Strategie bei Depressionen

Leiden Sie unter Depressionen, wiederkehrenden depressiven Phasen oder anderen Stimmungsschwankungen, ermöglicht dieser Forumsbereich den Austausch Ihrer Fragen, Tips und Erfahrungen.

cinikus
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Beiträge: 266

Beitrag So., 23.12.2018, 22:05

Ich weiß, diese Versagergefühle und die Existenzängste, die Selbstvorwürfe bis zum Selbsthass, weil man einfach nicht das tut, was man sich vornimmt oder gerne tun möchte, gehören zur Depression, aber vielleicht, wenn du weißt, dass du aktuell depressiv bist und das einschätzen kannst, dass es die Krankheit ist: Vielleicht gelingt es dir, das mal abzustellen, beziehungsweise leiser zu drehen.
Du weißt wohl selbst, dass dich diese destruktiven Gedanken nicht weiterbringen. Wie würdest du einen Freund behandeln, der auf dem Boden liegt und zu überfordert ist, um weiterzukommen? Hintreten? Ihn beschimpfen? Ihn mit Vorwürfen überschütten? Ich weiß, es gibt Leute, die glauben, so bringen sie jemanden voran, und es ist manchmal sogar eine Strategie, aber man sollte sehr genau darauf achten, ob sie funktioniert. Kriegt einer den A hoch, gut. Wird er nur noch grüblerischer, lethargischer, depressiver und macht noch weniger, außer, sich selbst noch mehr fertig, ist es die falsche Strategie.

Das schlechte NICHT zu tun kann schon mal ein guter Anfang sein. Das ist schon ein großer Erfolg. Erst, wenn das klappt, kannst du dich dem nächsten Schritt widmen: etwas zu tun. Irgendwas. Und dann, wenn das geht, was "gutes" tun. Aber ein Schritt nach dem anderen. Sieh es wie eine Leiter. Du stehst unten. Du hast vielleicht Vorstellungen, was du tun solltest, müsstest, was möglich wäre, die Ansprüche und Erwartungen an dich, an denen du versagst. Aber all das sind Sprossen weiter oben. Du kannst von da unten nicht nach oben greifen, das überfordert dich, du MUSST versagen, und dann wirfst du dir das vor, wirst frustriert, weil da musst und willst du doch rauf. ABER: Du musst unten beginnen. Ein Schritt nach dem anderen.

Was ist dieses ganz unten? Was ist der erste Schritt? Vielleicht mal, aufzuhören, dich für deine Gefühle und deine Weinerlichkeit zu hassen. Klar nervt das. Ich kenne das leider nur zu gut. Und wie schwer es ist, sich das zuzugestehen, statt sich zu verachten. Aber es geht. Schlimmstenfalls immer über die Eselsbrücke, ich stelle mir vor, ich wäre wer anderer, wer, an dem mir was liegt. Wie würde ich den behandeln, wenn er weint? Würde ich sagen: Ich hasse dich, zu Weichei, reiss dich zusammen? Wohl kaum.

Also heißts erst mal: akzeptieren, dass es so ist. Sich verzeihen, dass es so ist. Dann ist schon mal eine Sprosse erreicht. Als nächstes: Was würde mir jetzt gut tun? Keine Ahnung? Okay, was würde dazu führen, mich in der nächsten Stunde, Minute (welchen Zeitrahmen auch immer), nicht komplett schlecht zu fühlen? In dem Zustand ist wirklich "es nicht schlechter machen" schon ein großer Erfolg, weil es die Abwärtsspirale stoppt. Es eine ganze Zeit lang nicht schlimmer machen als es ist, ist anstrengend genug, und ein großer Schritt. Dann kommt der nächste: wie kann ich es ETWAS besser machen, fast von alleine.

Ich sage mal so: Kein Mensch hat sich im Griff. Nicht WIRKLICH. Die meisten sind nur gut dressiert, haben ihre Routinen, ihre Mechanismen, durchzukommen. Einfacher Beweis: die alljährlichen guten Vorsätze zum neuen Jahr. Selbst sehr gesunde, aktive, nicht-kranke Leute schaffen es nicht. Oder man nehme sich einfach so vor, ab morgen das und das zu tun (eine Gewohnheit beenden oder einführen). Die meisten Menschen scheitern. Wir haben in Wahrheit keine Ahnung, wer wir sind. Wir versuchen, dieses Schiff nur irgendwie zu steuern, mal besser, mal weniger gut. Der Trick, um weiterzukommen: Verhandeln mit sich. Durchaus in einem Selbstgespräch. Frage dich, was du brauchst. Was JETZT gut wäre. Klar kann man sich JETZT nicht alles gönnen, was man vielleicht braucht, dann verhandle weiter, irgendwas kannst du tun.

So geht es weiter.

Trauer ist gut. Es ist auch ganz okay, gelegentlich um die Welt, die Leute und auch sich selbst zu trauern. Kann ein heilsamer Prozess sein. Aber wenn das nicht weggeht, wenn es neurotisch wird, zwanghaft, dann musst du da raus. Dann gilt auch: Hilft es der Welt, wenn du um sie weinst und in Embryonalstellung im Bett liegst? Oder den Menschen, die du magst? Die Chancen stehen gut, dass es den Menschen besser geht, wenn es dir besser geht. Und damit geht es automatisch der Welt besser. Also wieder: sorge dafür, dass es DIR besser geht. Alles andere hast du eh nicht unter Kontrolle. Wie ich sagte, ja kaum dich selbst. Aber WENN du wo anfangen kannst, dann bei dir. Grenze geografisch und zeitlich ein, bis zu einen Rahmen, innerhalb dessen du handeln kannst. Egal wie klein.

Ich weiß nicht, ob deine Depression chronisch oder wiederkehrend ist, aber selbst wenn, man kann damit leben. Man lernt immer mehr Strategien, immer neue Strategien. Ich kämpfe, seit ich lebe damit. Wünschte ich, die schlechten Zeiten gäbe es nicht: klar. Wünschte ich, ich hätte keine Depressionen: sowas von! Aber was nützt es, mich für jede neue Episode fertigzumachen? Ich weiß, das ist immer nur temporär. Es wird bessere Zeiten geben, und für die lohnt es sich.
Auch der Anblick des Schlechten kann eine Schulung für das Gute sein! Niccolò Tommaseo

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