Essstörungen Behandlung Therapie

Psychogene Essstörungen

Ein Erfahrungsbericht.

Ich möchte nun Sabine W. *) zu Wort kommen lassen, die seit Jahren an Latenter Adipositas leidet und ihre Empfindungen, aber auch ihre Gedanken über den mitunter eigenartigen Umgang vieler Menschen in unserer Gesellschaft mit dem Thema "Schlankheit" und "Essen" so beschreibt:

"..Ich habe eine Essstörung, und zwar "Latente Esssucht" - eine Störung, die nicht einfach zu definieren ist, denn das Verhalten bei "Latenter Esssucht" wird von den meisten Leuten (vor allem Frauen) als normal eingestuft. Jemand, der ständig von Diäten redet und sich zu dick findet, passt durchaus in diese Welt. Der Rest wird einfach nicht zur Sprache gebracht....

Ich wurde mit der Zeit eine Wissensexpertin, was Essstörungen und Diäten betrifft. Ich habe Bücher zu diesem Thema zu Dutzenden verschlungen und im vergangenen Jahr meine Reifeprüfung aus Biologie zum Thema Essstörungen mit einem klaren "Sehr Gut" abgeschlossen. - Was aber leider nicht heißt, dass es mit meiner eigenen Essstörung besser geworden ist. Es hilft nichts, zu wissen, dass man essgestört ist, wenn Essen das ist, mit dem man seine Probleme wegkompensieren will. Es hilft nichts, sich Sorgen um sich selbst zu machen, wenn man immer dann, wenn man Sorgen hat, wieder isst. Das ganze ist ein Teufelskreis, der mich, seit ich 16 war, nicht mehr loslässt.

Ich habe aufgehört, einen Schuldigen zu suchen. Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft ich versucht habe, mich von diesem so lächerlich wirkendem Problem loszureißen. Warum sage ich "lächerlich wirkendes Problem"? Weil niemand andere es als Problem wahrnimmt. Weder meine Eltern noch meine Freunde haben mich jemals ernst genommen. Zuweilen habe ich dann gesagt, dass ich Bulimie habe, weil ich dachte, das würden sie noch eher als ernstzunehmende Essstörung anerkennen, aber ich habe da anscheinend falsch gedacht.... Es tut so weh, zu spüren, dass die anderen nicht verstehen, dass man ein Problem mit der "natürlichsten Sachen der Welt" hat - mit dem Essen. Aber andererseits weiß ich es ja aus den Büchern, die ich gelesen habe, wie es mit der Meinung der Nichtbetroffenen ist; so schreibt zum Beispiel ein Medizinisches Manual: "...meist geht mit der Essstörung eine Regression des Selbstwertgefühles einher, da die Betroffenen von ihrer Umgebung oft nicht ernst genommen werden, oder Interesse und Anteilnahme nicht wahrnehmen können. ..."

Teilweise ist das bestimmt deshalb, weil es "in" ist, zu sagen: "Ich bin zu dick" - denn jedes junge Mädchen sagt das, unabhängig davon, ob sie 49kg oder 64kg hat. Wenn man hypermodern und reich ist, dann geht man 4x pro Woche ins Fitness-Studio - am liebsten mit 3 anderen, ebenso dünnen Freundinnen. Man redet über nichts anderes als Miniröcke und eng geschnittene Ballmode mit Spaghettiträgern und isst nach dem Sport nur ein paar Gurkenscheiben und 3-5 Maiskörner als "Salat" in der Pizzeria. Von Kartoffeln bekommt man Magenschmerzen, Nudeln kann man nicht essen, weil das Weißmehl so ungesund ist, Schokolade und Zucker machen Pickel im Gesicht, Thunfisch macht die Fingernägel brüchig und natürlich ist "man" Vegetarier, denn essen in der Gesellschaft ist unschicklich, wenn man eine Frau von Klasse ist.

Aber die wirklich Essgestörten gehen nicht so gerne weg. Sie fühlen sich im Aerobicsaal von den vielen Dünnen um sie herum beobachtet und die vielen Spiegel an den Wänden sind wie 1000 Nadelstiche. Sich selbst ansehen zu müssen, wie man mit hochrotem Kopf, ungelenkig auf und ab hüpft und "es" schwabbeln sieht, das hält man nicht aus. Man haßt den Spiegel sowieso und die enge Sportkleidung, die gnadenlos jede Fettspalte aufzeigt. Man fühlt sich angestarrt und möchte am liebsten gleich wieder abhauen, bevor man mit dem Training richtig begonnen hat.

Darum wird man wenig Essgestörte in Fitness-Studios treffen. - Die ziehen sich lieber alleine in die eigenen 4 Wände zurück und trauern dort darüber, dass sie nicht fähig sind, ins Gym zu gehen ... Ein unbeschreiblicher Druck liegt auf einem und keiner, der einen versteht ..... also geht man zum Kühlschrank. Man hat so viele missglückte Diäten hinter sich, dass man aufgehört hat, sich damit zu belasten, sich zu zeigen, dass man "es" nicht schafft. Statt Sport zu betreiben, wie einem die lieben Mitmenschen anraten, denen man anvertraut, dass man sich zu dick fühlt, legt man einsam im eigenen Heim eine extra Tafel Schokolade ein. Man ist alleine mit sich, seinem Problem und der Schokolade und man will es auch sein, denn keiner kann helfen außer man selber - das weiß man eh.... Also sucht man andere Freundschaften. Man freundet sich mit Essen an, denn Schokolade ist auch süß, wenn alle anderen sauer auf dich sind, weil du nirgendwo mehr mitmachst. Du bist jetzt lieber alleine mit deiner Schokolade, denn die ist im der Öffentlichkeit verboten --- in den Mengen zumindestens. Außerdem macht man sich ja geradezu selber zum Opfer, wenn man zeigt, dass man "frisst". Weil alle, die man vorher um Hilfe angefleht hat, weil man sich zu dick fühlt, würden dann sagen: "Na wenn das so ist, dann ist es klar, dass DU nicht abnimmst! Da musst DU eben auf die Süßigkeiten verzichten!" Das wäre wie ein Stich mitten ins Herz!

Je mehr man sich zurückzieht, desto einsamer wird man; das Selbstvertrauen wird immer kleiner und man fühlt sich einfach nicht mehr wohl in der Gesellschaft.

Man hat das Gefühl, alle redeten ständig übers Essen - vielleicht nur deshalb, weil man selber ständig daran denkt. Egal was du tust, wo du hingehst, was du mit deinem Leben anstellst, du hast deine Essstörung 24 Stunden täglich, 7 Tage in der Woche 52 Wochen im Jahr.....ohne Wochenende, ohne Feiertage, ohne Weihnachten - ständig, immer, ohne Pause. Es ist der erste Gedanke, nachdem du am Morgen aufwachst, und der letzte, bevor du spät abends einschläfst - jeden Tag. Man kann nicht aufhören mit dieser heimtückischen Sucht, wie man mit dem Rauchen aufhört; es ist, als wenn du einem Kettenraucher sagst, er müßte 3 Zigaretten täglich rauchen und ständig neben seinen Kollegen stehen, die ganze Päckchen verpuffen, während er nur zuschauen darf.

Was ich damit sagen will, ist: man kann nicht mit dem Essen aufhören.

Es ist so grausam, wenn ich eine Niederlage nach der anderen erlebe (ich kann nicht normal essen - weil ich nicht mehr weiß, was normal ist). Ich weiß nicht mehr, ob ich mich erschießen soll oder unter meinem Bett verstecken. Es gibt niemanden, den ich anrufen kann, niemanden, dem ich alles erzählen kann, denn es gibt nichts zu erzählen. Ich kann weder schreien noch weinen, um meinem Zorn und Hass Ausdruck zu verleihen.

Es gab Zeiten in meinem Leben, da dachte ich, es ist ALLES besser als eine Essstörung. Ich habe Drogen ausprobiert. Ich bin für ein kurzes Stück Zeit aus meinem häßlichen Körper geschlüpft, wie aus einem schmutzigen verhassten Arbeitsanzug. Dann bin ich geflogen wie eine zarte Elfe, getragen von Schmetterlingsflügeln ... es war ein unbeschreibliches Gefühl, für einen Augenblick den Selbsthass nicht zu spüren. Aber ich habe mit den Drogen aufgehört, weil ich einmal fast "den Löffel abgegeben hätte" dabei.

[..] Man kann jedoch vor seinen eigenen Problemen nicht davonlaufen. Man nimmt sie mit, wohin man auch geht ..."

Ich möchte Sabine (*Name geändert) auch an dieser Stelle nochmals für die ehrliche und so genaue Schilderung ihrer Gefühle danken.

Bericht über einen Therapieverlauf

Maria (27) *), eine frühere Klientin des Autors, litt seit 4 Jahren an Essstörungen, zunächst Binge Eating, das sich dann zu einer Bulimie entwickelte:

"Essen war in meiner Kindheit kein Thema. Ich habe einfach gegessen wie jeder andere Mensch auch. Mama hat gekocht und wir haben gegessen. Mehr war da nicht. Ich war dünn und konnte essen was ich wollte ohne zuzunehmen - bis ich " (weiterlesen..)

*) Namen geändert.