Paradigmenwechsel

Oder: Die Finanzkrise als Ermutigung, seinen eigenen Weg zu gehen

Was hat die aktuelle Finanzkrise mit Psychotherapie zu tun?

Jeder von uns wird spätestens mit seiner Geburt in bestimmte Denkschemata hineingeboren. Ganz automatisch – durch den Fokus unserer Aufmerksamkeit und im Bedürfnis, uns in unserer Umwelt möglichst rasch zurechtzufinden und unsere Grundstrukturen ihr gegenüber kompatibel zu gestalten – integrieren wir weitgehend unbewußt ihre Denkmuster, Gewohnheiten und Grundüberzeugungen in unser eigenes Denksystem. Dies beginnt mit so einfachen Dingen wie gewissen Redewendungen (wer von uns hat sich nicht bereits mehrmals dabei ertappt, genauso wie der eigene Vater/die eigene Mutter zu fluchen, am Telefon zu grüßen oder ein ähnliches Gemisch an Hochsprache und Dialekt zu verwenden?), betrifft aber auch “Familientraditionen” verschiedenster Art und im Herkunftssystem zu findenden Problemlösungsstrategien bis hin zu Ansichten über die Welt und die Gesellschaft, in der wir leben. Wir alle sind aber nicht nur Kinder unserer Eltern, sondern auch unserer Zeit – so, wie beispielsweise noch vor 50 Jahren im Westen allgemeiner Konsens war, dass “gute” Frauen das traute Heim zu versorgen hätten, ist dieser Konsens heute, daß zu ihrer Selbstverwirklichung berufliche Karriere gehört. War früher beziehungsmäßige Stabilität das Paradigma, nach dem das Eheglück bemessen wurde, wird heute der Vorrang individuellem Glück gegeben – nur, wenn’s für beide allein passt, allein dann passt es für beide.

Es ist schwierig festzumachen, “wer” im Detail derartige belief systems festlegt: sind es “die Medien”, ist es das “kollektive Unbewußte” (C. G. Jung), das uns vorantreibt (“voran”? Stellt eigentlich die Veränderung von Grundüberzeugungen immer auch auch eine Höherentwicklung dar, oder sind auch Rückschritte möglich?), oder sind es ausschließlich gewisse Individuen, VordenkerInnen oder Revolutionäre, die der Gesellschaft jene Impulse verleihen, die sie zur Überwindung der bisherigen Denkmauern verlocken?

(Photo src: libcom.org)

Zurück zum Thema: die sog. “Finanzkrise“. Ein weiteres Paradigma, das für die meisten braven Staatsbürger während der vergangenen Jahrzehnte völlig außer Zweifel stand, war, daß wir unser ganzes Glück im Grunde der Wirtschaft zu verdanken haben, und diese daher am besten sich selbst überlassen bliebe, während der Staat sich möglichst zurückzuziehen habe, um sie (und damit uns selbst) möglichst nicht an ihrem Gedeihen und Erblühen zu hindern.
Das Schöne an der Finanzkrise war ja aus meiner Sicht eigentlich, daß jeder von uns innerhalb nur weniger Wochen mit eigenen Augen und Ohren Zeuge von einem der mächtigsten Paradigmenwechsel werden konnte, die während den letzten Dekaden zu erleben waren: eine einmalige Chance – warum also nicht auch etwas für sich selbst dabei lernen: wenn sich nämlich das, was die überwiegende Mehrheit der Menschheit für wahr und unzweifelhaft hielt, innerhalb nur weniger Wochen nahezu ins Gegenteil verkehren konnte (nun ist bekanntlich der Staat gefordert, die Wirtschaft zu stützen; nicht mehr allein der Bankensektor, sondern auch andere Wirtschaftszweige beginnen nun, Unterstützung und staatliche Regulierung einzufordern), welche Überraschungen warten dann womöglich noch auf uns? Auf welchen mentalen Einbahnstraßen sind wir sonst noch unterwegs – wir als Gesellschaft, aber auch ganz persönlich, in unserem eigenen Umfeld sowie unser ureigenstes Leben betreffend? Welche Denkmauern könnten wir noch einreißen, könnten wir sie nur erkennen, nach all den Jahrzehnten, in denen wir bereits in ihnen lebten, ohne es überhaupt zu bemerken?

Es kann ein spannender Versuch sein, seine eigenen Sichtweisen und Wahrnehmungen, all die Regeln und Verhaltensleitlinien, die wir uns irgendwann – ohne, daß wir es bewußt wahrnahmen -, und damit unsere Wahrnehmung der sogenannten “Wirklichkeit” einmal massiv zu hinterfragen. Wenn ich X tue, warum tue ich es eigentlich so und nicht anders? Wenn ich über X so:Y denke, warum eigentlich .. und warum kam ich nicht zu der Ansicht, die mein(e) Partner(in), mein Nachbar, mein ungeliebter Kollege auf so überzeugte Weise vertritt? Wenn ich mich andererseits aber in Teilbereichen meiner Persönlichkeit unsicher fühle: was hemmt mich da eigentlich, und könnte es nicht sein, daß das, was mich anderen gegenüber bremst, sich in einer anderen Situation als meine Stärke entpuppen könnte?

Wir leben in einer spannenden Zeit. Aber das behauptete man ja immer schon. 😉

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Zum Weiterlesen:
Systemische Psychotherapie
Wirklichkeit
Literatur zum Weiterlesen

Richard L. Fellner, DSP, MSc.

Psychotherapeut, Hypnotherapeut, Sexualtherapeut, Paartherapeut



2 Antworten

Wurzel Reply

Sorry, hätte den Artikel gerne gelesen, leider ist die Menüleiste genau im Bild 🙁 Fehler der Website? – Grüße

Gedanken eines Suizidversuch-Überlebenden .:. Psychotherapie-Blog Reply

[…] nicht vergessen, in denen es scheinbar nicht mehr tiefer nach unten gehen kann. Wie wir aus der Wirtschaft wissen, ist es systemimmanent, daß es nach einem Tiefpunkt nur nach oben gehen kann – und was […]

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11.11.22