Artikel: Nebenwirkungen der Psychotherapie

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Artikel: Nebenwirkungen der Psychotherapie

Beitrag Mo., 06.12.2010, 13:51

Die Nebenwirkungen der Psychotherapie

Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 06.12.2010

Studien In manchen Fällen schaden Behandlungen mehr, als dass sie nützten. Von Christian Wolf

Eine durch sexuelle Übergriffe traumatisierte Patientin begibt sich in die Obhut eines jungen, etwas übermotivierten Therapeuten. Er konfrontiert sie recht schnell mit ihren traumatischen Erfahrungen. In der Folge entwickelt sie weitere traumabedingte Symptome und körperliche Störungen, die den jungen Therapeuten ebenfalls verunsichern. Als er sich von Kollegen beraten lässt, stellt sich heraus, dass die Patientin sehr viel "behutsamer" und vorzugsweise von einer Frau behandelt werden müsste.

Dieses Fallbeispiel entstammt dem reichhaltigen Erfahrungsschatz von Bernhard Strauß. Der Psychotherapieforscher vom Universitätsklinikum Jena beschäftigt sich seit Jahren mit den nachteiligen Folgen von psychologischen Behandlungen - ein wichtiges Thema, das lange Zeit von der Wissenschaft vernachlässigt wurde. Rund jedem zehnten Patienten geht es nach einer Therapie schlechter. Unangenehme Folgen treten dabei in allen Therapierichtungen und in den verschiedensten Formen auf.

Leider lassen sie sich auch gar nicht vermeiden: Denn nur was überhaupt nicht wirkt, habe keine Nebenwirkungen, so Bernhard Strauß im Fachblatt "Psychotherapeut". In einer Überblickstudie sichtete er zusammen mit Kollegen zahlreiche einschlägige Untersuchungen. Für alle Behandlungen in der Medizin gelte, dass mit der Wirksamkeit ebenso die Gefahr von Risiken und Nebenwirkungen steige.

"Natürlich führen Psychotherapien in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zu erwünschten Wirkungen", betont Strauß. Doch unbeabsichtigte Folgen blieben eben nicht aus. Durch die Behandlung könnten sich beispielsweise ganz neue dauerhafte Symptome bilden. Bei anderen Patienten wiederum entstünden Probleme in ihrem sozialen und beruflichen Umfeld. "Im Extremfall können sich Nebenwirkungen zu regelrechten Schäden steigern", sagt Strauß. Beispielsweise kommt es vor, dass ein Patient von seinem Therapeuten massiv abhängig wird. Diese unbeabsichtigte Entwicklung zählt zu den nachhaltigsten Erlebnissen, die meist in keinem Verhältnis zu der Verbesserung von Symptomen stehen.

Zu einer erfolgreichen Therapie gehören dabei immer zwei. Anhand eigener und fremder Untersuchungen filterte David Mohr in einer Überblicksstudie Eigenschaften von Patienten heraus, die den Behandlungserfolg gefährden. Grundsätzlich setze eine Therapie ein intimes Verhältnis zwischen Therapeut und Patient voraus, erläutert der Mediziner von der Northwestern University in Chicago. Patienten mit Problemen im zwischenmenschlichen Bereich falle aber genau das schwer. Bezeichnenderweise könnten sie eher weniger Gewinn aus einer Behandlung ziehen. Tendenziell berichten genau die Patienten von ihren Schwierigkeiten, anderen Menschen zu vertrauen, die negativ auf eine Therapie ansprechen. Viele von ihnen neigen gar dazu, den Therapeuten zu belügen oder wichtige Informationen vor ihm geheim zu halten.

Auch wenig motivierten Patienten verspricht eine Psychotherapie eher nachteilige Folgen. "Mangelnde Bereitschaft und Mitarbeit aufseiten der Patienten können selbstverständlich der Behandlung abträglich sein", bestätigt Bernhard Strauß. Dies solle in der Therapie möglichst frühzeitig zum Thema gemacht werden. "Allerdings sind die Patienten diejenigen, die aufgrund ihrer Probleme in die Behandlung kommen und deshalb gewissermaßen auch berechtigt sind, sich nicht wie Musterschüler zu verhalten."

Doch auch die Therapeuten sind nicht immer ohne Fehl und Tadel. Sieht man einmal vom Extremfall des sexuellen Missbrauchs ab, haben sie so manche Schäden durch eine fehlerhafte Behandlung zu verantworten. Patienten, die negativ auf die Therapie ansprechen, wurden von ihren Therapeuten häufig falsch eingeschätzt, fand David Mohr heraus. Gerade die weniger erfolgreichen Therapeuten neigen dazu, die Probleme ihrer Schützlinge zu unterschätzen. Sie sehen ihre Patienten teilweise durch die rosarote Brille, erläutert Mohr.

Einen falschen Fokus in der Behandlung zu setzen könne ebenfalls verhängnisvoll sein, so die Ärztin Barbara Lieberei und der Psychiater Michael Linden von der Berliner Charité. In einer Überblicksstudie berichteten sie von Fällen, bei denen sich der Therapeut auf ein äußeres Problem wie die Ehekrise des Patienten stürzt, statt die psychische Grunderkrankung anzugehen. In der Folge kann es dazu führen, dass der Patient eine fatale Lebensentscheidung trifft. Von seinem Therapeuten ermutigt, trennt er sich etwa von seinem Ehepartner, der aber eben nur vermeintlich das unlösbare Problem darstellt.

Neben der fachlichen Kompetenz sind zudem bestimmte Eigenarten des Therapeuten entscheidend: Idealerweise bringt er Interesse für die Probleme seines Schützlings mit und stellt eigene Bedürfnisse hintan. Von Nachteil hingegen sei, wenn der Psychotherapeut Einfühlungsvermögen und "Wärme" vermissen lässt, fand David Mohr heraus. Allerdings gelte das nicht in jedem Fall. Misstrauische Patienten kämen häufig besser mit distanzierten Therapeuten zurecht als mit warmherzigen. Bei ihnen löse es sogar eher Skepsis aus, wenn sich der Therapeut mitfühlend verhält und sich persönlich einbringt.

Ob Therapeut und Patient letztendlich zusammenpassen, ist eben auch ein wichtiger Faktor - vielleicht sogar einer der wichtigsten. Bernhard Strauß empfiehlt daher Patienten, in Probesitzungen darauf zu achten, wie gut sie mit dem Therapeuten zurechtkommen: "Die gemeinsame Chemie sollte auf jeden Fall stimmen."


Link: http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/p ... rapie.html
Es ist krass, was man erreichen kann, wenn man sich traut. (Aya Jaff)

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Solage
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Beitrag Do., 09.06.2016, 21:44

Auszug aus dem stern-Artikel vom 04.03.2015: Wenn Psychotherapie das Leid verschlimmert.

"Millionen Menschen sind auf Psychotherapie angewiesen. Meistens hilft sie. Doch manchmal stürzen die Hilfesuchenden noch tiefer in die Krise, weil der Therapeut seine Kunst nicht beherrscht.

Psychotherapeutische Hilfe ist ein knappes Gut in einem reichen Land, in dem offensichtlich viele angeschlagene Menschen leben: Rund 30 Prozent der Bevölkerung haben mit seelischen Problemen zu kämpfen. Ökonomen wissen, dass Knappheit den Wettbewerb um beste Qualität hemmt. Wer einmal einen der raren Plätze ergattert hat, der wird ihn so schnell nicht wieder hergeben - sofern er überhaupt bemerkt, dass etwas nicht stimmt: "Ein weniger guter oder gar schlechter Therapeut hat potenziell eine genauso lange Warteliste wie ein wirklich guter – zumindest solange er nicht ausgesprochen unsympathisch wirkt", diagnostizierten die Dresdner Psychotherapie-Forscher Frank Jacobi, Andreas Poldrack und Jürgen Hoyer bereits zu Anfang des neuen Jahrtausends

Desinteresse, Inkompetenz, Machtmissbrauch.
Bei kaum einer medizinischen Prozedur ist es so anspruchsvoll wie bei der Psychotherapie, herauszufiltern, wann es sich dabei um einen Behandlungsfehler handelt. Besonders schwer ist es für die Patienten selbst. Die sollen in fünf Probesitzungen, die die Krankenkassen gewähren, ein Gefühl für die Qualität des Angebots bekommen. Später, während der Psychostunden, sollten sie dann jederzeit mit dem Therapeuten besprechen, wenn ihnen etwas missfällt, sagt der Psychiater Michael Linden, der mit seinem Kollegen Bernhard Strauß ein Buch zum Thema "Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie" geschrieben hat. Das sind ziemlich elegante Begriffe für das, was in Therapiesitzungen mitunter stattfindet: Desinteresse, Inkompetenz, Machtmissbrauch.

In der Heidelberger Uniklinik empfängt der Traumaexperte, Arzt und Analytiker Günther Seidler seine Patienten im Dachgeschoss, in den Regalen stehen dicht gedrängt Fachbücher, eines der dicksten hat er selbst geschrieben: "Psychotraumatologie. Das Lehrbuch". Seidler behandelt Menschen, die im Rahmen einer Therapie traumatisiert wurden. Er legt sich gern mit seiner Zunft an, vor einigen Jahren ist er aus vier psychoanalytischen Institutionen und drei weiteren Fachgremien ausgetreten. Seidler störte die Überheblichkeit vieler Kollegen, deren Selbstherrlichkeit und ihr geradezu päpstlicher Unfehlbarkeitsanspruch. Er selbst sieht Therapeuten im Grunde auf einer Stufe mit ihren Patienten: "Wir sind nur die Bergführer, haben Kompass und Wetterkarte, aber den Weg auf den Berg machen wir gemeinsam." Seidler schreibt auch Gutachten für Gerichte. Und findet erschütternd, was ihm da manchmal auf den Tisch kommt. Sein jüngster Fall: Ben Steiner (Name geändert, Anm. der Red.) aus Frankfurt.

Warum zieht der Patient nicht die Reißleine?
Wieso nur quält sich jemand jahrelang mit einer Psychotherapie, die nicht weiterhilft? Wie kann es sein, dass kein Freund, dass niemand aus der Familie eingreift? Die Antwort: weil prinzipiell eher der Patient angezweifelt wird, nicht der Experte. Und auch weil eine Therapiespirale droht: Je schlechter sich ein kranker Mensch fühlt, desto mehr Behandlung begehrt er. Oft braucht er vor allem einen anderen Therapeuten. Und kann sich doch nicht selbst befreien.

Sogar bei etwas eigentlich doch sehr Offensichtlichem wie sexuellen Grenzüberschreitungen tun sich Patienten schwer, sich zu wehren. Beim unabhängigen Ethikverein in München, einer Hilfsorganisation für Psychotherapie-Patienten, geht man von jährlich 600 Fällen sexuellen Missbrauchs im psychotherapeutischen Rahmen aus. Zu strafrechtlichen Verfahren kommt es in weniger als einem Prozent, ärgert sich die Vorsitzende, die Ärztin und Psychotherapeutin Andrea Schleu. Die Patientinnen - meist sind Frauen die Opfer - schämen sich. Sie geben sich selbst die Schuld."

Der vollständige Artikel:

http://www.stern.de/gesundheit/schlecht ... 45376.html

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