer wieder vor, da das Leben an sich bereits einige Herausforderungen mit sich bringt, jedoch ich finde, es sollte nach keiner Jahrzehnten langen Zeit an die Resilienz apelliert werden. Zur Resilienz 'sollte' parallel auch entschlossene Bereitschaft zur Arbeit daran existieren, dass die Situation besser wird, allerseits, damit der gemeinsame Lebensrahmen stimmt. Diese Bereitschaft und Wunsch danach, ist das, was in meinen Augen die Familie von Bekannten, Dienstleistern und 'wildfremden' Menschen unterscheiden 'könnte'...

Lieben Gruß an dich
Sometimes your heart needs more time to accept what your mind already knows.

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Beitrag Fr., 03.09.2021, 09:27

Jenny Doe hat geschrieben: Fr., 03.09.2021, 03:39 Es gibt ja nicht nur eine Steigerung nach oben "noch besser mit der Situation umgehen können", sondern auch eine Steigerung nach unten. Du lebst noch, hast Dich nicht umgebracht, was zeigt, dass Du in der Lage warst eigene Wege zu finden, um mit der Situation umzugehen. Das ist Stärke und nicht Schwäche.
Das habe ich schon recht oft in Therapie gehört und mir stößt es immer auf. Ich weiß nicht, ob es anderen ähnlich geht. Mir tut es nicht gut und macht das Gefühl, dass ich nicht in Therapie gehöre, weil ich doch so stark bin und nie suizidal.

Es kann natürlich sein, dass ich es einfach falsch wahrnehme wie es gemeint ist, aber wenn man tief im Loch steckt und gesagt bekommt wie stark man ist, dann finde ich das etwas "hönisch" oder so oder das der vorige leidvolle Lebensweg abgetan wird, denn ich habe gelitten und tue es immer noch auch wenn es nach außen kaum sichtbar ist.

Wofür sagen Therapeuten das Jenny Doe? Weißt du das?

LG candle
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