Oct 20
Ein gefundenes Fressen für die Medien war die kürzliche Freigabe von Flibanserin (vertrieben als “Addyi”) in den USA, ein neu entwickeltes Medikament, das die Lust von Frauen auf Sex steigern soll. Im Unterschied zu Viagra wirkt Flibanserin allerdings weniger auf körperlicher, sondern vielmehr auf neurologischer Ebene: eigentlich handelt es sich bei dem Medikament um ein Antidepressivum, das den Serotonin-Spiegel (welcher lusthemmend wirkt) absenkt, und die Konzentration der Glückshormone Dopamin und Noradrenalin anhebt (was sich libidosteigernd auswirken kann). Insofern ist auch der ‘modus operandi’ der Einnahme wie bei AD’s: die Pille muß täglich eingenommen werden, egal, ob Sex geplant ist oder nicht. Und frau muß mit Nebenwirkungen rechnen, wie sie auch bei der Einnahme von Antidepressiva auftreten können, etwa Schlafstörungen, Schwindel, Übelkeit, Schläfrigkeit, Angstsymptomen. Gefährlich soll die Einnahme gar in Verbindung mit Alkoholkonsum sein – was gerade bei einem solchen Arzneimittel einigermaßen ironisch anmutet.
Zugelassen wurde das Mittel für Frauen vor der Menopause, welche an einem Mangel an sexuellem Verlangen leiden. Hiefür wurden, wohl aus Marketing-Gründen, sogar zwei neue Krankheitsbegriffe geschaffen: “Hypoactive Sexual Desire Disorder” (HSDD) und “Female Sexual Dysfunction” (FSD) und prompt Studien präsentiert, denen zufolge bis zu 25% der Frauen an dieser “Störung” leiden sollen. All dies, obwohl ja Libidomangel bereits sowohl im Diagnoseverzeichnis ICD-10 als auch dem DSM definiert ist. Laut der zulassenden FDA soll das Medikament nur verschrieben werden, wenn der Lustmangel nicht durch die aktuellen Lebensumstände bedingt ist, also z.B. durch Schwangerschaft, Stillphase, Krankheiten, Medikamenteneinnahme oder Probleme in der Partnerschaft. Man braucht jedoch kein großer Skeptiker zu sein, um zu bezweifeln, dass besonders in der USA die wenigsten Ärzte zögern werden, ihren Patientinnen Antidepressiva dieser speziellen Art zu verschreiben.
Die konkrete Wirkung des Medikaments ist fragwürdig: im Vergleich mit Placebos hatten Frauen, die Flibanserin/Addyi einnahmen, gerade einmal 1/2-1x häufiger Sex.
Insofern wirft die Freigabe des Arzneimittels unweigerlich Fragen auf: muß denn in einer funktionierenden Partnerschaft tatsächlich ein Partner Medikamente einnehmen, nur weil beide unterschiedlich oft Lust verspüren? Und wenn es denn schon sein muß, warum gerade mit einem Medikament behandeln, das offenbar nicht nur kaum wirkt, sondern auch die bescheidene Wirksamkeit mit dem Risiko signifikanter Nebenwirkungen erkauft?
Tatsächlich wies nun eine neue an der MedUni Wien durchgeführte Studie nach, dass Placebos sich als zumindest ebenso wirksam für die sexuelle Libido der Frau erweisen wie beide aktuell verfügbaren “Behandlungsmethoden” mittels Flibanserin oder Oxytocin. Die Studienleiterin, M. Bayerle-Edereine, erklärt sich dies mit der intensiveren und offeneren Kommunikation der Paare als Begleiterscheinung der Studie, und sagt zudem: “Sexuelle Probleme sind häufiger durch laufenden Stress verursacht als durch Mängel im weiblichen Hormonhaushalt.” Auch wenn das eine das andere nicht ausschließt, und auch hormonelle Störungen durchaus streßbedingt sein können, kann ich aus der Arbeit mit Paaren dennoch bestätigen, dass das Grundelement erfolgreicher Sexualtherapie zunächst in der Beseitigung der Hürden zu einer erfüllenden Sexualität besteht. Insofern sind zunächst einmal mögliche Ursachen zu erkunden und zu behandeln, statt gleich zu den erstbesten Medikamenten zu greifen, die versprechen, die Probleme auf “technische” Weise zu beseitigen.
Weiterführende Artikel zum Thema:
Moynihan, Ray: “The making of a disease: female sexual dysfunction“, BMJ 2003; 326:45 doi: http://dx.doi.org/10.1136/bmj.326.7379.45, 2003
Moynihan, Ray: “Merging of marketing and medical science: female sexual dysfunction“, BMJ 2010; 341:c5050 doi: http://dx.doi.org/10.1136/bmj.c5050, 2010
Dana A. Muin et al.: “Effect of long-term intranasal oxytocin on sexual dysfunction in premenopausal and postmenopausal women: a randomized trial”, in: Fertility and Sterility (2015). DOI: 10.1016/j.fertnstert.2015.06.010
Image source: http://www.yypharm.com/
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Tags: Addyi, Dopamin, Flibanserin, Frauen, Noradrenalin, Oxytocin, Pharmaindustrie, Serotonin, Sexualität, Sexualtherapie, Viagra
Oct 29
Benzodiazepine werden häufig dann verschrieben, wenn Menschen unter starken Angststörungen leiden, fallweise verschreiben sie Ärzte auch bei hartnäckigen Schlafstörungen.
Doch wie aus einer eben publizierten kanadischen Studie hervorgeht, könnte die langfristige Einnahme von Benzodiazepinen das Alzheimerrisiko steigern. In einer Untersuchung, die kürzlich im British Medical Journal veröffentlicht wurde, wurden die Daten einer Krankenversicherung aus Quebec von einer Gruppe älterer Menschen (darunter 1796 Alzheimer-Betroffene und 7184 gesunde Personen) rückwirkend hinsichtlich der Quantität und Dosierung ihres Benzodiazepinkonsums ausgewertet.
Das Ergebnis: PatientInnen, die Benzodiazepine über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten eingenommen hatten, zeigten ein um 51% erhöhtes Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Die Zahlen der Erkrankten waren umso höher, je länger die Beruhigungsmittel eingenommen wurden. Mögliche Gründe dafür sind noch unklar.
Die Studienautoren wiesen darauf hin, dass bei aller Bedeutung dieser Arzneimittelgruppe Benzodiazepine niemals länger als drei Monate durchgehend eingenommen werden sollten.
(Quelle: “Benzodiazepine use and risk of Alzheimer’s disease: Case-Control Study“; Image source:treatment4addiction.com)
Apr 01
Woran es sicherlich keinen Mangel gibt, sind Erfolgsberichte etwa über die positive Wirkung von ADHS-Medikamenten, zahlreiche einschlägige Artikel in der Fach- und etwas zeitversetzt dann in der Regel auch in der Laien-Presse. Häufig gehen im Zuge des Informationstransports bis zum Endkonsumenten auch die letzten Reste von Wissenschaftlichkeit verloren und weichen einem “Informationscharakter”: etwa wenn das Verhältnis von Erfolgs- und Mißerfolgs-Raten gar nicht mehr Erwähnung findet, sondern generalisierend von “mit Erfolg angewendet” oder “Erfolg in der Behandlung von ADHS mit Medikament XY” gesprochen wird. Wie in anderen Blog-Artikeln angeführt, investiert die Pharmaindustrie darüber hinaus deutlich höhere Anteile ihrer Einnahmen in das Marketing ihrer Produkte als in die Forschung, wobei allerdings nur der geringste Teil des Marketings aus expliziter Werbung besteht – viel häufiger werden themenorientierte Kongresse mitfinanziert (indirekte Werbung), Studien in Auftrag gegeben (bei denen dann zumeist die Wirksamkeit der eigenen Produkte bestätigt wird) oder andere vertriebsrelevante Kanäle gesponsert.
 ADHD Kid (Image © 123rf.com)
Ein symptomatisches Beispiel für den sich durch diese Effekte schleichend verändernden Zugang der Bevölkerung zur Anwendung von Medikamenten ist der Bereich des Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS). Es muss sich dabei entweder um eine regelrechte Epidemie oder um eine Modediagnose handeln, denn bereits 7% aller Kinder (!) werden heute in den USA wegen ADHS behandelt. Warum jedoch dieses Störungsbild so häufig aufzutreten scheint, und wie dieser enorme Anstieg an Diagnosen tatsächlich zu erklären ist, wird wenig gefragt und ist bis heute in keine Weise geklärt. Bemerkenswert ist insbesondere auch der “shift” von ganzheitlichen Behandlungsmodellen zu rein physiologischen. So bestand noch vor wenigen Jahren ein weitgehender Konsens darüber, dass die Verhaltensstörungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen aus verhaltensorientierter Psychotherapie (in die auch die Eltern einzubinden sind) bestehen, und nur in schweren Fällen Medikamente (damals vorrangig das bekannte Ritalin) verschrieben werden sollten. Heute dagegen scheint weitgehende Einigkeit darüber zu bestehen, dass eine simple Verabreichung der entsprechenden Medikamente die empfehlenswerte Art der Behandlung darstellt – jene Variante also, die für die Pharmakonzerne zweifelsfrei die vorteilhafteste, und für Eltern und Lehrer die bequemste Herangehensweise darstellt. Es existiert nun einmal keine Lobby für die kritische Reflexion jahrelanger Medikation von Minderjährigen mit Psychopharmaka.
Die Publikation kritisch-reflektiver Studien wie die eben von Psychiatern des Johns Hopkins Children’s Center geleitete aktuell größte Langzeitstudie zum Thema, welche im Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry veröffentlicht wurde, sind daher die Ausnahme. In ihr wurden 207 klinisch mit ADHS diagnostizierte Vorschulkinder (75 Prozent davon Jungen) untersucht. Weitere Testungen der Kinder erfolgten 3 Monate später, bevor die Kinder an andere Ärzte überwiesen und teils mit Medikamenten wie etwa Methylphenidat behandelt wurden. Nach 3, 4 und 6 Jahren wurden die Kinder erneut von Ärzten auf die ADHS-Symptome untersucht. Eltern und Lehrer beurteilten zusätzlich die Schwere der Kernsymptome Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität. Analysiert wurden die Veränderungen der Symptome über die Zeit und die Diagnose.
Die Ergebnisse sind zumindest für die Pharmakonzerne, aber auch für die Eltern und die behandelnden Ärzte, welche sich von einer medikamentösen Therapie ja Besserung oder Heilung erwarten, ernüchternd. Zwar ging bei einigen Kindern die Intensität der ADHS-Symptome zurück, bei der Mehrheit der Kinder bewirkten die Medikamente jedoch nichts, das ADHS blieb in diesem Sinne chronisch. Möglicherweise auch deshalb, da die jeweiligen Eltern und Ärzte sich ausschließlich auf die Wirkung der Medikamente verließen, dieser Aspekt wurde in der Studie jedoch nicht untersucht. Fest steht jedoch, dass 89% der an der Studie dauerhaft teilnehmenden Kinder auch nach 6 Jahren noch schwere ADHS-Symptome zeigten.
Bemerkenswerterweise war es praktisch egal, ob sie, wie zwei Drittel der Kinder, Medikamente erhielten oder diese abgesetzt wurden – daraus ließen sich keine Vorhersagen über die Stärke der Symptome ableiten. 62 der Kinder, die mit Anti-ADHS-Medikamenten behandelt wurden, zeigten weiter signifikante Konzentrationsstörungen, bei den Kindern ohne Medikamente waren es mit 58 Prozent kaum weniger. Dass Pharmakonzerne keinerlei Interesse daran haben, kritische Studien wie diese zu finanzieren, liegt auf der Hand.
Interessantes wird dagegen entdeckt, wenn doch einmal neutrale Untersuchungen nichtmedikamentöser Behandlungsansätze stattfinden und finanziert werden. Einer aktuellen Metastudie (auf der Basis von 54 Studien mit fast 3.000 Patienten) der europäischen ADHS-Leitliniengruppe zufolge, welche im American Journal of Psychiatry erschien, ist – eine korrekte ADHS-Diagnose einmal vorausgesetzt – der Griff zum Medikament nicht unbedingt notwendig. Hier wurden in Doppelblindstudien vor allem einer Ernährungsumstellung positive Wirkungen auf die Hauptsymptome Impulsivität, schlechte Aufmerksamkeit und motorische Unruhe bescheinigt.
Wirksam erwies sich vor allem die Vermeidung künstlicher Lebensmittelfarben und noch stärker die Vermeidung von Lebensmitteln, gegen welche die Patienten eine Unverträglichkeit besitzen. Daraus könne man nicht notwendig ableiten, dass andere Therapieansätze keine Besserung erzielen. Es gebe allerdings aufgrund von Finanzierungsproblemen zu wenige valide Studien, weswegen die Datenlage ungenügend sei, sagt Prof. Dr. M. Holtmann von der LWL-Universitätsklinik der RUB in Hamm, Mitautor der Studie.
(Quellen: The Preschool Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder Treatment Study (PATS) 6-Year Follow-Up in: Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry Vol 52, Issue 3, p264-278.e2, March 2013; Nonpharmacological Interventions for ADHD: Systematic Review and Meta-Analyses of Randomized Controlled Trials of Dietary and Psychological Treatments in: American Journal of Psychiatry 2013;170:275-289. 10.1176/appi.ajp.2012.12070991; Telepolis [1, 2])
Jan 05
 Photoquelle: thetastingnote.com
Bei ihrer Einführung wurde Viagra als neue Hoffnung für all jene beworben (und prompt gefeiert), die unter Erektionsstörungen litten. Tatsächlich wurden Belege dafür gefunden, was manche Sexualtherapeuten (unter anderem auch ich) bereits von Beginn an vermuteten: ähnlich den Effekten bei sog. “Testosteron-Kuren” (künstlicher Testosteron-Verabreichung) läßt die Wirkung der Potenzpille bei länger dauernder Einnahme zum Teil massiv nach.
Wissenschaftler dreier Universitäten in den USA und in Saudiarabien untersuchten, ob die Wirkung von Viagra, Cialis und Levitra auch anhält, wenn das Medikament längerfristig eingenommen wird und veröffentlichten die Ergebnisse der Studie im Journal of Urology. Per Telephoninterview wurden 151 Patienten befragt, die im Jahre 1997 Viagra verschrieben bekommen hatten. Die Ursachen für die Erektionsstörungen der Patienten waren operative Prostataentfernungen, Diabetes, oder neurologische Störungen.
Anfangs verbesserte sich bei drei Viertel der Teilnehmer die Erektionfähigkeit soweit, dass sie wieder normalen Geschlechtsverkehr haben konnten. Bei 15% dieser Patienten waren dazu 100mg Sildenafil (die maximale für männliche Erwachsene angeratene Dosis), notwendig, 83% der Patienten kamen mit 50mg aus und 2% benötigten nur 25mg.
Nach drei Jahren wurden die Patienten nochmals befragt, und es stellte sich heraus: die neuen Sexfreuden hatten nicht lange angehalten. Etwa die Hälfte der Patienten hatte die Potenzpille wegen Wirkungslosigkeit bereits ganz abgesetzt. Und 37% jener Männer, die noch auf Viagra bauten, waren mittlerweile auf die Maximaldosis umgestiegen.
Die Ernüchterung über die angeblichen Wunderkräfte der blauen Pille ist in der Fachwelt groß. “Nach meinen Beobachtungen wirkt Viagra nur bei der Hälfte aller Patienten mit körperlich bedingten Erektionsstörungen”, erklärt P. Derahshani, Leiter der Urologischen Abteilung der Kölner Klinik am Ring. Ein gesundheitlich problematischer Aspekt bestehe darin, dass beim Auftreten von Gewöhnungseffekten die Dosis nur bei jenen Patienten gesteigert werden kann, die vorher 25 oder 50mg eingenommen haben, denn eine Dosis über 100mg erhöht das Risiko von Nebenwirkungen wie Kreislaufsschwäche, Übelkeit oder Kopfschmerzen beträchtlich.
Kein Ersatz für Psychotherapie bzw. Sexualtherapie
“Man sollte nicht vergessen, dass bei Erektionsproblemen Viagra nur bei solchen Männern indiziert ist, deren Potenzschwäche körperliche Ursachen hat”, sagte der Wiener Urologe Werner Reiter von der Impotenz-Ambulanz am Wiener Allgemeinen Krankenhaus in einem Interview mit der “Süddeutschen” (SZ). Vor allem bei älteren Männern, die viel rauchen und an Bluthochdruck oder Herzerkrankungen leiden, verliere Viagra nach längerer Einnahme an Wirkung. Bei Männern mit stabilem Gesundheitszustand beobachtet der Spezialist hingegen selten einen Gewöhnungseffekt.
“Wenn die Gründe für die Impotenz im psychischen Bereich liegen, deckt Viagra im besten Fall anfangs die Impotenz-Symptome zu”, warnt Reiter. Langfristig könne diesen Patienten nur mit einer Psychotherapie bzw. Sexualtherapie geholfen werden.
Gesundheitsrisiken mitunter fatal unterschätzt
Fatalerweise wird von vielen Männern das Risiko von Selbstmedikation ignoriert. Doch stattliche 40 Prozent der Männer, die wegen Erektionsproblemen zum Arzt gehen, leiden an einer Arteriosklerose der Herzkranzgefäße (welche jedoch nicht immer die Ursache der Erektilen Dysfunktion darstellen muss). Impotenz “kann jedoch das Anzeichen einer Erkrankung oder einer beginnenden Erkrankung sein. Symptome aber einfach blind wegbringen zu wollen hat sich weder in der Medizin, noch in der Psychotherapie als gewinnbringend erwiesen”, so Sexualtherapeut Karl F. Stifter. Es gehe darum, den Menschen ganzheitlich im Auge zu behalten, und dazu gehört auch, bei Erektionsproblemen zunächst einmal körperliche Ursachen und Symptome abzuklären.
Der in den Pillen enhaltene Wirkstoff (Sildenafil bei Viagra, Vardenafil bei Levitra und Tadalafil bei Cialis) fördert die Entspannung der glatten Muskulatur im Schwellkörper und unterstützt so die Erektionfähigkeit. Die Besonderheit ist, dass die Wirkung erst mit einer sexuellen Erregung einsetzt – Erektionsprobleme werden also insbesondere dann nicht von ihr gelöst, wenn psychische Ursachen die Erektion behindern.
In geringem Maße beeinflussen die Wirkstoffe auch chemische Reaktionen innerhalb unseres Körpers, die unsere visuellen Empfindungen steuern. Daher gehört zu ihren Nebenwirkungen auch eine spezielle Form der Sehstörung, bei der man alles leicht blau getönt sieht. Piloten dürfen daher mindestens 12 Stunden vor einem Flug kein Viagra einnehmen. Auf die mittlerweile nachgewiesene Schädigung des Hörvermögens durch eine Langzeiteinnahme der Potenzmittel habe ich bereits in einem früheren Blog-Artikel hingewiesen.
Noch weitaus problematischer als dieses “blaue Wunder” ist aber wie erwähnt die Gefahr, bei bestehender Herzschwäche einen Infarkt zu erleiden. Denn als Medikamente, die in die Blutzirkulation des Körpers eingreifen, haben Viagra & Co. besondere Risiken für Herz und Kreislauf. Insbesondere Patienten, die Nitroglycerin oder Blutdruck senkende Mittel einnehmen müssen, welche ebenfalls die glatte Muskulatur entspannen, dürfen die Tabletten nicht einnehmen, da sich die Wirkung der Mittel gegenseitig verstärkt. Zusammen mit nitrathaltigen Medikamenten (z.B. für Angina pectoris) kann der Wirkstoff zu einem tödlichen Blutdruckabfall und bei Männern mit Herzkrankheiten zu Kreislaufversagen führen. Eine entsprechende Untersuchung durch einen Arzt ist daher unbedingt angezeigt, bevor man diese einnimmt.
Tatsächlich sind keine anderen Medikamente aufgrund fahrlässiger Anwendung für so viele Todesfälle verantwortlich wie die neuen “Erektionshelfer”. Europaweit wurden allein während der ersten 3 Jahre nach dessen Einführung weltweit 616 Todesfälle nach der Einnahme von Viagra gemeldet. Die leichte Verfügbarkeit der Tabletten über das Internet oder den Schwarzmarkt stellt ein großes Problem dar, da sie zum einen zur Selbstmedikation regelrecht einlädt, und es sich zum anderen bei manchen so bezogenen Tabletten um gesundheitsgefährdende Imitate handelt. Der Markt der Imitate, die größtenteils aus Indien und China stammen, ist nämlich kaum zu kontrollieren, mit den damit verbundenen Risken für die Endanwender, die die so bezogenen Tabletten häufig nicht nur in viel zu jungen Jahren, sondern auch auf eigene Faust als “Lifestyle”-Droge einsetzen.
Zu befürchten ist also einmal mehr, dass bereits derzeit die Zahl der “Viagra-Veteranen” mit multisystemischen Erektionsstörungen (= psychogene Erektile Dysfunktion plus bereits organisch bedingter Wirkungslosigkeit erektionshelfender Mittel) massiv zunimmt. Diese Männer dürften sich speziell dann, wenn die Erektionsfähigkeit aus ganz natürlichen Gründen (altersbedingt oder als Nebeneffekt körperlicher Erkrankungen) abnimmt, in einer unglücklichen Sackgasse wiederfinden.
Nachgewiesenermaßen sind bei der überwiegenden Mehrheit der Männer unter dem 50. Lebensjahr Erektionsprobleme psychisch bedingt – selbst diesen aber ist aus sexualtherapeutischer Sicht unbedingt angeraten, diese zunächst ärztlich abklären zu lassen. Werden dabei keine klaren Indizien für körperliche Ursachen gefunden, sollte man im Interesse seiner Gesundheit (und vielleicht auch, um sich die “Trumpfkarte” der Pillen für schwierigere Zeiten aufzuheben) sexualtherapeutische Beratung suchen, statt reflexartig zu den einfach verfügbaren problematischen “blauen Pillen” zu greifen.
(Quellen: Reuters.com; Rizk El-Galley et.al., “Long-Term Efficiacy of Sildenafil and Tachyphylaxis Effect” in: The Journal of Urology – September 2001 (Vol. 166, Issue 3, Pages 927-931); Image source: creakyeasel.com)
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Tags: Cialis, Diabetes, Erektile Dysfunktion, Erektionsstörungen, Herzerkrankungen, Impotenz, Levitra, Pharmaindustrie, Prostatakrebs, Psychosomatik, Sexualtherapie, Sildenafil, Tadalafil, Testosteron, Uprima, Vardenafil, Viagra
Nov 19
Mitunter ist es schwierig, einen sachlich-kühlen Kopf zu bewahren, liest man diverse medizinische Fachinformationen.
So soll nun ein neues “Stufenschema” Mediziner unterstützen, Patienten mit sogenannten “therapieresistenten” oder chronischen Depressionen effektiver als bisher zu behandeln. Denn bei etwa jedem vierten Depressionspatienten, so eine Aussendung der “Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie” (ÖGPB), hilft eine einfache medikamentöse Behandlung nicht oder nur unzureichend.
Die “Volkskrankheit Depression” ist in allen Industrieländern im Vormarsch. In Österreich sind etwa 400.000 Menschen betroffen, so ÖGPB-Präsidentin Susanne Lentner. Die Krankheit sei nicht nur die häufigste Ursache für Frühpension und Arbeitsunfähigkeit, sondern auch für 70 bis 80 Prozent der Suizide verantwortlich. Bei fast der Hälfte der Betroffenen werde die Krankheit nicht erkannt, entweder weil die Allgemeinmediziner nicht ausreichend geschult sind oder die depressiven Menschen gar nicht erst zum Arzt gehen, sagte Michael Bach, Primar am Landeskrankenhaus Steyr (OÖ).
Zu ergänzen wäre aber, dass nur jeder zehnte Patient eine adäquate Therapie erhält, da viele Mediziner sie falsch oder gar nicht diagnostizieren und sodann ausschließlich die häufigen körperlichen Symptome der Depression (mehr dazu in den am Artikelende verlinkten Texten) behandeln oder weil sie ohne tieferer Kenntnis über adäquate Depressionsbehandlung schlicht Antidepressiva verschreiben und dann die Patienten sich selbst überlassen.
Mit neuen Leitlinien in Form eines sog. “Konsensus-Statements” der Neurologen und Psychiater soll aber nun alles besser werden. Sie soll den Medizinern helfen, insbesondere die besonders komplexen (wenn auch seltenen – Anmerkung RLF) Fälle der therapieresistenten Depression zu behandeln, also “jene Fälle, in denen mindestens zwei unterschiedliche Antidepressiva nicht die erwünschte Wirkung brachten”. Die herausgebenden Ärzte merken an, dass sich eine verbesserte Therapie auch volkswirtschaftlich auszahlen würde: “Der teuerste Weg ist, nicht zu behandeln, der zweitteuerste, eine schlechte Behandlung und die drittteuerste Möglichkeit: eine gute Behandlung.”
Die Leitlinien der ÖGPB schlagen nun vor, “zunächst die Dosis des verschriebenen Medikaments zu erhöhen, und, wenn damit kein Erfolg zu verzeichnen ist, ein zweites Antidepressivum gleichzeitig zu verabreichen”. Als nächsten Schritt sollen die Ärzte “Zusatzbehandlungen mit anderen Medikamenten oder Therapieformen wie Psychotherapie, Schlafentzug und Elektrokrampftherapie versuchen”. Einfach ein anderes Antidepressivum mit unterschiedlicher Wirkungsweise zu probieren sei laut Studien nur in wenigen Fällen erfolgreich.
Zusammengefasst also: Ärzte werden weiterhin dazu angehalten, bei einem doch in erster Linke psychischen Leidenskomplex mal bis auf weiteres ausschließlich Tabletten zu verschreiben, dann noch mehr Tabletten, und dann…
Das ist zweifellos eine sehr positive Nachricht für die Pharmaindustrie, aber sicherlich nicht der im Untertitel behauptete “state of the art” (Stand der Heilkunst) nach alldem, was man heute über die Ursachen und Zusammenhänge der Depressionserkrankung und ihrer Therapiemöglichkeiten weiß. Erst als dritter Schritt nämlich wird Psychotherapie genannt – und zwar in einem Atemzug mit Elektrokrampftherapie?! Da stehen einem schon ein wenig die Haare zu Berge, und die Herren und Frauen Mediziner, die hinter derartigen “Leitlinien” stehen, müssen sich nicht nur fragen lassen, inwieweit ihre Empfehlungen dem aktuellen Forschungsstand entsprechen sondern zum anderen auch, in welchen Interessen sie mit derartigen Empfehlungen eigentlich agieren. Kein besonders gutes Licht wirft in diesem Zusammenhang auch auf die Leitlinien, dass diese mit keinem einzigen Wort beispielsweise die Fragen der Compliance, also der Nebenwirkungen von Antidepressiva und damit verbundenen Akzeptanzproblemen bei PatientInnen erwähnen.
Bereits in einer Meta-Studie aus dem Jahre 1999 (!), welche die Effizienz rein medikamenten-basierter Therapiemaßnahmen mit dem Einsatz von Psychotherapie (in diesem Fall der Verhaltenstherapie, da mit dieser Methode spezifische Untersuchungsgegenstände am leichtesten abgrenzbar sind) vergleicht, kam zum folgenden Ergebnis:
“Cognitive behavior therapy has fared as well as antidepressant medication with severely depressed outpatients in four major comparisons. Until findings emerge from current or future comparative trials, antidepressant medication should not be considered, on the basis of empirical evidence, to be superior to cognitive behavior therapy for the acute treatment of severely depressed outpatients.”
Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich darüber hinaus sagen, dass mir bisher noch kein sogenannter “therapieresistenter” Patient begegnet ist. Nur Glück? Oder könnte es daran liegen, dass Psychotherapie in aller Regel eben sehr effektiv in der Depressionsbehandlung sein kann? Sofern sich Menschen auf eine Psychotherapie einlassen und diese eine gewisse Zeit lang durchziehen, konnten in jedem Fall zumindest immer merkbare Verbesserungen des Zustandsbildes erreicht und Strategien für einen besseren Umgang mit besonders schwierigen Depressionsphasen erarbeitet werden. Die Erfolge lagen vielleicht zum Teil auch daran, dass ich um mein Fachgebiet keine mentalen Schutzmauern errichte: im Fall von schweren oder sogenannten “chronischen” Depressionen nämlich halte ich vorübergehende Medikation bis zu einer Verbesserung des Zustandsbildes zur Stabilisierung und Etablierung einer guten Basis für die therapeutische Arbeit für durchaus sinnvoll. Oberstes Ziel ist, den hilfesuchenden Menschen zu helfen, und da sollte kein professioneller Behandlungsansatz von Beginn an ausgeschlossen werden.
Zum Weiterlesen:
Depression – Mythen und Fakten
Selbsttest auf Depression
(Quellen: 13. Tagung der ÖGPB / Österreichische Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie, 11/2011; Medications Versus Cognitive Behavior Therapy for Severely Depressed Outpatients: Mega-Analysis of Four Randomized Comparisons in: Robert J. DeRubeis, Ph.D.; Lois A. Gelfand, M.A.; Tony Z. Tang, M.A.; Anne D. Simons, Ph.D., Am J Psychiatry 1999;156:1007-1013. Photo:istockphoto.com)
Jul 01
Rund acht Prozent aller Europäer nahmen im vergangenen Jahr Medikamente gegen Depressionen. Besonders stark betroffen ist die Altersgruppe von 45 bis 54 Jahren, wie eine aktuelle Studie des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) aufzeigte, die auf der Befragung von 30.000 Europäern in 27 Ländern beruht.
Der britische Ökonom Andrew Oswald, der am IZA in Bonn forscht und die Studie mitverfasst hat, hält den Befund für alarmierend: “Gemessen an Wohlstand und Sicherheit ging es den Europäern nie besser als heute. Dass trotzdem so viele Menschen mit Chemie nachhelfen müssen, um glücklich zu sein, sollte uns zu denken geben.”
Am häufigsten greifen die Portugiesen zu Antidepressiva (16 Prozent), am seltensten die Griechen (3 Prozent). In Deutschland (5 Prozent) liegt der Verbrauch überraschenderweise unter dem EU-Durchschnitt, obwohl die Deutschen bei der Lebenszufriedenheit im unteren Mittelfeld rangieren.
Was für alle Staaten gleichermaßen zutrifft: Im mittleren Alter leiden die Menschen besonders häufig unter Depressionen. Das deckt sich mit Studien zur Lebenszufriedenheit, die bei Endvierzigern am geringsten ist. Warum es zu diesem Knick kommt, ist wissenschaftlich noch nicht ausreichend belegt.
(Quelle: MedAustria; Image:CartoonStock.com)
May 13
Eine Kombination von zwei Antidepressiva resultiert in keiner Beschleunigung der Genesung.
Dies ist das Ergebnis der CO-MED-Studie, für die Wissenschafter an 15 medizinischen Zentren in den USA insgesamt 665 Patienten zwischen 18 und 75 Jahren untersucht haben.
„Ärzte sollten Patienten mit Major Depression nicht vorschnell Kombinationen aus antidepressiven Medikamenten als Erstlinientherapie verschreiben“, so Dr. Madhukar H. Trivedi, Psychiatrieprofessor am UT Southwestern Medical Center. „Die medizinischen Implikationen sind eindeutig – die zusätzlichen Kosten und die Belastung durch zwei Medikamente sind es bei einem ersten Behandlungsschritt nicht wert.“
Die Wissenschafter bildeten drei Behandlungsgruppen: Escitalopram plus Placebo, Escitalopram plus Buprobion und Venlafaxin plus Mirtazapin. Die Studie lief von März 2008 bis Februar 2009.
Nach zwölf Behandlungswochen waren die Remissions- und Responseraten in den drei Gruppen gleich – bei circa 39 Prozent kam es zur Remission und bei circa 52 Prozent zu einer Response.
Nach sieben Behandlungsmonaten waren die Remissions- und Responseraten in den drei Gruppen immer noch gleich, allerdings zeigten sich in der dritten Gruppe (Venlafaxin plus Mirtazapin) mehr Nebenwirkungen.
(Quellen: Medical Net News, May 2011, MedAustria, neuro-online; Image src:bbc.co.uk)
Jul 13
Ein in bestimmten Pflanzenblüten enthaltener Duft hat gleich starke beruhigende und angstlösende Wirkung wie viele der häufigsten Psychopharmaka, wie Forscher der Universitäten Bochum und Düsseldorf nun herausgefunden haben. Ihre Entdeckung wurde im “Journal of Biological Chemistry” publiziert, ist ein Wissenschaftsnachweis für Grundlagen der Aromatherapie – und könnte bald zu neuen Therapieformen mit weniger Nebenwirkungen führen.
Konkret wurde der Duftstoff Veracetal und dessen chemisches Pendant erforscht, der aus der Gardenie (Gardenia Jasminoides) stammt, einer ostasiatischen Strauchpflanze mit jasmin-ähnlichem Duft. “Einzelne Moleküle dieses Blütendufts wirken gleich wie viele Beruhigungsmittel. Diese Natursubstanzen werden Tabletten nicht ersetzen. Doch ist es realistisch, dass in Zukunft Menschen, die etwa wegen Schlafstörungen unnötig Valium oder andere Benzodiazepine einnehmen, auf solche Stoffe wechseln können”, erklärt Studienleiter Hanns Hatt.
Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine, Barbiturate und Narkosemittel wie Propofol entfalten ihre Wirkung an Haftstellen von Rezeptoren im Gehirn. In geringer Dosierung verstärken sie den Effekt des Botenstoffs GABA, der diese Rezeptoren hemmt, um das drei- bis fünffache. Die Forscher testeten nun bei 100 verschiedenen Duftstoffen, ob diese dieselbe Reaktion auslösen. Bei den zwei genannten Düften war dies der Fall. Bei ihnen war die Wirkung auf die Rezeptoren sogar fünf- bis zehnmal höher wie zuvor.
“Diese Wirkung bestätigte sich in Mäuse-Verhaltenstests sowie auch auf Molekülebene für die Nervenzellen, die für den Schlaf-Wach-Rhythmus zuständig sind”, berichtet der Bochumer Zellphysiologe. Dabei war nicht das Geruchsempfinden über die Nase, sondern die Aufnahme im Gehirn über Atmung und Blutkreislauf entscheidend. Testeten die Forscher transgene Mäuse, die nicht auf Propofol reagieren, war auch die Wirkung der Duftstoffe auf die Rezeptoren blockiert. Das beweist ebenfalls den Wirkmechanismus. Als nächstes will man Tests an Menschen durchführen.
Interessant ist die Forschung auch, da sie eine Grundlage der Aromatherapie wissenschaftlich beweist. Zuvor ist das bisher nur beim Aromastoff Linalool gelungen. “Die Aromatherapie sagt schon lange, dass Jasmin-ähnliche Dufteindrücke schlaffördernd sind. Wir konnten das nun bestätigen”, so Hatt. Um weitere Details der Aromatherapie zu bestätigen, sei die klare Distanzierung von Esoterik nötig, betont der Experte.
(Quellen: Olga A. Sergeeva et.al. in “Fragrant dioxane derivatives identify β1 subunit-containing GABAA receptors“, doi: 10.1074/jbc.M110.103309; Standard 09.07.2010; Image src:toptropicals.com)
Abgelegt unter: Psy-Pressespiegel von r.l.fellner
Tags: Aromatherapie, Barbiturate, Benzodiazepine, Beruhigungsmittel, Jasmin, Jasmine, Pharmaindustrie, Propofol, Psychopharmaka, Schlaf, Schlafmittel, Valium, Veracetal
Jun 03
Kinder und Jugendliche waren gemäß einer Studie der US Pharmaproduktions- und Gesundheitsmanagement-Firmengruppe MedCo Health Solutions die in den USA am stärksten wachsende Medikamenten-Konsumentengruppe – sie nahmen 4x so viel verschreibungspflichtige Arzneimittel wie der Rest der Bevölkerung ein. Jedes 4. Kind unter 10 Jahren erhielt Mittel gegen chronische Beschwerden, und bei den 10-19 Jährigen stieg dieser Anteil sogar auf 30 %.
Zwei Medikamentengruppen verzeichneten während der letzten Jahre den größten Anstieg – Medikamente, die man normalerweise eigentlich nicht mit Heranwachsenden in Verbindung bringt: Antidiabetika und Neuroleptika (Antipsychotika). So stieg seit 2001 die Anzahl der 10-19 jährigen Jugendlichen, die cholesterinsenkende Arzneimittel einnahmen, um unglaubliche 50%. Die Gruppe der Neuroleptika wird aber in den USA keineswegs nur gegen Psychosen wie z.B. Schizophrenie, sondern zunehmend auch bei Angstzuständen und Depressionen eingesetzt. Der Gebrauch dieser Arzneimittel-Gruppe hat sich in den USA seit 2001 deshalb verdoppelt, während der von Antidepressiva seit 2004 um über 20% abnahm – etwa zur gleichen Zeit hatte die Arzneimittelbehörde FDA eine Warnung veröffentlicht, dass einige Antidepressiva Selbstmordgedanken bei Jugendlichen verstärken können. Seither setzen die behandelnden Ärzte eher Neuroleptika ein. Doch ironischerweise vergrößert der Konsum dieser Neuroleptika wiederum die Chance auf das Entstehen einer Typ 2 Diabetes.
Auch die oft kritisierte Vergabe von Medikamenten gegen ADHS ist weiterhin im Anstieg begriffen (2009: 9,1%) und hat sich – wohl aufgrund der Sensibilisierung bezüglich des vielpublizierten “ADHS bei Erwachsenen” – auf die Gruppe der 20-34 Jährigen ausgeweitet. Dort stiegen die Verschreibungszahlen um über 21% an.
Medco analysierte für den Report seine 200 Top-Kunden, die über 40 Millionen Menschen repräsentieren. Die Firma sieht eine blühende Zukunft für Pharma-Hersteller: bis 2012 sollen die Ausgaben für Arzneimittel um weitere 18% steigen.
Kommentar R.L.Fellner:
Der schon in einer US-Studie vom November letzten Jahres festgestellte Trend in der Sozial- und Gesundheitspolitik wird damit ein weiteres Mal bestätigt: er führt offenbar weg von Ansätzen, die Ursachen psychischer, sozialer und körperlicher Probleme und Erkrankungen mit all den uns heute zur Verfügung stehenden wirksamen Methoden (‘ganzheitlich’) zu behandeln und ihnen damit letztlich -hoffentlich- dauerhaft Herr zu werden, sondern der Mensch soll primär mit einer auf ihn abgestimmten Palette von parmakologischen Produkten versorgt werden, deren diverse Nebenwirkungen dann im (für den Betroffenen..) ungünstigsten Fall wiederum weitere Arzneimittel nötig machen. Und wer sich von Kindern und Jugendlichen heute zu sehr herausgefordert oder provoziert fühlt, findet entweder einen Arzt, der nach ein paar Minuten Konsultation ADS / AHDS diagnostiziert und dazu auch gleich das passende Rezept ausstellt, oder eine Behörde, die (tägliche Realität im heutigen England) eine sog. “ASBO” verfasst – mit den damit verbundenen “sozialen” Anpassungsmaßnahmen. Die vielgepriesene “freie Gesellschaft” des Westens scheint zu immer größeren Teilen in ein potemkinsches Dorf – abgelenkt durch glitzernde Konsumprodukte und “mind- & behavior- optimiert” durch immer neue Produkte der Pharmaindustrie – umgesiedelt zu werden.
(Quelle: Kids’ Consumption of Chronic Medications on the Rise (May 19, 2010), tp; Image src:healthpsych.psy.vanderbilt.edu)
Abgelegt unter: Psy-Pressespiegel von r.l.fellner
Tags: ADHS, ADS, Angst, Angststörungen, Antidepressiva, Depression, Diabetes, Jugendliche, Kinder, Neuroleptika, Pharmaindustrie, Psychopharmaka, Psychosen, Suizid
Mar 23
Einmal etwas ganz anderes hier im Blog – ein Buchtipp. Aus gutem Grund..

Jens Johler: “Kritik der mörderischen Vernunft”
Dieses Buch klang nicht nur von der Thematik her interessant, bewogen hat mich in der speziellen Situation, als ich es kaufte, auch sein geringer Preis: nur 9,95 (bei Amazon online) …: “da kann nicht viel verhaut sein, wenn es sein Leben in meinem Warteregal aushaucht” dachte ich mir spontan 😎 Der Buchtitel mag manchen BesucherInnen meiner Website “irgendwie bekannt” vorkommen, und tatsächlich: einer der Hauptakteure im Buch nennt sich “Kant” – allerdings hat er es sich anscheinend zum Ziel gesetzt, die führenden Hirnforscher Deutschlands zu ermorden. Warum er das will, erschließt sich bald einem Wissenschaftsjournalisten, der vom Mörder persönlich kontaktiert wird: Kant sieht den freien Willen des Menschen durch die Hirnforschung bedroht – und will weitertöten, um ihn zu bewahren. Je mehr sich Troller, der Journalist, aber mit den Thesen und Zielen befaßt, die die attackierten Hirnforscher mit ihrer Forschung verbinden, umso mehr sieht er sich in einem Gewissenskonflikt gefangen …
Das Lesen dieses “Wissenschafts-Krimis” ist nicht nur sprachlich packend, sondern vor allem auch inhaltlich. Seine Hintergründe sind sehr gut recherchiert und quasi im Vorbeigehen werden manche der zahlreichen ethischen und philosophischen Fragen, die durch die (realen oder zu befürchtenden) Konsequenzen der Hirnforschung aufgeworfen werden, angesprochen. Auf bemerkenswerte Weise werden auch die Querverbindungen zwischen einer immer stärker an Kontrolle interessierten Politik, den sich dadurch auftuenden Gewinnmöglichkeiten bestimmter Medizin-, Forschungs- und Industriezweige und die damit verbundene Vermarktungsmaschinerie, welche den Blick der Bürger genau auf jene Aspekte der einschlägigen Forschung lenkt, die ihren Interessen entspricht, moralische Grundsätze aber solange aushöhlt, bis von diesen nichts mehr übrig bleibt, aufgezeigt. Dieses Buch ist für jeden, der an Philosophie, Ethik, Medizin, Pharmaindustrie, und den Perspektiven der modernen Hirnforschung interessiert ist, sicherlich ein großes – wenn auch teils beklemmendes und sehr nachdenklich machendes – Lesevergnügen.
01.09.19
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